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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

wie gewöhnlich zuletzt, sondern mitten im Zuge, sie hielten nicht an bei dem Fenster und wurden von den Kindern eigentlich erst entdeckt, als sie schon vorüber waren. Ein Mal konnte das Zufall sein, als aber auch in den nächsten Tagen die Beiden niemals, wie sonst immer, die Letzten waren, da erkannte die Dame, daß die Männer sich geflissentlich zurückhielten, und war nun zweifelhaft, ob sie überhaupt ein Recht habe, diese Zurückhaltung zu übersehen und sich fürder um die Fremden zu bekümmern. Vielleicht wäre die Geschichte damit zu Ende gewesen, doch hatte das bleiche, kummervolle Gesicht Wedell’s und sein edler Anstand zu tiefen Eindruck auf die gutherzige Frau gemacht, und überdem mahnten sie die Kinder täglich an „Henri“ und „Frédéric“; interessirte sich die Mutter mehr für den Ersteren, so war den Kindern der Letztere ganz entschieden interessanter. Frau Noirot sprach mit ihrem Vater, Herrn de Lachétardie; der alte Employé war lange nicht so zartfühlend wie seine Tochter, er lachte sie ganz tüchtig aus und wollte nichts von den beiden seltsamen Schützlingen seiner Tochter und seiner Enkelinnen wissen. Glücklicher Weise besann sich die etwas beschämte Frau noch zuletzt darauf, daß der jüngere Kettenträger mit starren, traurigen Blicken das Bild der Urgroßtante betrachtet habe; glücklicher Weise besann sie sich darauf, denn die meisten Frauen pflegen das Wichtigste ganz praktisch zuerst zu erzählen, oder es ganz zu vergessen! Diese Mittheilung machte einen tieferen Eindruck auf den alten Employé des Hafens, als seine Tochter erwartet haben konnte, und am folgenden Abend stand er versteckt hinter seinen Enkelinnen am Fenster und ließ sich die beiden Schillianer zeigen, die im Zuge mit gesenkten Häuptern müde dahinschlichen, aber bei dem alten Hause doch die Blicke erhoben und, als sie die Dame nicht bemerkten, die Kinder freundlich grüßten. Die kleinen Aeffchen klatschten vergnügt in die Hände, und Florine, die keckere, ältere Schwester, warf ihrem bärtigen Freunde Frédéric sehr eifrig Kußfinger zu. Ein eigenthümlich Geschlecht diese Französinnen, als Kinder schon auf „la belle passion“ ganz leidlich eingerichtet!

Am andern Tage begab sich Herr de Lachétardie zu einem der Arsenalofficiere, unter welchem die Sträflinge des Bagno standen; dem erzählte er den Vorgang, und die sehr befreundeten alten Herren beschlossen, sich sofort die beiden Schill’schen vorführen zu lassen und sie zu befragen. Als dieselben eintraten, sagte der Arsenalofficier zu Wedell: „Hier ist Herr de Lachétardie, einer der Hauptsecretaire der Hafenverwaltung, welcher einige Fragen an Sie zu richten wünscht!“

Verwundert schauten die Preußen auf, denn schon diese höfliche Anrede von Seiten eines französischen Officiers war etwas so Außerordentliches in ihrer Lage, daß sie es kaum zu begreifen vermochten. Wenn man im groben Leinenhemd des Sträflings die Karre schiebt, dann spürt man nichts von der berühmten französischen Höflichkeit.

„Meine Freunde,“ begann Herr de Lachétardie sehr freundlich, „ich bewohne ein Haus an der Ecke der Hafenstraße und Seilergasse, an welchem Sie täglich vorüberkommen, wenn Sie zu Ihrer Arbeit geführt werden und von derselben zurückkehren. Sie pflegten eine Zeitlang bei der Rückkehr vor diesem Hause zu verweilen, aufmerksam ein Bild, das Portrait einer Dame zu betrachten, das dort an einer Seitenwand hängt, und mit den Kindern am Fenster, meinen Enkelinnen, zu plaudern; seit mehreren Tagen schon thun Sie das nicht mehr. Darf ich Sie nun bitten, mir zu sagen, ob Sie ein besonderes Interesse für das Bild haben und warum Sie nicht mehr mit den Kindern plaudern? Die erste Frage wünschte ich für meine Person gern beantwortet, zu der zweiten haben mich meine Enkelinnen genöthigt, welche durchaus die Abendunterhaltungen am Fenster fortsetzen wollen.“

Herr de Lachétardie sprach mit einer gewissen Verlegenheit, in welcher er sogar scherzhaft zu werden versuchte, denn er vermochte den Ton nicht zu finden, Galeerensträflingen gegenüber, die er nach den Mittheilungen seiner Familie für anständige Menschen hielt.

