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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Unwetter, Wolkenbrüche mit Hagelschlag verbunden machen die Gießbäche und Wildwasser anschwellen, und die reißend aus Bergschluchten und Thalklüften hervorstürzenden Gewässer überschwemmen dann binnen wenigen Stunden fruchtbare Saatfelder, Wiesen, Dörfer und Städte, und verbreiten weithin Schrecken und Verderben.

In Hamburg, wie überhaupt in den Niederungen zwischen Ems, Weser, Elbe und Eider hat das Wort „Hochwasser“ eine andere Bedeutung. Für gewöhnlich flößt dasselbe, wie oft es auch gebraucht werden mag, Niemand Furcht ein. Man ist daran gewöhnt und weiß, wie man zu sagen pflegt, Bescheid damit. Allein es treten doch Fälle ein, wo auch dem Erfahrensten die Haare vor Angst zu Berge steigen, und wo im drängenden Augenblicke der furchtbarsten Gefahr selbst der Gleichgültigste und Phlegmatischste nur an die Rettung des eigenen Lebens und der ihm Angehörigen denkt. Hamburg würde entweder gar nicht gegründet worden oder bis auf den heutigen Tag ein ganz unbedeutender Ort mit Fischerei und dürftigem Handel geblieben sein, wenn nicht Fluth und Ebbe den Unterbau seiner Häuser bespülte. Fluth und Ebbe sind auch die Grundursachen des Hochwassers, von welchem ein beträchtlicher Theil der gewaltigen Stadt alljährlich zu verschiedenen Malen heimgesucht wird, das aber, wenn es die gewöhnlichen Marken der Hochfluthen nicht übersteigt, mehr Anlaß zu heitern Auftritten als zu haarsträubenden Schreckensscenen giebt.

Zweimal innerhalb des kurzen Zeitraumes von vierundzwanzig Stunden ebbt und fluthet die Meereswoge. Unter normalen Witterungsverhältnissen dauern im Allgemeinen Ebbe sowohl wie Fluth etwa sechs Stunden, doch darf man diese Frist nicht gar zu buchstäblich nehmen. Die Dauer von Ebbe und Fluth hängt mehr oder weniger von örtlichen Verhältnissen, und insbesondere von geringerer oder weiterer Entfernung eines Ortes von dem Weltmeere ab. An den Küsten des großen atlantischen Oceans steigt die gewöhnliche Fluth doppelt so hoch, ja an einzelnen Stellen noch höher, als etwa bei Cuxhaven. In Hamburg und den zunächst gelegenen Orten der Niederelbe schätzt man die Höhe einer gewöhnlichen Fluth auf fünf Fuß, und die Zeit des steigenden Wassers wird auf reichlich fünf Stunden berechnet, während die Ebbe oder die Zeit des fallenden Wassers sieben Stunden dauert. Ohne dieses regelmäßig sich wiederholende Anschwellen und Sinken der Meereswoge, das hier nicht weiter erklärt werden soll, würde die Schifffahrt auf der Elbe gleich Null sein, das Flußbett des Stromes trotz seiner großen Breite und seiner gewaltigen Wassermasse in wenigen Jahren versanden und seine Mündung höchst wahrscheinlich sich in ein aus zahlreichen Inseln bestehendes, von Sümpfen umgebenes ungesundes Delta verwandeln. Fluth und Ebbe allein sind es, denen Hamburg seine Größe, seine Handelsblüthe, seinen Reichthum, seine Wichtigkeit als Welthandelsstadt verdankt. Die mit steigender Fluth aufrollende Meereswoge trägt die schwerbefrachteten Handelsflotten auch ohne Mithülfe des Windes den Strom hinauf und läßt sie ungehindert die Untiefen passiren, die sich in großer Menge in der Elbe vorfinden und das Ab- und Aufsegeln stark beladener Seeschiffe erschweren. Die Ebbe leistet ähnliche Dienste, indem sie das Auslaufen der Schiffe aus dem Hafen erleichtert und die enormen Massen von Sand und allerhand faulen Stoffen dem Meere zuführt, das sie in seinem ewig bewegten Wallen und Sieden zu Atomen zerschlägt.

Heftig wehende oder lange anhaltende Winde bleiben niemals ohne Einfluß auf Ebbe und Fluth. Starker Ostwind schwächt z. B., wenn er längere Zeit in gleicher Richtung fortweht, in Hamburg die Fluth dergestalt ab, daß sie sich nur wenig bemerklich macht. Die Wassermasse der Elbe ist zu solchen Zeiten mächtiger als die aus der Nordsee heraufrollende Fluthwoge, die ihrerseits von der Gewalt des Ostwindes zurückgehalten wird. Sie kann den Ebbestrom nicht überwältigen und kämpft so lange mit ihm, bis dieser die Fluth überwindet und sie in’s Meer zurückdrängt.

Zu solchen Zeiten, die häufiger im Sommer als im Winter eintreten, sind die zahlreichen Fleethe (Canäle) Hamburgs fast wasserlos, und der Verkehr zu Wasser im Innern der Stadt, so wichtig für die handeltreibende Bevölkerung derselben, wird in höchst empfindlicher Weise gestört. Der Kaufmann kann weder Waaren vom Bord der Seeschiffe auf leichte Weise mittelst großer, flacher Kähne, Schuten genannt, in seine an den Fleethen gelegenen Speicher schaffen lassen, noch durch dieselben Vehikel Schiffe mit Kisten und Ballen, die in den Speichern aufgestapelt liegen, befrachten.

