Seite:Die Gartenlaube (1861) 761.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Bedrücker dem Gericht der öffentlichen Meinung preis gegeben werden konnten. Die Menge der aus Rußland eingehenden Correspondenzen ist unglaublich groß. Unzählige Mißbräuche und Missethaten derer, die „über dem Gesetz stehen“, werden daselbst enthüllt, und manches Uebel wird durch den Schrecken, den dieses Blatt einflößt, abgehalten. Herzen und seine Presse sind eine politische Macht geworden, um seinen Namen schaaren sich die edelsten Sympathien der russischen Jugend und nicht blos der russischen allein, denn – ganz besonders seit den letzten Ereignissen in Warschau, nach welchen er es rückhaltlos aussprach: „völlige Unabhängigkeit für Polen“ und die Verfolgungen der russischen Regierung brandmarkte – gehören ihm auch die polnischen Sympathien aller Parteien, was sich bei Herzen’s Anwesenheit in Paris im letzten Frühjahre kund gab durch eine polnische Adresse, von sechshundert der in Paris lebenden Polen unterzeichnet, so wie durch Adressen von mehreren anderen Orten, wo polnische Flüchtlinge leben.

So kann man denn schließlich sagen, daß sicher keiner der auf fremdem Boden lebenden Exilirten eine so bedeutende Rückwirkung auf sein Vaterland sich erworben hat, wie Herzen. Daß ihn das Glück hierbei begünstigte, ist sehr wahr. Denn erstens war es seine äußerlich unabhängige Stellung, welche ihm die volle Freiheit des Wirkens möglich machte, dann aber war die Lage Rußlands eine solche, daß sich alle praktische Thätigkeit auf ein paar positive, klar gestellte Fragen concentriren konnte, mit deren Lösung zunächst ein ungeheurer Schritt vorwärts geschah. Immerhin aber bleibt es Herzen’s Verdienst, daß er, wie schon oben bemerkt, die Mäßigung hatte, sich, obgleich er selbst theoretisch viel weiter geht, auf diese Fragen zu beschränken, zweitens, daß er seine Mittel, seine Kräfte und seine Zeit mit seltener Energie ausschließlich diesem Wirken widmete. Wir haben ein großes Bedauern auszusprechen, nämlich: daß seine politisch-polemische Thätigkeit ihn ganz von der wissenschaftlichen und belletristischen abzog. Dieses Bedauern muß aber schweigen vor der Liebe und Verehrung, mit der die Russen, die nur irgendwie zur Partei des Fortschritts gehören, seinen Namen aussprechen und erklären, daß er sich ein unsterbliches Verdienst um Rußland erworben. Welch schöneres Loos kann dem Menschen zu Theil werden, als in der Liebe seiner besseren Zeitgenossen schon der Anerkennung der Nachwelt gewiß zu werden! –




Görgey’s Geiger.

Als im letzten großen Acte der ungarischen Revolution die Armee sich zu einer Hauptmasse unter Görgey vereinte, als Alles, was nur eine Waffe tragen konnte, vom Edelmann bis zum Pferdehirten, zur Einreihung heraneilte, da stand eines Nachmittags in einem hohen Zimmer zu Hewas ein junger Mann in sichtlichem Kampfe mit sich selbst am Fenster. Eine schlanke, echt aristokratische Gestalt bezeichnete den Sohn aus „guter“ Familie, die hohe, breite Stirn und das blitzende Auge deuteten auf Intelligenz und Thatkraft, während die rosigen Backen und die völlig bartlose Lippe von kaum 17 Lebensjahren erzählten. Wenige Stunden entfernt schlug man sich, das wußte er; noch näher stand ein Theil von den Reserven der Revolutions-Armee, sein eigener Bruder war bei einem der Corps, und er sollte daheim bleiben, sollte das Stück Weltgeschichte an sich vorüberrollen sehen, ohne mitwirken, ohne dem innern Drange den Zügel schießen lassen zu dürfen – er war der jüngste männliche Sproß der Familie, und er wenigstens sollte als letzte Stütze der Mutter den Kriegsgefahren fern bleiben. Mit einem Laute des Unmunthes trat er vom Fenster zurück, einen raschen Gang durch das Zimmer machend, bis sein Auge eine nachlässig hingeworfene Violine neben einem aufgeschlagenen Notenhefte traf und er nach ihr, wie nach einem Mittel zur Befriedigung seiner Aufregung, griff. Er setzte das Instrument an das Kinn und begann einen Sturm von Accordengängen, als sollten die Saiten herunterfliegen und der Bogen brechen; in glänzenden Octaven und Decimen, in rasenden Läufern und Sprüngen schien er seine eigene Kraft erschöpfen zu wollen, und erst als er hörbar ermattete, ging er in ein klares, geordnetes Spiel voll mächtigen, tiefen Ausdrucks über; jeder seiner Töne aber hätte in den Salons der Kaiserstadt einen Sturm von Applaus hervorrufen, hätte den peinlichsten Kritiker zur Bewunderung dieser vollendeten Meisterschaft hinreißen müssen – und doch hatte dieser junge Mensch, den seine Familie wie seine weitere Umgebung einfach „Eduard“ rief, kaum zwei oder drei Concerte bei gelegentlichen Besuchen in Wien gehört und spielte versteckt im tiefen Ungarn seine Geige zu Niemandes Lust und Befriedigung, als seiner eigenen. „So aber,“ erzählte er selbst in spätern Tagen, als ihn das Schicksal in die weite Welt geschleudert, „sitzt mancher Liszt und mancher Vieuxtemps in Ungarn auf seinem Gute, von denen Niemand etwas weiß, als Gott und seine nächste Umgebung.“

