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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

wohl das erste Mal gewesen, daß ein Kind im Waisenhause öffentlich frei aus dem Herzen gebetet hat. Nach ihm beteten noch etwa 4 oder 5 Knaben, zuletzt der, welcher am vorigen Abend noch in Krämpfen gelegen hatte. Er dankte dem Herrn für seine wunderbare Rettung, gerieth jedoch abermals in Krämpfe und mußte weggebracht werden. Bald jedoch wurde gemeldet, daß er mit den Knaben, welche auf der Krankenstube bei ihm waren, Loblieder singe. Als später einer der Erwachsenen herzliche Worte an die Kinder richtete und dann auch den Erwachsenen sagte, daß unter ihnen vielleicht der Eine oder Andere noch Buße thun müsse, mußten zwei Erwachsene und mehrere Kinder, von ihrem Sündengefühl überwältigt, hinausgebracht werden, später betete noch eine Reihe Knaben. Ueber die Zeit war man nicht mehr Herr; der Herr hatte ja selbst das Regiment ergriffen, und so konnte die Stunde erst um 10½ Uhr geschlossen werden. Man hörte dann das Haus aus allen Seiten von Dank- und Lobliedern widerhallen. In dieser Nacht wurden dem Herrn viele Kinder geboren. Das war der denkwürdigste Wochenschluß, der je im Waisenhause stattgefunden hat.

Am folgenden Sonntage, 3. Februar, war wieder Gebetsstunde. Die Betheiligung daran war größer, als zuvor. Sieben- bis achtjährige Kinder schrieen um Gnade, um Vergebung der Sünden, um ein reines Herz, um den heiligen Geist, auch für die Angestellten und den Hülfslehrer der Kleinen. Eines der Kinder fällt dabei wie todt nieder und bleibt eine Zeit lang in kalter Erstarrung. Gegen 11 Uhr kamen nach einander drei größere Mädchen zum Vorsteher, mit denen er einzeln beten mußte. Es wurde ihm gemeldet, daß die Mädchen aus einem der Schlafsäle nach ihm verlangten und daß er mit ihnen beten solle. Als er endlich kommen konnte, ach, wie wurde er da überrascht! Fast alle Mädchen von sämmtlichen Sälen waren zusammengekommen, weinten laut, lagen auf den Knieen, in den Betten, neben den Betten und in den Winkeln umher. Man hörte ein lautes Rufen um Gnade und Erbarmen. Je länger der Vorsteher betete, desto lauter wurde das Jammern und Stöhnen der Kinder, und als er schloß, hörte man bald von vielen Seiten her einzelne Mädchen in der brünstigsten Weise für alle andern laut beten. Hätte doch ein jeder Christenmensch diesen Anblick haben können! Nach Mitternacht kamen die Mädchen nach und nach wieder zur Ruhe und lagerten sich dann in großer Anzahl in eine der Treppen und den anstoßenden Gang und sangen: „Sieh, hier bin ich, Ehrenkönig, lege mich vor Deinen Thron“ etc., sowie andere geistliche Lieder. In der Morgenandacht am 4. Februar mußte wieder ein Knabe weggebracht werden, und eine Stunde später drei andere aus der Schule, die sehr über ihre Sünden jammerten.

Wiederholung des Früheren am Abend. Vier Kinder waren während der Stunde wieder hingefallen und mußten weggetragen werden; darunter ein auswärtiger Lehrling, den eine unsichtbare Gewalt in’s Waisenhaus geführt hatte. Er hat später erzählt, daß er auf dem Weg immer habe laufen müssen. Er hat mehrere Tage und Nächte heftig kämpfen müssen, mitunter war er förmlich am Brüllen (sic!); aber er hat jetzt lebendigen Glauben und Frieden. Am folgenden Tage, 5. Februar, wurde ein Kind nach dem andern von göttlicher Traurigkeit ergriffen, brach zusammen und mußte zu Bette gebracht werden. Im Laufe des Tages lagen sie zu Dutzenden da und jammerten in großer Angst, aber theilweise auch unter heftigen Schmerzen laut. Viele dieser Kinder hatten krampfhafte Anfälle, verloren die Sprache und schlugen fortwährend mit den Händen, gaben dabei aber immer das Verlangen kund, daß mit ihnen gebetet werden solle. Die Angstanfälle dauerten bei einzelnen Kindern fast fortwährend, bei andern Kindern kehrten sie in Zwischenräumen von einigen Stunden wieder. Am 6. Februar Abends war die durch die schreienden Kinder hervorgerufene Aufregung wieder sehr groß. Ein beim Abendessen ergriffener Knabe fand nach einer vielleicht nur eine halbe Stunde anhaltenden tiefen Erschütterung wieder Ruhe und wurde in die höchste Freude versetzt, in welcher er über seinen gnadenreichen Heiland laut jubelte. Der Vater desselben hatte vor vier Jahren, auf seinem Sterbelager zum Glauben gekommen, seinem Heiland die Kinder an’s Herz gelegt. Ein siebzehnjähriger Knabe von der Schusterei des Waisenhauses, bis dahin ein Spötter, sinkt, nachdem er geäußert: „er wolle, daß er auch in einen solchen Kampf fiele,“ plötzlich hin, tritt mit den Füßen, schlägt mit den Händen, schreit und stöhnt, wie ihn der Satan gepackt habe und ihm den Mund zuhalte, wenn er beten wolle. Später, da er einen unempfänglich gebliebenen Knaben umarmen wollte, trat dieser jenem, der grauenhaft aussah, nicht näher, sondern sagte: „Er kratzt mich.“ Da streckt ihm jener noch einmal die krampfhaft zusammengezogene Hand entgegen und sagt knirschend: „Th., bete, er kriegt Dich gewiß!“ Der Freund, den es kalt überlaufen mochte, entfernte sich. Am 7. Februar lagen 20 Knaben zu Bette, größtentheils unfähig zu sprechen; sie mußten durch Schreiben ihre Wünsche äußern, waren aber fortwährend bei vollem Bewußtsein, selbst unter den heftigsten Convulsionen. Waren sie ruhig, so riefen sie zum Herrn, auf daß sie von dem argen, bösen Feinde nicht noch länger angefochten würden. Am 13. Februar belief sich die Zahl der also angefochtenen Knaben auf 33; andere Miterweckte blieben ruhig, ebenso die meisten Mädchen.