Das umgekehrte Verhältniß tritt ein, wenn der Wind in entgegengesetzter Richtung, also aus Westen weht. So lange er eine gewisse Stätigkeit behält oder, wie der Seemann sich ausdrückt, „frische Brise“ bleibt, wirkt er wohlthätig auf Schifffahrt und Handelsverkehr. Unter frischer Brise aus Westen ist die Elbe lebhaft bewegt; sie rollt und wogt, und trägt auf ihrem breiten Rücken zahlreiche Nachen, Jollen, Ewer, kleinere und größere Seeschiffe mit und ohne Segel. Die Fleethe wimmeln von sich durch einander drängenden Schuten; viele tausend Hände sind auf den Fahrzeugen wie in den Speichern beschäftigt, und im Hafen, wie am Hafenquai herrscht vom grauenden Morgen bis in die sinkende Nacht hinein lebhafte Thätigkeit und fröhlichstes Leben.

Unbequem und nicht selten zum Verderben wird aber der West- und insbesondere der Nordwestwind, sobald er sich zum Sturme steigert. Dann thürmen sich die Wogen der Nordsee zu Bergen auf, und bei steigender Fluth treiben sie die Gewässer der dem Meere zustrebenden Flüsse mit solcher Gewalt zurück, daß sie, in ihrem naturgemäßen Laufe behindert, sich ebenfalls aufstauen und nunmehr zugleich mit den eindringenden Meereswogen rückwärts fluthen. In solchen Fällen wächst die Fluth zur Sturmfluth, die Sturmfluth aber erzeugt immer hohes Wasser. Wie die Bewohner der Alpen mit Lawinen, so sind die Bewohner Hamburgs vertraut mit hohem Wasser. Heißt es doch sogar im Sprüchwort, es dürfe nicht zuwintern, ehe die Keller gespült seien!

Was ein solches „Kellerspülen“ sagen will. das muß man mit ansehen, um sich einen Begriff von der Herrlichkeit desselben machen zu können. Wir nehmen an, es tritt Hochwasser ein oder das Kommen desselben wird erwartet. Die ganze Nacht schon wehte es stark, d. h., wie man im Binnenlande sich ausdrückt, es stürmte, daß die Wetterhähne umknickten, von den Firsten der Dächer Ziegelsteine herabprasselten, und hie und da ein alter Baumstamm, der das Beugen und Nachgeben verlernt hat, mit sammt dem Wurzelwerk aus dem Erdboden gerissen ward. Das nennt man an den Seeküsten „starkes oder hartes Wehen“.

Trotz des furchtbaren Tobens in der Luft aber war die Sache nicht bedenklich, und kein Mensch kümmerte sich um das Pfeifen und Heulen des Sturmes. In einer der niedrigsten Straßen der Stadt im St. Katharinenkirchspiel befindet sich eine sehr besuchte Barbierstube. Fünf Sandsteinstufen, jede beinahe einen Fuß hoch, führen von der engen Straße zu derselben, doch muß der Eintretende, der hier Geschäfte hat, zuvor die „Diele“ (Hausflur) eines Mannes passiren, der mit alten Mobilien handelt. Zum Zeichen seines Geschäftsbetriebes hat der Mobilienhändler auf eine der Steinbänke an den Seiten der Treppe zwei alte Stühle über einander gestellt. Die Hausthür selbst steht offen. Durch dieselbe erblickt man im dunkeln Innern der Diele allerhand Urväterhausrath: eine Kommode mit Messingbeschlag; darauf eine Stutzuhr, die nicht mehr geht; einen Spiegel mit halb blindem Glas; eine Moderateurlampe, die man aufpumpen kann, so viel man will, ohne den Docht darin zum Brennen zu bringen. Tief im Hintergrunde Kleiderschränke von unsicherer Farbe, und ganz vorn im hellsten Tageslicht, schräg an die Kommode gelehnt, das Portrait einer ehrsamen Bürgersfrau, das hierher gewandert ist, weil beim letzten Umzug der Familie in dem neu gemietheten Logis kein Platz zu finden war, um es aufzuhängen. Unter der Barbierstube, fünf Stufen tief, ist der Eingang zu einer jener zahllosen Kellerwohnungen, welche Hamburg eigenthümlich sind. In dieser wohnt ein gealterter Schuhmacher, Meister Pech sen.. Er wohnt schon lange in diesem engen, dunstigen Keller; denn es lebt sich da gut, weil er eine starke, viel verbrauchende Kundschaft hat, die, was in Hamburg über Alles geliebt wird, prompt bezahlt und gar nicht dingt. Fast sämmtliche Arbeitsleute aus den nächsten sechs bis sieben Straßen, eine Menge Ewerführerknechte und andere Personen, die starkes Fußzeug brauchen, laßen bei Meister Pech sen. arbeiten, und allen diesen strammen, wohlgenährten Leuten fehlt es nicht an Geld. Bei ihnen gilt an jedem Sonntage und nicht selten auch nach Feierabend in der Woche der Grundsatz: „Geld spielt gar keine Rolle!“ In gewöhnlich verständliches Deutsch übersetzt heißt das: es kommt uns nicht darauf an, einen Thaler mehr oder weniger auszugeben. Gehen sie etwas spät vergnügt nach Haus, so trösten sie sich wohl gegenseitig mit den Worten: „Wat deiht’s, wi hebbt et man ja!“

Zwischen zehn und elf Uhr Vormittags springt ein Küper eilig die fünf Stufen zur Hausflur hinauf, tritt in die Barbierstube

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 636. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_636.jpg&oldid=- (Version vom 18.10.2022)