Schon seit seinem vierten Jahre war eine Geige seine höchste Lust gewesen; von einem Diener hatte er die Anfangsgründe erlernt und hatte dann ohne jede Notenkenntniß für sich gespielt und das Gehörte nachgeahmt, bis in seinem zehnten Jahre ein Verwandter bei zufälliger Anwesenheit in Eduard’s Elternhause voll Erstaunen dieses eminente Talent bemerkt und ihm von Wien einen Lehrer zugesandt hatte. Nach zwei Jahren aber schon hatte dieser, unfähig dem aufstrebenden jungen Violin-Riesen mehr zu lehren, das Haus wieder verlassen, und von dieser Zeit an bildeten nur die Schöpfungen der ersten Geigen-Größen den Leitfaden für des jungen Virtuosen fernere, den größten Theil seiner Zeit ausfüllende Studien. Erst als der nationale Kampf der ungarischen Bevölkerung seine ganze Jugendbegeisterung weckte, fühlte er, daß neben der Musik noch etwas Großes für ihn bestehen könne; der Widerstand, welchen er gegen die thätige Theilnahme an der Bewegung fand, entflammte ihn noch mehr, und als er jetzt seinen Zorn unter den Klängen seiner langjährigen Vertrauten durchgearbeitet, war der feste, klare Entschluß in ihm zur Geltung gekommen, alle Hemmnisse, welche ihm die Familienrücksichten auferlegten, von sich zu werfen und zuerst dem Vaterlande sein Recht zu geben.

Am Nachmittag sattelte er sein Pferd zu einem Spazierritte – kam aber nicht wieder, und einige zurückgelassene flüchtige Zeilen benachrichtigten die bestürzte Mutter, daß er sich dem ersten Husaren-Regimente, auf welches er treffen werde, anzuschließen gedenke. Es war ihr Letzter, und in der Angst ihres Herzens sandte sie eine dringende Botschaft in das Hauptquartier des Obergenerals, welchem sie durch gesellschaftliche Beziehungen in früherer Zeit nahe gebracht worden war. Daß sie ihn dem Dienste des Vaterlandes bei der allgemeinen Begeisterung nicht wieder zu entreißen im Stande war, wußte sie; aber er sollte wenigstens geschont – und ihr erhalten werden.

Eduard war bereits seit drei Tagen eingereiht; statt des lustigen Einhauens aber, von welchem er geträumt, sah er sich weit im Rücken der Armee unter den Rekruten, deren Exercitien seiner Ungeduld eine schwere Aufgabe stellten; da bekam er eines Morgens Befehl, sich mit einer angekommenen Ordonnanz zum Obergeneral zu begeben. Erstaunt und ohne eine Erklärung von dem Ueberbringer der Depesche erhalten zu können, legte er mit diesem die mehrstündige Entfernung zurück und trat endlich in der ganzen Keckheit der Jugend, glücklich, sich in der Nähe des Feldherrn zu wissen, in das mit Officieren gefüllte Zelt des Letzteren. Heitere Laune schien unter den Anwesenden zu herrschen, nur kaum war er gemeldet, als er auch schon vor Görgey’s durchdringendes Auge geführt wurde.

Ein strenger Blick des Obergenerals überflog ihn. „Sie sind aus Ihrem mütterlichen Hause desertirt, Herr!“ redete er ihn an.

„Es wäre in der jetzigen Zeit wohl eher eine Desertion zu nennen gewesen, wenn ich geblieben wäre, General!“ war die unerschrockene Entgegnung.

„Hm, nicht übel! Indessen haben wir wohl zweckmäßigere Fäuste zum Dreinschlagen, als die Ihren, und können Sie viel leicht anders verwenden. Was ist bis jetzt Ihr hauptsächlichstes Studium gewesen?“

„Violinspiel, General!“

Ein halblautes Lachen erhob sich unter den Umstehenden, und selbst Görgey’s Lippen zuckten unter einem halben Spott. „Ich


Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 761. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_761.jpg&oldid=- (Version vom 4.12.2022)