„Mein Herr,“ antwortete Wedell in gutem Französisch und tief gerührt, denn den tapfern Officier, der sich seit seiner Gefangenschaft als Verbrecher behandelt sah, rührte es wirklich tief, daß ein Franzose zu ihm trat, dessen Worte Theilnahme und menschliches Fühlen verriethen, „mein Herr, haben Sie Dank dafür, daß Sie einem Unglücklichen nicht zürnen, der, ein Bild betrachtend, einige Augenblicke sein entsetzliches Schicksal vergaß und der Heimath gedachte, an die ihn jenes liebe Frauenbild erinnerte. Für die Freundlichkeit Ihrer lieben Enkeltöchter wird Ihnen mein Leidensgenosse danken, der den Verlust schwer und nur aus Liebe zu mir getragen hat, weil ich der Ansicht war, es schicke sich nicht für Sträflinge, eine Dame durch unsere Dreistigkeit zu stören!“

„Sie waren sehr im Irrthum, mein Herr!“ begann der alte Beamte nach einer kurzen Pause, während welcher er die Beiden scharf gemustert hatte; er nannte Wedell auch schon „monsieur“, denn er wußte sehr bestimmt, daß er keinem Verbrecher gegenüber stand. „Sie waren sehr im Irrthum, denn alle diese Damen da, die Mutter wie die Töchter, interessirten sich auf’s Lebhafteste für Sie, und meine Tochter hat so schmerzlich empfunden, daß sie einem Unglücklichen seine einzige Freude vielleicht gestört hat. Dürfen Sie mir sagen, welchen Antheil Sie an dem Portrait der Dame nehmen? Sind Sie vielleicht Künstler? Das Bild ist von Poinsonnet, dem geschickten Hofmaler des Herzog-Regenten von Orleans, wenn auch, wie man mir sagt, eine Jugendarbeit. Poinsonnet ist hier zu Cherbourg geboren, seine Familie war mit der meinigen verwandt.“

„Ich bin kein Künstler,“ entgegnete Wedell, „ich glaube kaum, daß ich so viel von der Malerei verstehe, um ein gutes Bild von einem schlechten unterscheiden zu können; ich bin Soldat, mein Herr, preußischer Soldat, ein unglücklicher Officier vom Corps des Major von Schill; ich wurde mit andern Cameraden kriegsgefangen, meine elf Cameraden hat Ihr Kaiser vor etlichen Wochen erschießen lassen, mich, den Zwölften – ich weiß nicht wodurch ich solche Großmuth verdient habe – hat er zu Kette und Karre begnadigt und mich hierher gesendet!“

Die Art und Weise, in welcher Wedell das sagte, war nicht zornig, aber sie verrieth die tiefste Empörung und verfehlte ihres Eindrucks auf die beiden guten alten Herren nicht.

„Pauvre jeune homme!“ flüsterte der Arsenalofficier.

Herr de Lachétardie wischte sich die Augen mit einem riesenhaften, gelbseidenen Taschentuche, welches fast betäubend stark nach Moschus roch; er fragte nicht weiter.

(Fortsetzung folgt.)




Aus dem amerikanischen socialen Leben.


Vater Washington, wie ihn die Amerikaner nennen, war ein großer Staatsmann und Kriegsheld, das wissen wir Alle; aber was vielleicht nicht Alle wissen, ist, daß George Washington auch ein galanter Cavalier war. Er betrachtete das weibliche Geschlecht vor allen Dingen als das schwächere und ließ es sich daher angelegen sein, ihm einen ganz speciellen Schutz zu gewähren. Wir brauchen nur einen Blick auf die von ihm ausgegangenen Gesetze zu werfen, um zu sehen, wie weit dieser Schutz geht, welcher der amerikanischen Frau zu Theil wird. Dies weiß aber auch die zärtliche Misses, und ihre Erkenntlichkeit gegen den hochherzigen Beschützer ist groß; sie bewundert in ihm nicht allein den schönen anmuthigen Cavalier, denn es ist bekannt, daß George Washington einer der schönsten Männer seiner Zeit war, sondern sie verehrt auch in ihm den Mann, der sich ihrer großmüthig angenommen und sie unter schützende Gesetze gestellt hat. Der beste Beweis für die Dankbarkeit der amerikanischen Frauen ist wohl der, daß sie vor zwei Jahren den Platz, wo seine Gebeine ruhen, mit großem Kostenaufwande erkauft haben, um ihn der Nation als Geschenk darzubringen und so die Ruhestätte des Mannes, welchen das ganze amerikanische Volk gewissermaßen als sein Eigenthum betrachtet hatte, auch wieder zu einem wahren Nationaleigenthum zu machen.

Dieser Ankauf ist ein höchst interessanter. Der Begräbnißplatz war durch Erbschaft einem Nachkommen Washington’s zugefallen,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 308. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_308.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)