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2.

Der Geburtstag des Directors hatte der Familie kaum eine halbe Stunde der Freude geboten. Er war seitdem ein Tag des Schmerzes, der Sorge, der Angst geblieben. Es war in der zweiten Stunde Nachmittags. Die Directorin war mit Emilie allein im Zimmer. Die beiden kleineren Kinder befanden sich in der Kinderstube, und dort war auch die Kranke. Die kleineren Geschwister liebten sie. Sie erzählten ihr und tanzten und sprangen um sie her. Die arme Kranke war zufrieden, wenn sie nur etwas zu sehen und zu hören hatte. Der Gymnasiast Oskar hatte nach dem Mittagessen wieder zur Schule gehen müssen. Er hatte kaum seine Suppe anrühren mögen, da hatte er sich schon wieder still entfernt. Seine Mutter und Emilie hatten mit verweinten Augen, stumm da gesessen; sie hatten gar nichts anrühren können. Emilie hatte nach einigen Augenblicken aufspringen müssen; ein furchtbarer Schmerz hatte ihr einen lauten Schrei ausgepreßt. Sie war in ein Nebenzimmer gestürzt. Die Mutter war ihr nachgegangen.

„Eßt Ihr nur,“ hatte sie zu den anderen Kindern gesagt.

„Oskar, sorge für sie.“

„Was ist es denn, Mutter?“ hatte der erschrockene Gymnasiast gefragt. „Dir und Emilien?“

„Ich kann es Dir jetzt nicht sagen, Oskar. Später vielleicht.“

Sie war bei der jammernden Tochter in dem anderen Zimmer. Sie verschloß die Thür hinter sich.

Der Director war gar nicht zu Tisch erschienen. Er war seit der Morgenstunde, da er so verstört und eilig zum Gerichte ging, nicht zurückgekehrt. Gegen Mittag hatte er durch einen Gerichtsdiener sagen lassen, man solle mit dem Essen nicht auf ihn warten, er habe dringende Geschäfte, die ihn vielleicht bis zum Abend am Gerichte zurückhalten würden.

Die Directorin hatte den Diener gefragt, von welcher Art die dringenden Geschäfte seien. Der Mann hatte es nicht gewußt; er hatte nur sagen können, der Director habe den ganzen Vormittag mit einer Menge von Beamten in den Bureaux gearbeitet. Es sei geheimnißvoll dabei hergegangen, und vor einer halben Stunde sei plötzlich und ganz unerwartet der Präsident des Obergerichts angekommen und habe sich mit dem Director eingeschlossen. Seitdem steckten die Herren Beamten noch geheimnisvoller und leiser die Köpfe zusammen.

Die Directorin war von neuem in große Unruhe gerathen. Sie hatte den Gerichtsdiener warten lassen; sie wollte ihm ein Billetchen an ihren Mann mitgeben. Sie hatte sich an den Schreibtisch gesetzt, schreiben wollen; die Feder war ihr in der bebenden Hand auf und nieder geflogen. Sie konnte keinen Buchstaben auf das Papier bringen. Sie hatte Miene gemacht, den Diener zum Gerichte begleiten zu wollen. Sie hatte ihr bleiches Gesicht, ihre verweinten Augen, ihre zusammengesunkene Gestalt im Spiegel gesehen. Wie konnte sie so sich vor den Leuten sehen lassen? Der Gerichtsdiener war zurückgekehrt. Seitdem hatte sie von ihrem Manne und vom Gerichte nichts wieder gehört.

Mutter und Tochter waren wieder allein. Sie hatten fast den ganzen Morgen zusammengesessen. Die Tochter hatte der Mutter erzählen müssen. Die so oft und so viel geprüfte Frau konnte allein fragen, was sie drückte. Den Schmerz des Kindes mußte sie wissen und theilen, und das Kind mußte sich so das Herz erleichtern.

Was Emilie der Mutter erzählt hatte? Es war eine von jenen einfachen, alltäglichen Geschichten, die jungen, unerfahrenen Mädchen das Herz zu brechen pflegen.

Der Director Heilsberg war als der tüchtigste Gerichtsdirigent in dem ganzen Departement des Obergerichts bekannt. Die jungen Referendarien, die sich zu ihrer künftigen richterlichen Carrière eine Zeitlang bei einem Untergerichte ausbilden mußten, sahen es daher als eine besondere Begünstigung an, wenn sie zu diesem Zwecke dem Gerichte und der Aufsicht des Director Heilsberg überwiesen wurden. Auch der Präsident des Obergerichts hatte ihm seinen Sohn anvertraut, und der junge Mann hatte ein ganzes Jahr unter dem Director gearbeitet. Er hatte die Zeit auch noch zu etwas Anderem zu benutzen gewußt.

