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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)


Ich war schon auf dem Wege und fand ihn, wie sie ihn mir bezeichnet hatte. Durch das Gitterthor sah ich einen weiten Hof, einen Hinterhof des Zuchthauses. Er war durch Laternen hell erleuchtet. Ueberall zeigte ihr Schein mir Soldaten, die in Gruppen oder in Reihe und Glied standen. An dem vergitterten Thore befand sich ein Doppelposten. Ein Unterofficier, der daneben stand, hatte mich in der leeren Gasse herankommen sehen.

„Wohin wollen Sie?“ fragte er.

Ich konnte, zumal bei dem Anblick des mit so großer Strenge militairisch bewachten Zuchthauses, keinen Zweifel mehr über die Bedeutung des Schauspiels haben, dem ich, ohne es zu verstehen, aus der Ferne beigewohnt hatte, das meiner Begleiterin das Herz zerschnitt, das für jene eleganten Herren und Damen interessanter als das Theater gewesen war, das ihnen jenes laute Gelächter abgelockt hatte. Der blassen Frau war es ein entsetzliches Lachen gewesen. Errieth ich, warum? Die Unglückliche! Wir lebten damals in einer furchtbaren, entsetzlichen Zeit. Sie traf vernichtend deutsche Männer – und auch wie manches edle deutsche Frauenherz. In der Brust des deutschen Studenten aber schlug zu jener Zeit kein deutsches Mannesherz, lebten nicht einmal Gefühle für deutsche Männer, und die Frauen waren für ihn nur zu leichtfertigen Abenteuern da. Ich war nicht anders gewesen, als die Andern, aber mit einem Male war eine tiefe Umwandlung in mir vorgegangen.

„Das Standgericht hält hier seine Sitzungen?“ fragte ich den Unterofficier.

„Ja.“

„Ich wünschte dort Jemanden zu sprechen.“

„Wen?“

„Einen Bekannten im Zuschauerraume.“

Der Mann musterte mich durch das eiserne Gitter. Er schien nichts Verdächtiges an mir zu finden. Das Verfahren war ein öffentliches. Er schloß das Thor auf und ließ mich eintreten.

Das Standgericht wurde in einem Seitenflügel des Zuchthauses gehalten, in einem Eckzimmer. Die schmalere Seite desselben war dem Hause zugekehrt, aus dem ich kam, und die Dame, die ich hingeführt, und ich hatten durch das nach jener Seite befindliche einzige Fenster hinein sehen können. Die breitere Front zeigte eine Reihe beleuchteter Fenster. Unter ihnen trat ich durch das Portal in das Gebäude. Auch im Innern standen überall Schildwachen. Sie standen die Treppe entlang, die ich hinaufsteigen mußte, bis oben zu den Thüren des Saales. Oben trat wieder ein Unterofficier an mich heran.

„Wollen Sie in den Zuschauerraum?“

„Ich suche den alten Bedienten, der vorhin in den Saal gelassen wurde.“

„Ah, er hatte dem Vertheidiger etwas zu übergeben?“

„Richtig.“

„Er ist noch drinnen. Sie können hier auf ihn warten.“

Der Unterofficier war ein höflicher Mann.

„Darf ich unterdeß in den Zuschauerraum eintreten?“ fragte ich ihn.

Er öffnete mir die Thür, an der wir standen. Ich trat in den Saal des Kriegsgerichts.

Ich befand mich in dem Zuschauerraume, mitten zwischen dem vornehmen, eleganten Publicum, das hier einem interessanteren Schauspiele zusah, das vorhin so laut und so lustig über dieses Schauspiel hatte lachen müssen. Aber mein Blick glitt an diesen aristokratischen Herren und Damen vorüber, um den Mann aufzusuchen, um dessen Leben es sich hier handelte, der hier zum letzten Male kämpfte um seinen Kopf, und über dessen Todeskampf jene hatten lachen können. Ich fand ihn. Es war ein großer, schöner, junger Mann; er stand mit dem feinen, aber kräftigen, ausdrucksvollen, aristokratischen Gesichte klar und ruhig da. Sein Auge weilte furchtlos auf seinen Richtern. Die Masse der vornehmen Zuschauer würdigte er keines Blickes.

(Fortsetzung folgt.)




Eine deutsche Schriftstellerin.

Wir bringen heute, namentlich unseren Leserinnen, die einfache Lebensgeschichte einer Frau, die sich, ohne selbst recht zu wissen, wie ihr geschah, in der Reihe deutscher Schriftstellerinnen gefunden und in den Kreisen der deutschen Frauenwelt sich viele Herzen erobert hat.

