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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Unwohlseins (Hämorrhoidalleiden nennen es die Aerzte, weil mir Keiner zu helfen weiß) nicht im Geringsten, und ich habe durchaus weder Furcht noch Neigung in den nächsten Monaten zu sterben; aber vergessen habe ich die Geschichte bis heute nicht und erwarte den Tag, der mein sechsunddreißigstes Jahr vollenden soll, mit einer gewissen Sehnsucht, um endlich den unbequemen Gedanken los werden zu können. – Und so geht es mir, der wirklich mit festem Willen ganz gewaltige Curen mit sich vorgenommen hat, um sich das einzig wirksame Heilmittel für solche Fälle zu verschaffen: nämlich durch handgreifliche Gegenbeweise sich selber ein vernünftig ruhiges Raisonnement der anerzogenen Schwäche gegenüber abzutrotzen und durch energische Muthproben das Nervensystem zu stärken.

Haben wir im Vorhergehenden von den unangenehmen und schlimmen Folgen des Aberglaubens gesprochen, so wollen wir jetzt ein Beispiel anführen, welches im Gegensatz zu den vorigen darthun soll, wie ein unbefangenes Gemüth durch rasch entwickelnde gesunde Logik selbst Schwache und Unmächtige kräftigen und zur Beherrschung schwieriger Situationen geeignet machen kann. –

Der preußische Justizrath B., ein allgemein geachteter und als praktisch bekannter Mann, war mit Kindern reich gesegnet. Obgleich nun zwar die meisten derselben Mädchen gewesen, so ließ er doch trotz seiner ihn bisweilen überschüttenden Geschäfte sich niemals die Mühewaltung gereuen, die Erziehung seiner Kinder unmittelbar zu überwachen, ja in gewissem Sinne selber zu leiten. „Ich kann meine Mädchen nicht fürstlich aussteuern,“ sagte er oft, „aber dafür will ich sie praktisch erziehen, damit sie nothwendigen Falles auf eigenen Füßen zu stehen im Stande sein können.“ Daß bei solchem Vorhaben eines gebildeten Mannes es an der Handhabung richtiger Mittel nicht fehlte, ist wohl begreiflich, und im Allgemeinen liegen diese ja auch nahe genug, sobald die immer gleiche Sorgfalt des Vaterauges nur darauf aus ist, zur rechten Zeit in den vertrauensvollen Seelen der Kinder zu lesen, um Begriffsverwirrungen aufklarend zu besiegen, noch ehe sie tiefe Wurzel schlugen.

Die Hochzeit einer dem Justizrath nahe verwandten jungen Dame veranlaßte dessen Anwesenheit mit seinen vier ältesten Töchtern, von welchen wir die jüngste, Louise, besonders kennen lernen wollen, auf dem Schloß des Bräutigams, eines wohlhabenden schlesischen Gutsbesitzers.

Zwar war das geräumige Schloß zum Empfang einer bedeutenden Anzahl Gäste eingerichtet, allein, wie es bei solchen Gelegenheiten häufig geschieht, es fanden sich noch mehr Gäste ein, als unter gewöhnlichen Verhältnissen untergebracht werden konnten. Daher kam es, daß im Schloß das Oberste zu unterst gekehrt werden mußte, um nur Raum für Alle und Jeden zu schaffen. Ein Seitenflügel des Hauptgebäudes enthielt im Obergeschoß achtzehn in einer Reihe gelegene einfensterige, kleine Fremdenstübchen, welche diesmal zur Aufnahme sämmtlicher junger Mädchen der Gesellschaft bestimmt wurden; weshalb man dort die nach einem längs der ganzen Reihe jener Gastzimmer hinlaufenden Corridor führenden Thüren von innen verschloß, dagegen alle Verbindungsthüren öffnete, wodurch der ganze Raum gleichsam in einen langen, nur in Schlafstellen getheilten Saal verwandelt wurde. Im letzten dieser Fremdenstübchen jedoch hatte man einen Theil der Schloß-Bibliothek intermistisch placirt, da das große im Untergeschoß des Hauptgebäudes gelegene Bibliothekzimmer ebenfalls für eine Anzahl junger Herren als Schlafgemach in Anspruch genommen werden mußte.

An einem der Festabende saß man im großen Versammlungssaal beisammen. Die jungen Leute hatten unter sich Spiele arrangirt und gaben sich der Festfreude mit jener glücklichen Heiterkeit hin, die nur der kurzen Jugendperiode eigen ist, wo nach dem Abstreifen der Kinderschuhe der trockene, herbe Ernst des Lebens noch nicht seine Rechte geltend zu machen beginnt. Die älteren Herren und Damen der Gesellschaft hatten sich ebenfalls in Gruppen getheilt, und während die Hausfrauen sich vertrauliche Mittheilungen zu machen hatten, war eine Gruppe von Vätern, unter welchen sich auch der Justizrath B. befand, damit beschäftigt, ganz im Stillen die ausgelassene Heiterkeit des jungen Corps zu beobachten; wobei es kam, daß man auf Justizraths Louise ganz besonders aufmerksam wurde. Obgleich augenscheinlich die Jüngste im Kreise, war doch sie es, welche trotz muthwilliger Heiterkeit gleichsam den ordnenden Geist auszuströmen schien, der die Spiele in unaufgehalten sicherem Gange erhielt. Louise wurde von den sie beobachtenden älteren Herren als ein Mordsmädel bezeichnet, was dem Justizrath nicht wenig schmeichelte, weshalb er auch mit Stolz erwiderte: „Ja, und das ist mein Werk!“

