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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

können, wenn Sie irgend eine Gelegenheit zur Aenderung Ihrer Lage ergriffen hätten. Meine eigenen Empfindungen müssen Ihnen allerdings gleichgültig sein, aber um der Kinder willen möchte ich Sie bitten, auszuhalten, bis ich Ihnen freien Weg schaffen kann, was nicht mehr zu lange währen soll!“ Er erhob sich, als fürchte er mehr zu sagen, und ging einen Schritt nach der Seitenthür, wandte sich aber dort zurück und reichte dem Mädchen die Hand. „Denken Sie daran, daß den Kindern die Mutter fehlt!“ sagte er, und Lucy sah in ein Auge, in welchem eine herbe Bitterkeit mit der aufsteigenden Weichheit zu kämpfen schien; sie fühlte einen Druck seiner Hand, der ihr fast weh that, und dann sah sie die Seitenthür sich hinter ihm schließen; sie aber meinte in diesem Augenblicke, daß keine Macht der Erde stark genug sein könne, sie den übernommenen Pflichten abwendig zu machen. –

Sie hatte die Kinder zur Ruhe gebracht, aber eine stille Erregung, die nichts mit ihrer frühern Stimmung gemein hatte und die sie doch auch mit Worten nicht hätte bezeichnen können, ließ sie noch nicht daran denken, ihr eigenes Lager zu suchen. Ein klarer Mondschein lag rings um das Haus auf der Landschaft, und als sie einen Blick durch das Fenster warf, meinte sie, nicht schneller in sich selbst Ruhe schaffen zu können, als wenn sie noch einen Gang durch die nächsten Umgebungen mache, die wie ein Bild des Friedens und der Stille vor ihr lagen. Sie sah noch einmal nach den Kindern und verließ dann geräuschlos das Haus, ihren Weg an der Grenze der Gartenanlagen hinnehmend, bis sie den Obstgarten, welcher sie vor allen Blicken aus dem Hause schützte, erreicht hatte. Langsam folgte sie hier einem der geschlängelten Wege und bald begann sie den wohlthuenden Einfluß des freundlichen Nachtbildes, welches ihr von allen Seiten entgegenblickte, auf sich zu fühlen.

Sie grübelte jetzt nicht mehr über ihre Lage, sie wußte, daß sie hier bleiben und aushalten müßte, was auch über sie ergehen werde, bis er es vermöge, die Verhältnisse zu ändern. Sie dachte kaum daran, sich klar zu machen, was sie hier hielt, was diese Bereitwilligkeit in ihr hervorgerufen, sich für ein fremdes Interesse zu opfern, sie wußte nur, daß sie nichts gegen die Macht dieses Blicks vermochte, mit welchem der Major sie verlassen. Wohl hätte sie errathen mögen, was dieser kräftigen Natur im eigenen Hause die Hände binden und sie zu einer Bitterkeit treiben könne, wie sie heute ihr aus seinem Auge entgegengesprungen, aber sie stieß nur auf die alten Räthsel, die sich ihr seit dem ersten Tage geboten – da hielt sie plötzlich ihren Schritt an. Ihr Weg hatte sie ins Freie geführt, und dicht vor ihr lag das Gartenhaus. Matt stach das erleuchtete Fenster gegen die Mondhelle ab, und Lucy von einer Art plötzlicher Scheu vor dem Orte befallen, wollte sich eben wieder zurückwenden, als ihr Blick auf eine Gestalt fiel, die, auf eine unweit entfernte Bank hingeworfen, das Gesicht in die beiden untergelegten Arme verborgen, mehr dort lag als saß, und ein zweiter, schärferer Blick ließ sie ohne Schwierigkeit das Aeußere des Majors erkennen. Eine halbe Minute lang stand sie zögernd, unwillkürlich lauschend, ob sich kein Ton aus dem Häuschen vernehmen lasse, dann aber stieg eine plötzliche Besorgniß in ihr auf – die Gestalt lag so völlig regungslos, als sei das Leben aus ihr entwichen; dazu war die Stellung eine so auffallende, daß sich ganz von selbst der Gedanke an die Möglichkeit eines unglücklichen Vorfalls bot, und langsam trat das Mädchen näher, bereit, bei der kleinsten Bewegung sich zurückzuziehen. Aber sie stand schon neben dem Daliegenden, ohne auch nur ein Zeichen des Athemholens bemerken zu können, und in verstärkter Sorge legte sie mit einem „Major!“ die Hand auf seine Schulter. Aber mit einem plötzlichen Ruck schnellte er zu einer sitzenden Stellung auf, sah das fast erschreckte Mädchen zwei Secunden wie geistesabwesend an und stand dann auf seinen Füßen vor ihr. Seine Stirn zog sich finster zusammen, als er sie erkannte. „Was thun Sie hier? was wollen Sie von mir?“ sagte er barsch, „die Neugierde hat Sie getrieben, Sie sind mir nachgeschlichen! Eine wie die Andere!“ setzte er wie in tiefer Bitterkeit hinzu.

