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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Clementine, die Kranke, küßte er mit seinem mildesten Lächeln.

Die Kräfte der Armen hatten gerade so lange ausgehalten; die Mutter mußte sie auf ein Sopha legen, das in der Nähe stand. Der Vater hatte unterdeß dankend auch die liebliche, freundliche Emilie auf die blühenden Lippen geküßt. Seine Gattin kehrte von dem Sopha zurück. Eine helle Thräne stand noch in ihrem Auge. So warf sie sich an die Brust des Gatten. Auch ihm war auf einmal das Herz zusammengepreßt. Aber er war der Stärkere.

„Zeigen wir heute den Kindern nur Glück, Mathilde,“ sagte er ihr in das Ohr, während er liebend sie mit seinen Armen umfing.

Sie zuckte zusammen. „Adalbert!“ rief sie. Sie wollte ihm mehr sagen; es war, als wenn sie es müsse. Sie konnte es nicht. Es war etwas Anderes, als das unglückliche Kind, was sie drückte. Auch dem Director fiel es auf. Er sah sie verwundert, fragend an. Aber sie hatte sich gefaßt. „Du hast Recht,“ flüsterte sie ihm zu. „Stören wir die Freude der Kinder nicht.“

„Du hattest etwas, Mathilde?“ fragte er doch.

„Nein, nein!“

Er fragte nicht weiter. Und auch die Frau wußte zu verbergen, daß sie etwas auf dem Herzen habe. Sie setzten sich an den Frühstückstisch. Die Ordnung des Hauses und ihres Lebens forderte es auch heute. Um acht Uhr mußte der Vater auf sein Gericht, der Gymnasiast in seine Schule. Sie saßen Alle glücklich beisammen. Auch die Mutter vermochte es über sich, nur Freude und Glück zu zeigen. Ihrer Aller Glück und Freude sollte erhöht werden.

Jeden Morgen vor acht holte ein Gerichtsdiener die für das Gericht und dessen Beamte bestimmten Briefe von der Post ab. Die für das Gericht bestimmten brachte er zum Gerichtslocale, die persönlich an den Director gerichteten brachte er diesem in die Wohnung. Er kam auch heute, während sie noch Alle an dem Frühstückstische saßen. Er hatte nur zwei Briefe und übergab sie dem Director und entfernte sich wieder. Er hatte vorher einen heimlichen Seitenblick auf die älteste Tochter geworfen. Nur sie hatte ihn bemerkt und war ihm darauf aus dem Zimmer gefolgt, von den Anderen unbeachtet, denn sie hatten Alle die Blicke auf den Vater gerichtet, dessen Gesicht bei dem Anblicke der Briefe hochgeröthet war. Hätten sie das schöne, freundliche Kind beachtet, sie hätten doch wohl die Blicke von dem Vater ab und nur zu ihr hingelenkt. Einen Augenblick hatte sie sich verbergen können, dann war auch ihr Gesicht von einer hellen Gluth übergossen; dann auf einmal war es schneeweiß geworden. So verließ sie das Zimmer.

Der Director hatte schnell die Aufschrift der beiden Briefe angesehen.

„Aus dem Justizministerium,“ sagte er, indem er den ersten besah. Er erbrach ihn nicht sogleich. „Von meinem Freunde – in –“ besah er erst noch den zweiten. Er nannte den Namen seines Freundes, eines Rathes an dem ihm vorgesetzten Obergericht.

Er erbrach dann den Brief aus dem Justizministerium. Er las ihn. Sie hingen Alle mit forschenden Blicken an seinen leuchtenden Augen, während er las. Es mußte etwas Besonderes in dem Briefe stehen. Sie ahnten was es war; eine große Freude für den Vater, für sie Alle. Sie warteten schweigend, bis der Vater sie ihnen verkünden werde.

„Eine Geburtstagsfreude?“ mußte die Mutter ihn doch fragen.

„Lies, Mathilde.“ Er hielt ihr bewegt den Brief hin.

„Präsident!“ rief sie.

„Ja, der Minister benachrichtigt mich von der Ernennung. Das Patent sei vom Monarchen vollzogen und werde in einigen Tagen nachfolgen.“

Er war zum Präsidenten ernannt, vom Director eines Untergerichts zum Präsidenten eines großen Obergerichts. Das Ziel seines Ehrgeizes war erreicht. Als Assessor hatte er wohl kaum gewagt, davon zu träumen. Auch als Rath noch nicht. Die Präsidenten der Obergerichte waren nächst dem Justizminister die höchsten Justizbeamten des Staats, und es waren nicht viele dieser Stellen im Lande. Die wenigen hatte bisher der Adel weggenommen, und es hatte jedesmal der Connexionen und Intriguen genug bedurft. Als seine ausgezeichneten beamtlichen Eigenschaften ihn zum Director des Kreisgerichts befördert hatten, begann der ehrgeizige Mann den Traum zum Ziele seines Ehrgeizes zu erheben. Für seine sanfte, bescheidene Gattin war es dennoch immer ein Traum geblieben. Auf einmal war jetzt das Ziel erreicht, der Traum zur Wahrheit geworden.

