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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

gespenstisch still war es. Und es war doch noch nicht zehn Uhr in der Hauptstadt der Welt!

Nun passirte ich den Corso, die reichste Pulsader römischen Lebens. Hellbeleuchtet im Mondlicht lag die Straße in ihrer ganzen Länge vom venetianischen Platze bis zu der Piazza del Popolo vor mir. Die reichste und belebteste Straße Roms glich der Straße einer ausgestorbenen Stadt. Alle Läden und Verkaufslocale waren geschlossen, alle Häuser waren dunkel, nur hie und da blickte ein matterleuchtetes Fensterauge aus einem der oberen Stockwerke in diese Einsamkeit hinab. Dann und wann warfen die Laternen ihre Streiflichter auf die rothen Hosen einiger französischen Soldaten, welche Arm in Arm, ein Liedchen aus dem Faubourg St. Marceau summend, nach ihrer Caserne schwankten, oder ein Schatten glitt an der Häuserreihe entlang, eilig, ängstlich, als wenn das unheimliche Gespenst der Einsamkeit hinter ihm herschliche und ihn nach befreundeten Menschen zu Hause triebe. Ich blickte in eine Querstraße. Am Ende derselben stieg eine hohe, imposante Treppe in drei verschiedenen Stufenabtheilungen in die Höhe. Auf einer der Stufenabtheilungen erhob sich ein Obelisk, an den sich eine französische Schildwache lehnte. Oben war die Treppe von einer Kirche gekrönt, an welche sich ein langes Klostergebäude anschloß. Die imposante Treppe war die berühmte spanische Treppe, welche nach dem ihr gegenüber liegenden Palaste der Königin von Spanien ihren Namen führt. Die Straße, welche zu der Treppe führte, war vollkommen dunkel und einsam; sogar die Mönche und die Bettlergestalten, diese nothwendige Staffage jedes Winkels im modernen Rom, waren aus der Straße verschwunden. Nur zwei Thüren waren offen in der ganzen Straße. Durch sie blickte ich in die noch erleuchteten Zimmer zweier Kaffeehäuser, welche zu den ersten Roms gehörten.

Das Innere der Cafés war ärmlich und schmutzig; mehrere schmale, enge Zimmer lagen hinter einander, die Wände waren ohne Schmuck, ohne Vergoldung, ohne Spiegel, ja ohne Tapeten, der Tabaksrauch hatte ihnen ein graudunkles Colorit gegeben. Schmale Divans, mit schwarzem Leder überzogen, zogen sich an den Wänden entlang. Auf den Divans saßen zwei, drei Menschen, welche sich flüsternd mit einander unterhielten, kein lautes Wort sprachen und dann und wann einen Blick scheu seitwärts warfen, als wenn sie sich von Spionen belauscht wähnten. Ich trat in eins der Cafés und bestellte mir Eis. Es gab in Rom kein Eis. Ich griff nach einer Zeitung; es war die officielle Zeitung des Papstes, das „Giornale di Roma“. Ich ließ den miserabeln Thee, das „Giornale di Roma“ und die „Augsburger Allgemeine“, die ich dort fand, im Stich, ich floh aus diesem miserabeln Kaffeehaus und eilte durch die todesstillen Straßen der Residenz Pius des Neunten nach Hause, so schnell, als wenn die Gespenster der Langeweile und der Einsamkeit hinter mir schlichen und mich vorwärts trieben. Niemand begegnete mir auf dem langen Wege; ich hörte nur das Echo meiner eigenen Tritte auf den schmalen Trottoirs. Der Mond hatte sich hinter einem großen, dunkeln Wolkenberg verborgen. Ich hatte Rom bei Abend gesehen, das schweigende, todesstille Rom, das Rom der Langeweile und Einsamkeit. Zwei Abende vorher fuhr ich zu derselben Zeit durch die Straßen von Neapel. Sie waren mit Lichterglanz, mit Musik, mit Evvivarufen und fröhlichen Menschenmassen erfüllt; es war das freie Neapel, welches den Sieg Garibaldi’s vor Capua feierte.

„Gennazzano,“ hatte er mir gesagt, der deutsche Maler, als wir auf dem Verdeck des französischen Dampfboots von einander Abschied nahmen, und die päpstlichen Marinesoldaten ihn in dem langweiligen Hafen von Civitavecchia an das Land ruderten, „in Gennazzano werden Sie mich treffen, wenn Sie nach Rom kommen.“

„Gennazzano,“ sagte ich am andern Morgen, als ich im Hotel de la Minerve die Treppen hinabstieg, und auf jedem Treppenflur ein Priester in schwarzer Kutte saß, den häßlichen, großen Hut mit den umgebogenen Krempen auf dem Kopfe, und mir mit einem Buche entgegenkam, in dem in drei verschiedenen Sprachen eine Aufforderung zu Beiträgen für ein Hospital geschrieben war, unter welche ich trotz allen Sträubens meinen Namen neben den Namen von Erzbischöfen, Bischöfen und Principes mit fünf Franken unterzeichnen mußte.

