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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Nähe Platz genommen; aber bald dachte Reichardt kaum mehr an die Gesellschaft. Wie der Zuspruch einer befreundeten Seele, der er sich voll hingeben durfte, waren ihm seine eigenen Töne entgegen geklungen; er goß sein Herz mit dem ganzen Grollen, dem er nicht einmal einen Namen zu geben wußte, aus und fühlte, wie nach jedem Griffe sich seine Brust freier und befriedigter hob; weicher und milder wurden seine Gänge, es war ihm, als habe er in der Fremde wieder den Weg nach seiner rechten Heimath gefunden, und fast willenlos begann er als Thema des geordneten Spiels. „Zieh’n die lieben, goldnen Sterne auf am Himmelsrand.“ So fremd das Lied an die Ohren seiner Umgebung schlagen mochte, so allein stand auch er jetzt mit seinem Empfinden in den selbstgewählten Verhältnissen – und sie, die ihm Ersatz für eine ganze Welt hätte geben können, stand so weit über ihm, hatte sicherlich ihre Herzensbefriedigung schon in dem eigenen Kreise gefunden und ahnte nichts von dem, was in dem Innern des armen Teufels, den ihre Vermittelung erst von Hausknechtsarbeit erlöst, vorging, und wahrlich! sie sollte es auch niemals ahnen – mit einer kräftigen Dissonanz unterbrach er sein Spiel und senkte wie in Selbstvergessenheit den Kopf. dann aber, als bringe ihn die lautlose Stille um ihn her zur klaren Besinnung zurück, ließ er eine wilde Cadenz über die Tasten laufen und schloß in furiosem Tempo den „Yankee-Doodle“ daran. Selbsthohn, Aerger über die Weichheit, in welche er gerathen, regierten seine Finger, aber er half sich dadurch am leichtesten aus seiner bisherigen Stimmung und mit einer sonderbaren Selbstgenugthuung begann er immer carrikirter, immer trivialer die Melodie herunter zu trommeln.

No, Sir, no! das ist abscheulich!“ rief eine Stimme neben ihm, „Sie stürzen die Menschen kopfüber aus ihren schönsten Träumen!“ Reichardt brach mitten im Stücke ab und erhob sich rasch, und ein mehrstimmiges Gelächter um ihn her schien den vermeinten Spaß, den er eben vollführt, gebührend belohnen zu wollen. Neben sich sah er die Pianospielerin stehen, die mit einer Art liebenswürdigen Schmollens zu ihm aufblickte; als er aber das Auge unter die lachenden Gesichter der Uebrigen warf, sah er Margaret’s Züge, ernst und bleich, mit einem Ausdrucke von Sorge sich nach ihm heben, eine Secunde lang blieb ihr Blick forschend in dem seinen hängen, dann wandte sie sich ab und machte dem alten Frost Platz, welcher die Gruppe durchbrach und auf Reichardt zuschritt. „Haben Sie uns das alte Vaterland im Vergleiche zu dem neuen zeigen wollen?“ sagte er gutgelaunt, „fast war es mir so bei dem Kontraste, welchen Sie hinstellten.“

„Ich weiß wirklich selbst kaum, was ich gespielt habe, Sir,“ erwiderte der junge Mann in einer leichten Befangenheit, „ich wollte nur aus der Schwärmerei und den Dissonanzen, zu denen sie geführt, wieder in’s praktische Leben zurück.“

„Geschwankt haben Sie wenigstens nicht dabei,“ lächelte Frost; „Beides ließe sich aber vielleicht auf diesem Felde versöhnen, wenn Sie dann und wann mit John Abends heran kämen; es hängt mir selbst immer noch etwas von der deutschen Musikliebe an.“

„Sie wissen, Mr. Frost, daß Sie ganz über mich zu verfügen haben,“ erwiderte Reichardt sich verbeugend, während das Blut in seine Wangen stieg, um dann langsam einer tiefen Blässe Raum zu geben. Frost hatte sich mit einem freundlichen Kopfnicken weggewandt, und die Pianospielerin sprach zu dem Deutschen; dieser aber ward ihrer in dem Drange widerstreitender Empfindungen, welche Frost’s Einladung in ihm wach gerufen, kaum gewahr, und erst als jene sich mit einer directen Frage, deren Endworte er glücklicher Weise auffing, sich nach ihm wandte, wurde er sich seiner Zerstreutheit bewußt. So, das sah er, durfte er sich nicht ferner gehen lassen, wenn er nicht auffallen wollte, und alle Gedanken zusammennehmend, wandte er sich dem Gespräche mit seiner verblühten Nachbarin, die soeben über deutsche Musik schwärmte, zu, bis endlich der junge Frost herantrat und ihn mit einer Entschuldigung gegen seine Gesellschafterin bei Seite zog. „Lassen Sie mir den Wermuthstropfen für heute Abend, ich bin schon darauf vorbereitet,“ sagte der letztere, „unser Truthahn ist bereit, nur da Sie sich wahrscheinlich noch keine Nachbarin engagirt, so kommen Sie zu meiner Schwester!“