Der Director – noch war ihm sein neues Patent nicht ausgehändigt, und erst dann durfte er Präsident genannt werden – er wußte, eben als ehrgeiziger Mann, seine Freude zu mäßigen. Die weiche Frau war plötzlich heftig zusammengezuckt. Leichenblässe hatte ihr Gesicht überzogen. Sie zitterte.

„Was ist Dir, Mathilde?“ rief der Gatte.

„Die plötzliche Freude, Adalbert.“

Aber sie mußte einen tiefen, schweren Athemzug heraufholen, um die paar Worte zu sprechen. Es war ein schneidender Widerspruch mit diesen. Der Director hatte ihn nicht gewahrt, in seiner Freude und in seiner Liebe zu der Gattin nicht. Er schloß sie in seine Arme.

„Du hast so Vieles entbehren müssen, meine Mathilde. Dein Leben war bisher ein Leben der Sorge und der Arbeit. Ich hatte es als junger Mensch mir anders gedacht; ich hatte gehofft, Dir Tage des Glücks und des Wohlseins bieten zu können. Jetzt werden sie kommen, mein gutes, braves Weib. Jetzt sollst Du Entschädigung, Ersatz erhalten für Alles!“

Er hatte doch die Frau ansehen müssen. Auch die Blicke der Kinder hatten seine Augen auf sie hingelenkt. Sie hatten sich anfangs mit ihm gefreut. Jetzt saßen sie stumm da, fast ängstlich nach der Mutter sehend. Da sah auch er, wie blaß sie noch immer war, wie sie vergebens nach Fassung rang. Er erschrak.

„Um des Himmels willen, Malhilde, was ist Dir?“

Sie konnte ihn nur weinend mit ihren Armen umschlingen.

„Malhilde, ich beschwöre Dich.“

Sie kämpfte noch mit sich. Sie hatte ihm etwas zu sagen, wieder wie vorhin. Sie konnte sich wiederum nicht dazu entschließen.

„Es wird vorübergehen, Adalbert. Ich fühlte mich plötzlich so ergriffen. Es ist mir schon seit einiger Zeit so.“

„Auch das soll jetzt anders werden,“ sagte der Gatte. „Du wirst Dich besser pflegen.“

Er öffnete den zweiten Brief von seinem Freunde, dem Rathe an dem ihm vorgesetzten Obergerichte. Auf einmal erblaßte er. Dann war es, als wenn er seinen Augen nicht traue. Er las den Brief noch einmal; er hatte richtig gelesen. Aber etwas Seltsames, etwas Erschreckentes mußte es sein. Er faltete den Brief zusammen und stand rasch auf. Er war in großer Unruhe und wollte das Zimmer verlassen. Er hatte kein Wort mehr gesprochen. Seine Gattin hatte jede seiner Bewegungen verfolgt, trotz ihrer eigenen Unruhe und Angst. Sie wurde bleicher und mußte aufspringen.

„Adalbert, was ist es? Was hat man Dir geschrieben?“

„Nichts. Es muß ein Irrthum sein,“ sagte er beruhigend.

Aber ihre Angst wurde größer. „Theile es mir mit, ich bitte Dich,“ beschwor sie ihn jetzt.

„Es kann nur ein Mißverständniß sein. Ich versichere Dich, Malhilde.“

„Nein, nein. Du mußt es mir sagen; Du mußt mich anhören – “

Jetzt wollte sie ihm sagen, was sie vorhin nicht hatte über die Lippen bringen können. Aber er war schon fort. Er hatte ihre letzten Worte nicht mehr gehört. Sie wollte in Verzweiflung ihm nacheilen. Da kehrte ihre Tochter Emilie in das Zimmer zurück, und das Kind war geisterbleich und warf mit verstörtem Blick sich in ihre Arme, an das Mutterherz.

„Mutter, ich sterbe!“

Die Stutzuhr in dem Zimmer nebenan schlug acht Uhr. Der Director war schon auf dem Wege zu seinem Gerichte. Der Gymnasiast mußte in seine Schule. Er ging gesenkten Hauptes. In dem Zimmer nebenan rief die Kranke weinerlich herüber: „Mutter, bringe mir Kaffee!“ Sie lag noch dort auf dem Sopha. Mutter und Tochter hatten den Ruf nicht vernommen; aber die beiden kleinen Kinder hatten ihn gehört.

„Bringen wir der armen Schwester Kaffee,“ sagte leise der Knabe zu seiner jüngsten Schwester.

Er selbst schenkte dann eine Tasse Kaffee ein; die kleine Hanna fügte mit ihren zierlichen Händchen Zucker und Milch hinzu. Beide brachten die Tasse der Schwester. Sie gingen auf den Zehen, um die Mutter und die ältere Schwester nicht zu stören. Die Mutter und Emilie hielten sich noch weinend in den Armen.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 771. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_771.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)