„Gennazzano,“ wiederholte ich nochmals in der verdrießlichsten Laune, als ich unten vor der Hausthür stand, und mein erster Blick in der ewigen Roma auf einen Bettelmönch fiel, der, mit kahltonsurirtem Haupte, den Strick um den Leib gegürtet, mir eine klappernde Blechbüchse entgegenhielt, „ich habe Rom bei Nacht gesehen, es war odiös, der Morgen fängt schön an, ich werde sofort nach Gennazzano in’s Gebirge fahren und Rom bei Tage später sehen.“

Nach einer Stunde fuhr ich mit einem Vetturin an den kolossalen Trümmerresten des Colosseums vorüber nach der Porta maggiore, um auf der alten Via Labicana nach Palestrina und nach Gennazzano zu reisen. Rechts erheben sich vor mir die Trümmer des alten Roms, die Thermen des Caracalla und des Titus, die epheuumrankten, grandiosen Bogen der Kaiserpaläste auf der breiten Scheitelfläche des palatinischen Hügels, Triumphbogen, gebrochene Säulenstümpfe, Reste von Einfassungsmauern von Bädern und Wasserleitungen, an denen wilder Wein heraufkletterte, zwischen weiten Raumflächen von Oliven-, Wein- und Gemüseanpflanzungen – jeder Fuß classischer Boden. Durch die Porta maggiore ging’s in die Campagna hinein, in diese eigenthümliche Wüste, welche in der Breite von vierzig Miglien ringsum die Stadt umschließt und in ihrer Sonderbarkeit und Oede gewiß nur einmal auf der Erde existirt. Ruinenhaufen und Grabmäler neben der Straße, auf der der Wagen in raschem Trabe dahinrollte. Zu beiden Seiten trat die Campagna in immer eigenthümlicherer Gestalt auf. Ein unabsehbar, wellenförmig bewegtes Land, grün, aber mattgrün, von einer mit gelben und grauen Tinten gemischten Farbe, wie ich sie nie auf der Erde gesehen, sich ganz sonderbar abhebend gegen die dunkelblauen Tinten des Himmels, welcher am Horizont auf der Ebene zu ruhen schien, ganz unbewohnt, nirgends von Häusergruppen belebt, ohne alle Bewohner. Ueberall ragten Mauertrümmer, Architekturreste von Tempeln, Bogen und Säulenstumpfe, Trümmer mittelalterlicher Castelle über die wellenförmig sich erhebenden Erhöhungen des Bodens empor, lange Pfahlreihen bezeichneten die wechselnden Grenzen gemietheter Prati; aus epheuumrankten formlosen Massen wirbelten Rauchwolken in die Höhe – es waren die improvisirten Wohnungen der Hirtenfamilien, welche die großen Rinderheerden in der Campagna weiden; dann stand hie und da ein Winzerhäuschen, malerisch von einigen Ulmen umringt, die Mauern mit gelbgrünem Weinlaub bekleidet, aus dessen niedriger Thür eine Frau in zerlumpter Kleidung hervortrat, neugierig meinem dahinrollenden Wagen nachschauend; neben dem kleinen Häuschen erhoben sich mittelalterliche Mauern mit Zinnen, über den Resten des Thores noch die Reste eines Wappens tragend. Nun zogen halbwilde Riderheerden vorüber, große, stattliche Thiere mit breiten Stirnen und langen Hörnern. Die Hirten, welche sie begleiteten, waren zu Pferde, in Schaffelle gehüllt, die Beine bis zum Knie in lederne Gamaschen gekleidet; jeder trug einen langen Stab in der Hand, an dem vorn eine lange Spitze befindlich war. Große, wilde Hunde umsprangen die Pferde. In hochgeschwungenen Bogen zogen sich in langen Linien die Trümmer der verfallenen Wasserleitungen in das Land hinein, plötzlich abbrechend, dann von Neuem beginnend, oft sich durchkreuzend. Oede, Vereinsamung, Belebung und Monotonie, classisches Alterthum, Mittelalter und moderne Ruinen wechselten in harmonischer Weise; sonnendurchglühte Brachflächen grenzten an mit den üppigsten Kräutern bedeckte Viehweiden. Dann kamen wir durch ein verfallenes Dorf. Es ist die Stelle, wo einst das alte Labicum stand. Hier beginnt der Schauplatz des Virgil in den letzten Gesängen der Aeneïde neben den Quellen der Acqua Felice.

So fuhren wir während acht Stunden durch die Campagna. Die Erinnerungen von zweitausend Jahren umschwebten vor meinem geistigen Auge die Grabmonumente, die Zinnen mittelalterlicher Thürme und die verfallenen Bogen der altrömischen Aquaducte in bunten, immer wechselnden Gestalten. Die Stellen dieser sonnendurchglühten Brachfelder und dieser steinigen Ebenen nahmen einst Strecken des fruchtbarsten Landes ein; immergrüne Parkanlagen, Wildgehege, Teiche mit den seltensten Fischen, Triften mit den auserlesensten Viehheerden, mit Marmorstatuen und mit den kostbarsten Mosaiken geschmückte Villen, Marmorbäder und goldgeschmückte Tempel. Wo einst das Feuer der Vesta brannte, da steht jetzt in einer von Rauch geschwärzten Nische ein armseliges Muttergottesbild, und halbverwischte Arabesken und Fragmente der herrlichsten Musivbilder leuchten dem Wanderer aus mit Ginster umrankten Trümmerhaufen entgegen. Die Contraste des Heidenthums und christlicher Weltanschauung, die Gegensätze des üppigen Lebens und der einsamsten Verödung, die Denkmäler aller Stadien einer zweitausendjährigen Vergangenheit liegen dicht neben einander, oft von denselben Mauertrümmern umschlossen.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 219. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_219.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)