Nur einen Moment zuckte es wie Widerstreben in dem Deutschen; in dem nächsten aber wußte er, daß es hier keinen Ausweg gab, daß ihm der härteste Kampf nicht erspart werden sollte, und daß er diesen zu bestehen habe nach besten Kräften. In möglichst freier Haltung folgte er dem Freunde quer durch das Zimmer nach einer lachenden Gruppe und stand in der nächsten Minute vor Margaret, aus deren Zügen bei seinem Anblick plötzlich der lachende Ausdruck schwand. „Reichardt möchte Dich zu Tische geleiten, Schwester, und es ist gut, wenn wir rechtzeitig Paare bilden!“ sagte John kurz und wandte sich wieder davon; des Mädchens Blick aber ruhte still und ernst auf Reichardt’s Gesicht, bis dieser ihr den Arm bot und sie in langsamer Promenade durch das Zimmer führte. Er hatte ihr forschendes Auge gesehen, und jedes leichte Wort, mit dem er hätte eine Unterhaltung einleiten können, schien damit wie aus seinem Gedächtnisse gestrichen zu sein; er fühlte ihren Arm leicht wie eine Feder auf dem seinigen ruhen, und eine Empfindung, wie er sie nie vorher gekannt, rieselte durch seine Nerven; er wußte, wie albern er erscheinen mußte, ohne Laut an ihrer Seite zu gehen, während sich um sie her lachend und scherzend die übrigen Paare formirten und selbst der alte Frost mit einer launigen Rede sich bei der Pianospielerin als John’s Stellvertreter einführte, so lange dieser abwesend sei – und doch schien ihm sein Gehirn jeden leidlichen Gedanken zur Anknüpfung einer Unterhaltung verweigern zu wollen. Da hörte er plötzlich seine Begleiterin halblaut in deutscher Sprache beginnen: „Ich hatte mich gefreut, Mr. Reichardt, Sie bei uns zu sehen; Harriet Burton hat mir so Mancherlei von Ihnen geschrieben, daß Sie immer fast wie ein längst Bekannter vor mir standen –!“ Wie in halber Zögerung waren die Worte gesprochen; dennoch klang etwas so Ermuthigendes darin zu Reichardt’s Seele und der deutsche Laut schlug so verwandt an sein Ohr, daß es ihm wurde, als löse sich eine beengende Fessel vor ihm; unwillkürlich mußte er den Blick nach der Redenden wenden und begegnete einem Auge, das wie in scheuer Prüfung zu ihm aufsah.

„Sie sind so unendlich freundlich gegen mich, Miß Frost, daß ich kaum weiß, wie ich Ihnen danken soll!“ erwiderte er in einem Tone, der seinen Worten jeden Charakter von Phrase nahm, und wie in leichter Verwunderung blickte sie von Neuem auf.

„Was thue ich denn Besonderes?“ fragte sie, „aber Sie sind anders, Mr. Reichardt, als ich Sie nach unserm ersten Zusammentreffen in Saratoga mir vorstellte; selbst wohl, als ich Sie durch Harriet habe kennen lernen, und ich hatte mich wirklich auf den heutigen Abend gefreut –“ sie hielt plötzlich inne, als habe sie zu viel gesprochen, und ein leichtes Roth trat in ihr Gesicht; Reichardt aber hätte den feinen Arm, der auf dem seinen lag, fest an sich drücken mögen; es erschien ihm wie eine wahre Seligkeit, der er nicht zu widerstehen vermochte, allen Zwang, den er sich angethan, von sich zu werfen, sich dem vollen Zauber, der auf ihn einwirkte, hinzugeben und dann kommen zu lassen, was da kommen möge. „O, wissen Sie nicht, Miß Margaret,“ erwiderte er, und es war ihm als springe ein ganzer Strom von Lust in ihm auf, „wie wenig der Mensch und seine Stimmungen von ihm selbst abhängen, wie zehnerlei böse Geister, als da sind Rücksicht und Convenienz, Unterschied in Stellung und Lebenslage, und wie sie sonst noch heißen mögen, ihm die glücklichsten Stunden verbittern können? So lange der Mensch nichts zu verlieren hat, kümmert er sich kaum darum und faßt keck hin, wo er ein Glück zu sehen vermeint; kaum daß er aber etwas erobert hat, muß er auch fühlen, welcher Unterschied ihn von Glücklicheren trennt, und muß den bösen Geistern ihren Zoll zahlen. Nicht wahr, Sie meinen, jetzt schwatze ich vielen Unsinn? aber lassen Sie es, Miß Frost, Sie sollen mich heute ganz so haben, wie Sie mich vielleicht erwartet haben mögen!“

Sie war mit sichtlicher Aufmerksamkeit seinen Worten gefolgt. „Aber was haben denn Ihre bösen Geister mit unserem heutigen Abende zu thun?“ fragte sie, das große Auge wie in neuem Forschen auf sein Gesicht heftend, „sind wir denn, wie wir hier beisammen sind, nicht völlig außerhalb ihrer Kreise?“

„Meinen Sie, Miß?“ erwiderte er, und es wurde ihm, als müsse sich jetzt sein Herz weit öffnen und Alles, was es zum Uebermaße gefüllt, in ihr Ohr ausströmen. „Dort geht Ihr bisheriger Tänzer und Gesellschafter,“ fuhr er fort und strebte vergebens, seine Stimme frei von seiner innern Bewegung zu halten; „was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen das zuflüstern wollte, was ihm wohl seine Stellung erlaubt; wenn ich kein anderes Dictat kennte, als die Regungen in mir, denen ich gleichberechtigt mit jedem Andern folgen dürfe – wäre es nicht halber Wahnsinn, Miß Margaret? Und doch wäre das, was in mir lebte, vielleicht tiefer und wahrer, als Ihre Salonmenschen jemals fühlen können,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 479. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_479.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)