Bei Sternen erster Größe bleibt ihr Leben wie ihre Werke ein Besitz für das Jahrhundert, eine unerschöpfliche Fundgrube noch für lange künftige Jahre. Erscheinungen von zweiter Bedeutung, solche, die nicht gewaltige Harfen stimmen können, um neue Töne hervorzurufen für kommende Geschlechter, die aber so glücklich waren, im Vorübergehen eine Saite anzuschlagen, die in vielen Herzen wiederklingt, – sie werden sammt ihren Werken vergessen sein, eh’ die Zeit gekommen, in der man ein Menschenleben im rechten unparteiischen Lichte anschauen kann; darum ist der Wunsch des Publicums wohl berechtigt, von solchen Sternen zweiter Größe bei Zeiten Näheres zu erfahren. Was man aus solch einem Leben mittheilen und verlangen kann, das können eben nur die äußern Umstände sein und soviel von dem innern Bildungsgang, als nöthig ist zu erklären, wie sie wohl auf den Weg gekommen, auf dem wir sie kennen gelernt.

Ottilie Wildermuth ist am 22. Februar 1817 geboren, als das älteste Kind des Criminalrath Ronschütz zu Rottenburg am Neckar, einer kleinen würtembergischen Oberamtsstadt. Schon im Jahr 1819 kam ihr Vater als Oberamtsrichter nach Marbach am Neckar, Schiller’s freundlicher Geburtsstadt. Alle Erinnerungen der Kindheit und Jugend knüpfen sich für sie an diesen anmuthig gelegenen Ort, in dem sie bis zu ihrer Verheirathung lebte und die Freuden eines glücklichen Elternhauses mit drei jüngern Brüdern theilte.

Die äußerst einfachen Lehranstalten der kleinen Stadt boten wenig Hülfsmittel für die geistige Ausbildung eines aufgeweckten und lernlustigen Kindes; die Versuche, das Mädchen mit dem ältesten Bruder Latein lernen zu lassen, hatten keinen glänzenden Fortgang, woran vielleicht mitunter die pedantische Methode der Lehrer Schuld trug, die nicht begriffen haben, daß ein Mädchenkopf anders angefaßt werden muß als ein Knabengeist, der wohl schon zum Voraus logischer und gründlicher angelegt ist. Wie die kleine Ottilie so glücklich war in ihrem ersten Lehrer, der ihr im vierten Jahre schon Lesen und Schreiben ohne alle Schwierigkeit beibrachte, ihren besten Freund, den Vertrauten all ihrer kindischen Angelegenheiten zu finden, so hat sie der lateinischen Lehrstunden nebst Lehrern immer nur mit großer Abneigung denken können und beklagte gar nicht, daß sie vom Bruder, als er zur Schule kam, so rasch überflügelt wurde, daß von gemeinsamen Lectionen keine Rede mehr sein konnte.

So blieb es denn mit den Grundlagen des Wissens sehr mangelhaft bestellt; die Volksschule that ihr Bestes, indem sie neben gründlicher Kenntniß der Orthographie, des Rechnens und Lesens ihren Schülern alle Jahre auf’s Neue die geographische Anschauung der fünf Welttheile beibrachte, ferner die Thatsache, daß Europa drei Kaiserthümer und vierzehn Königreiche habe, und ihnen schließlich noch einen Umriß der würtembergischen Geschichte gab.

Es wurden verschiedene Versuche gemacht, der Kleinen zu weiterem Unterricht in der Geschichte und andern dienlichen Wissenschaften zu verhelfen, und es wurden dazu junge Theologen in Anspruch genommen, die als Vicare sich im Orte aufhielten. Da aber diese meist nur kurze Zeit zu Marbach verweilten, ihren Geschichtsunterricht aber höchst gründlich bei Aegypten, Assyrien, Babylon und Ninive begannen, so kam das arme Kind gar nicht aus diesen alterthümlichen Zuständen und fabelhaften Namen heraus, und mußte sich erst später mit Hülfe historischer Romane einigermaßen in’s Mittelalter und in neuere Zustände einleben.

Es wurde beschlossen, daß sie einem Onkel, einem benachbarten Landgeistlichen, der bei einer sehr lebendigen, regsamen Natur Freude am Unterrichten fand, mit seiner eigenen Tochter von gleichem


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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 372. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_372.jpg&oldid=- (Version vom 14.6.2022)