Man ließ dem Justizrath zwar Gerechtigkeit widerfahren, konnte sich aber dennoch nicht enthalten, einige Gegenbemerkungen zu machen; daß z. B. der Stoff, um ein resolutes Mädel zu erziehen, auch darnach vorhanden sein müsse; es gäbe Fälle unbesiegbarer Verzagtheit, Furcht und Unentschlossenheit, welche ihren Ursprung im kränklichen, hinfälligen Wesen der Kinder haben; wie überhaupt eine energische Seele nur bei kräftiger Constitution denkbar sei und, wenn diese fehle, sich eben wenig dafür und dagegen thun lasse.

Damit aber hatte man den Justizrath gerade auf sein Lieblingsthema gebracht, und er war in seiner beredten Weise denn auch nicht lässig, den um ihn versammelten Vätern eine derbe Strafpredigt zu halten, die er mit den Worten schloß: „Sehen Sie ’mal mein Louischen an, sie ist kein Riesenkind und hat am allerwenigsten etwas mit einem sogenannten Husaren gemein. Sie ist Gott sei Dank – schön oder nicht schön, davon abgesehen – aber ein Mädchen, die durch die etwas resolute Erziehung, die ich ihr angedeihen ließ, nichts von dem Duft ihrer Jungfräulichkeit einbüßte. Das Mädchen war von Kind an kränklich und zeigte alle Anlagen ein nervöses Geschöpf zu werden, weshalb ich gerade mit ihr meine besondere Noth hatte; aber auf ihre Courage würde ich vom Fleck weg eine Wette wagen. Von Furcht hat das Mädel kaum einen klaren Begriff!“

Während dieses Gespräches hatte sich beim Spiel der jungen Leute eine kleine Differenz eingestellt, welche selbst Louischen nicht sogleich zu erledigen im Stande war. „Wo ist das Buch, nach welchem wir das Spiel erlernten?“ fragte sie jetzt, „wir wollen uns daran halten, das ist das Kürzeste.“

„Das Buch wird schwer zu finden sein!“ erwiderte der Bräutigam, „denn die Bibliothek befindet sich augenblicklich in einem etwas desolaten Verhältniß, da man dieselbe theilweise nach dem letzten Fremdenzimmer des Obergeschosses brachte, um hier unten Platz zu schaffen.“

„Richtig,“ entgegnete Louise, „ich entsinne mich, das Buch oben liegen gesehen zu haben. Gebt mir nur ein Licht, ich will es gleich herbeischaffen. Wo ist der Schlüssel zur Stube?“

„Die ist von innen verschlossen, Louischen, Du müßtest durch die Fremdenzimmer gehen, wo alle Verbindungsthüren offen stehen.“

Indessen hatte Louischen eines der dastehenden Kerzenlichter ergriffen und war auch schon zur Thüre hinaus gesprungen, um besagtes Buch herbei zu holen.

Einer der älteren Herren, als er Louischen hinausschreiten sah, rief dem Justizrath zu: „Sie können es sich ersparen, eine Wette auf Louischens Muth anzustellen; ich glaube kaum, daß eines der übrigen hier anwesenden jungen Mädchen so unbedingt allein die Wanderung durch das Schloß nach dem abgelegenen Zimmer machen würde.“

Der Justizrath lachte: „Sie wollen meinem Mädchen die Probe etwas gar zu leicht machen. Na, das fehlte mir noch, daß das große Mädel, sie ist im 15. Jahre, sich am Ende fürchten sollte, bei Nachtzeit allein durch ein paar dunkle Stuben zu gehen. Da müssen andere Proben vorliegen. Auf den absichtlichen forcirten Muth gebe ich übrigens sehr wenig, der wird immer unter gewisser außerordentlicher Anstrengung zur Schau getragen und beeinträchtigt die Unbefangenheit, welche man an jungen Leuten am sorgfältigsten cultiviren soll, um die frische, frohe Anmuth der Jugend sich recht urwüchsig entwickeln zu lassen.“

„Aber wo bleibt denn Louischen so lange?“ ließen sich ungeduldige Stimmen im Kreise der jungen Leute hören.

„Ich will ihr suchen helfen!“ sagte der Bräutigam und wollte eben nach der Thüre, welche sich im selben Augenblick öffnete, indem Louischen mit dem Licht in der einen, dem Buch in der anderen Hand in den Saal trat. Diese Nebenumstände wurden jedoch kaum bemerkt, denn Aller Augen waren von den angestrengt ruhigen, jedoch auffallend blassen Gesichtszügen Louischens gefesselt, bis diese, das Licht aus der Hand setzend, mit fester Stimme sagte: „Oben sind Diebe! Ich habe einen gesehen und die anderen gehört; sie sind eben dabei das Silberzeug der Aussteuer einzupacken, sie sind von der Dorfseite aus eingestiegen!“

Diese Worte hatten natürlich eine augenblickliche Revolte im

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 251. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_251.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)