Der Referendarius, Freiherr Carl von Senkendorf, war in mancher Beziehung ein ausgezeichneter Mensch. Er hatte einen klaren Verstand, ein gutes, gar weiches Herz, angenehme, seine Manieren, ein sehr einnehmendes Aeußere. Er hatte einen Fehler, sein weiches Herz vergaß die leicht aufgenommenen Eindrücke eben so leicht wieder, und sein Gewissen kümmerte sich eben nicht viel darum. Er hatte als der älteste Sohn des freiherrlichen Präsidenten schon früh in der vornehmen Welt gelebt und zu leben gelernt.

In der kleinen Welt des Städtchens, in dem er unter dem Director Heilsberg arbeitete, war er unter den jüngeren Leuten die bei weitem hervorragendste Erscheinung. Er war also auch die Sehnsucht der jüngeren Damen und für diese der Mütter. Indeß er war auch der Freiherr, der, wie gesagt, schon früh in der vornehmen Welt zu leben gelernt hatte. Als er nach Jahresfrist das Städtchen wieder verließ, um in der Residenz sein großes Examen zu machen, hatte er wohl vielen jungen Damen die Cour gemacht und in manchem Mutterherzen Hoffnungen erweckt. Aber bei dem äußerlichen Courmachen war es geblieben, und seinen Scheidegrüßen folgte keine einzige Hoffnung mehr. So meinte man, so wußte man es nur. Ein einziges Herz wußte mehr.

Emilie Heilsberg war ein Kind, als der junge Baron Senkendorf kam. Er behandelte sie wie ein Kind; sie kam ihm entgegen wie ein Kind, unbefangen, ungezwungen, vertrauensvoll. Sie sahen sich häufig, später fast täglich. Und während sie sich so sahen und sich entgegenkamen und einander behandelten, war Emilie zur Jungfrau geworden. Sie war es geworden, ohne daß sie selbst es wußte. Daß sie auch ein schönes, ein bildschönes Mädchen geworden war, und daß sie das sanfteste und liebenswürdigste Herz von der Welt hatte, wußte sie wohl noch weniger. Der junge Herr von Senkendorf sah das Alles desto mehr, und wie er es sah, fühlte es auch bald sein empfängliches Herz; und das zugleich leichtsinnige Herz war nun zu schwach, manchen Gründen der Vernunft zu widerstehen, Gründen, die ihm klar genug zum Bewußtsein kamen.

Er entdeckte Emilien seine Liebe. In dem Augenblicke wußte das sanfte Kind freilich, daß sie nicht mehr Kind war. Sie fühlte es an jenem unnennbar süßen Weh, das man Liebe nennt. Sie hatte sie auch wohl schon lange im Herzen getragen, ohne daß sie es gewußt hatte. Jetzt wußte sie Alles, und das weichste und liebenswürdigste Kind war zugleich das glücklichste. Doch nein, Alles wußte sie nicht; wie hätte sie sonst so glücklich sein können? Sie kannte nicht den Leichtsinn der Männer.

„Wir müssen unsere Liebe vor Jedermann geheim halten,“ hatte er zu ihr gesagt. „Auch vor Deinen Eltern, selbst dem treuen Mutterherzen mußt Du sie verschweigen. Es ist ein Opfer, das wir nothwendig unserem Glücke bringen müssen. Mein Vater ist ein stolzer und strenger Mann und hat mit mir Pläne für seinen Stolz. Unsere Liebe würde ihnen entgegentreten, jetzt jedenfalls. Er würde mir unzweifelhaft seine Einwilligung versagen; ich solle zuerst an mein Examen denken und an ein Amt, an eine Stellung, in die ich eine Frau hineinführen könne; dann sei es Zeit, an die Frau zu denken. Ich würde ihm nichts darauf erwidern können. Seine Weigerung würde Dich und mich unglücklich machen. So schweigen wir jetzt. Nach einem halben Jahr habe ich, mein Examen gemacht; ein Vierteljahr später werde ich ein Amt haben, und zu derselben Zeit wird Dein Vater Präsident sein, in gleich hoher amtlicher Stellung stehen wie mein Vater. Dieser selbst hat es mir gesagt. Und was will er dann unserer Liebe, unserer Verbindung, unserem Glücke entgegenstellen können?“

Sie glaubte ihm. Er glaubte damals sich selbst. Niemand erfuhr von ihrer Liebe, und sie waren um so glücklicher. Er ging zur Residenz. Er machte ein glänzendes Examen und erhielt wenige Monate später eine Anstellung. Der Justizminister zog ihn als Hülfsarbeiter unmittelbar in sein Ministerium.

Der Director Heilsberg mußte nur noch Präsident werden. Er war es heute geworden. Und die arme Emilie war von dem Gipfel des Glücks in den tiefsten Abgrund des Unglücks gestürzt!

(Fortsetzung folgt.)
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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 772. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_772.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)