Eines Abends hörten wir, unbemerkt, von einem zehnjährigen Knaben ungefähr folgendes Gebet: „lieber Herr, Du hast gesehen, daß wieder viele Knaben im Gebet lau geworden sind; auch ich bin lau geworden. Ich bekenne es Dir; ich will aber nicht wieder lau werden. Ich danke Dir auch, daß Du mich in dieses Haus geführt hast. Ich glaubte früher, ich hätte es hier schlecht; wir Alle glaubten das; aber jetzt sehen wir, daß wir es gut haben. Herr, es ist auch hier zu Hause lange nicht an die syrischen Christen gedacht worden. Hilf ihnen, aber auch ihren Verfolgern, den Muhamedanern. Sie haben ja eine falsche Religion. Sie verehren einen Propheten, der ein falscher Prophet ist. Aber sie sind treu in ihrer Religion. Sie gehen ja mit ihrem Koran treuer um als viele Christen mit der Bibel. Herr, hilf auch den armen Leuten in Holland, die jetzt durch die Ueberschwemmung in große Noth gekommen sind. Herr, erbarme Dich, über uns Alle“ etc. Der größte Theil der Kinder (es sind über 295 im Hause) ist jetzt schon erfaßt: alle stehen unter dem Eindrucke der gewaltigen Thaten Gottes. Wir bitten alle Gläubigen, des Waisenhauses fürbittend vor dem Herrn zu gedenken, auf daß er sein Feuer, das er auf Erden anzuzünden sich in dieser Zeit wieder mächtiger aufgemacht hat, heller und weiter brennen lasse zum Preise seines hochheiligen Namens. Elberfeld, den 13. Februar 1861.“




Es scheint unnöthig, an obige von der extremen Partei, die wir hier bekämpfen, selbst ausgegangene Darstellung den Maßstab der Kritik anzulegen; sie richtet sich selbst. Jeder, der dies mit gesunden Sinnen liest, muß Abscheu gegen das Gebahren von Erziehern fühlen, welche die ihnen anvertrauten Waisen geistigem und körperlichem Verderben überliefern. Noch bis heute 7. März sind die Spuren der Krampfanfälle nicht verwischt; noch liegt eine Reihe von Kindern krank darnieder. Die heftige Aufregung, in welche man diese zarten Seelen versetzt hat, reichte schon für sich allein hin, ihren Körpern einen schweren, vielleicht irreparabeln Schaden zuzufügen; nun hat man aber die in solche Ueberspannung getriebenen kleinen bei nächtlicher Weile im kalten Winter in den Gängen und Kellern auf dem bloßen Erdboden herumliegen lassen. Selbst wie die schrecklichen Folgen, stundenlange, sich wiederholende Krämpfe und epileptische Zufälle und zeitweiliger Verlust der Sprache, sich einstellen, haben diese Wärter der Kindheit kein Einsehen: sie finden vielmehr in alle dem eine Offenbarung des heiligen Geistes und freuen sich herzlich darüber!

Der draußen stehende Nüchterne wird unschwer auf die Vermuthung pfäffischer Arglist kommen. Wir können dem, wenn wir den ehrenwerthen Charakter der mit der Leitung des Waisenhauses Betrauten in Erwägung ziehen, nicht beitreten. Aber verhehlen dürfen wir es uns nicht, daß mittelalterliche Bornirtheit und heuchlerische Lüge hier in einem noch unentschiedenen und schwer zu entscheidenden Grenzstreit liegen.

Hören wir, was selbst die kirchliche Partei, d. h. diejenige, die nicht das schön Menschliche ertödten, sondern läutern und klären will und die sich hier entschieden den Frommen entgegenstellt, die frömmer und gottergebener sein wollen, als Gott selbst, über die Vorgänge des Waisenhauses urtheilt.

„Bei den Erweckungen im Waisenhause,“ sagt das von einem Geistlichen redigirte „Evangelische Gemeindeblatt für Rheinland“, „ist leider viel Gemachtes und also Fleischliches und Unberechtigtes untergelaufen, wobei dann zu erwägen, daß es namentlich in Anstalten christlicher Nächstenliebe, wo in beschränkten Räumen so viele Jüngere und Aeltere zusammenleben, nicht schwer sein mag, so etwas absichtlich

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