„Ich schleiche Niemand nach, Sir, und die Neugierde gehört am wenigsten zu meinen Fehlern!“ versetzte Lucy, welcher sein rauher Ausbruch schnell ihre volle Fassung wiedergegeben; „hätte mich nicht der bloße Zufall hergeführt, so wäre ich wohl schwerlich so weit gegangen, Sie in der Sorge um Ihren Zustand zu berühren.“

„Ah, und Sie haben, seit Sie hier sind, wahrscheinlich noch kein Wort von diesem Hause gehört,“ versetzte er mit einem Tone, dessen Ironie dem Mädchen weh that, „haben sich auch noch mit keinem Gedanken darum gekümmert!“

„Ich habe Sie einmal im Scheine dieses Fensters gesehen, Sir, und dabei eine Ahnung erhalten, daß Ihr Leben nicht ohne Schmerz ist,“ entgegnete sie ernst, „ich habe später einige unverständliche Worte in Bezug auf das Haus fallen hören, ohne nach Dingen zu forschen, zu deren Ergründung ich das wenigste Recht hatte, und wenn ich Sie jetzt bitte, mir zu glauben, so ist dies wohl nicht mehr, als worauf ich Anspruch machen darf.“ Sie neigte leicht den Kopf und wollte mit einem „Gute Nacht, Sir!“ sich wegwenden, aber die Hand des Dastehenden legte sich auf ihre Schulter.

„Bleiben Sie, Miß,“ sagte dieser, „es ist mir, als müsse ich glauben, daß Sie nicht zu dem großen Troß gehören, wenn dies auch ein wunderliches Gefühl für mich ist, aber wenigstens haben Sie ein Herz – die Deutschen, heißt es, besitzen einen Vorzug darin vor uns – und es ist besser, Sie hören von mir, was Ihnen doch einmal aus anderm, vielleicht gehässigem Munde zu Ohren kommen muß. Setzen Sie sich her!“ fuhr er fort und ließ sich auf die Bank nieder, das Gesicht in beide Hände legend, und von einem wunderbaren Interesse für das, was sie vernehmen werde, getrieben, nahm Lucy neben ihm Platz.

„In diesem Hause,“ begann er nach einer Pause langsam den Kopf hebend und den Blick vor sich auf den Boden richtend, „wohnt die einzige Frau, welche ich in meinem Leben ohne Selbstsucht gefunden, die einzige, die mich meiner selbst willen geliebt hat, und die gerade deshalb zu Grunde gerichtet worden ist, ohne daß ich sie hätte retten können.“

„Es gab eine Zeit,“ fuhr er nach einer neuen Pause fort, „da galt die alte Flora als das schönste Mulattenmädchen, und mein Vater wurde vielfach um ihren Besitz beneidet, obgleich er als eifriges Kirchenmitglied kein anderes Verhältniß zu ihr als das des Herrn zur Sclavin einräumen wollte. Ich war damals nie daheim, bald im Osten, bald in Europa, nur kam eines Tages gerade noch recht, um meinen Vater auf dem Sterbelager zu finden. Meine Schwestern waren verheiratet, und er hatte kaum noch etwas zu ordnen; dennoch schien ihn meine Ankunft zu erleichtern, und als er sich mit mir allein sah, war sein erstes Wort: „Richard, versprich mir eins, berühre Flora’s Tochter nicht, denn sie ist Deine Schwester!“ Es lag nichts Außergewöhnliches in dem eingestandenen Verhältniß, und ich dachte, als ich ihm das geforderte Versprechen in die Hand gab, nur daran, mich baldmöglichst einer Verwandtschaft, die nur zu Inconvenienzen führen konnte, zu entledigen, mein Vater selbst billigte diesen Plan lebhaft, aber mein leichtes Herz spielte mir bald einen verhängnißvollen Streich. Kaum war ich nach dem Tode des alten Herrn mit einer Uebersicht des Nachlasses beschäftigt, so trat eines Morgens ein Gesicht in meinen Weg, wie ich es kaum schöner gesehen; ein Paar tiefe, große Augen, die meine ganze Erscheinung mit einem Male erfassen zu wollen schienen, begegneten den meinen, und eine Stimme, die wie zum Bitten geschaffen war, sagte: „Master, ich flehe Sie an, lassen Sie mich bei meiner Mutter und verkaufen Sie mich nicht an Fremde – der alte Mr. Wood hat es gewollt, ich weiß es, aber seien Sie barmherzig – ich bin Mary, Flora’s Tochter, Sir!“

Das Mädchen war beinahe völlig weiß, ihre Gestalt hätte kaum von jugendlich edleren Formen sein können, und mich überlief ein warmes Mitleiden bei dem Gedanken, sie in irgend eine rohe Hand nur als Opfer der Sinnlichkeit fallen zu sehen; sie war zudem immer ein Stück von einer Schwester, und ich ließ der augenblicklichen Regung ihr Recht – sie erhielt das Versprechen, in ihren bisherigen Verhältnissen gelassen zu werden, und wortlos, aber mit einem wunderbar warmen Aufblick meine Hände küssend, eilte sie davon.“


(Fortsetzung folgt.)
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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 708. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_708.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)