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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Die letzten Tage des deutschen Parlaments
Von Moritz Hartmann.
Der Zug nach Stuttgart – Besuch bei Justinus Kerner – Wie der Nervegeischt zusammenstimmt – Schwüle in der Residenz – Die erste Sitzung – Uhland als Redner – Wahl der Reichsregentschaft – Deutschlands Vertreter obdachlos – Noch einmal Uhland – Der Gang zum Schaffote – Das Erbarmen der Soldaten.


Wie herzlich auch die Aufnahme war, welche wir in Heilbronn, wo sich der größere Theil der Abgeordneten sammeln sollte, fanden, wie freundlich man uns überhaupt überall auf würtembergischem Boden aufnahm, so konnte sich wohl doch ein großer Theil unserer Schaar des Gefühles nicht erwehren, daß es zu Ende gehe. Die Pflicht hatte uns die Unternehmung geboten; die Hoffnung saß wohl nur bei Wenigen im Reisewagen: Hundert Kleinigkeiten schienen uns, oder wenigstens mir, in diesem Zustande bedeutungsvoll und auf Auflösung nach allen Seiten hin zu deuten. Fortwährend mußte ich an den Schulmeister gedenken, den wir am selben Tage in einem Gasthause auf badener Gebiete getroffen hatten. Er war sonntäglich gekleidet und machte kein Hehl daraus, daß er dem Großherzog nachziehe, ja er proclamirte es laut, so oft er glaubte, daß Revolutionäre in der Nähe seien, offenbar wünschend, von ihnen seiner großherzoglichen Treue wegen mißhandelt oder zurückgehalten zu werden. Es zog ihn nicht im Geringsten zum Großherzog; er war mit ganzer Seele bei dessen Feinden, und einmal, in einem ekstatischen Zustande, stieß er ein brünstiges Gebet für die Revolution und die Verfassungskämpfer aus. Weinend aber versicherte er, es bleibe nichts Anderes übrig, als mit dem Großherzog Frieden zu machen, weil Alles verloren sei. Dieser Schulmeister war mir das trübe Bild des deutschen Volkes.

Im Gasthause zu Heilbronn sahen wir zwei reisende junge Mädchen, deren eines als Mann verkleidet war. Höchst wahrscheinlich auf der Flucht und schutzlos, wie sie waren, schufen sie sich auf diese Weise einen fingirten Schutz. Sie hatten nichts Abenteuerliches in Wesen und Benehmen, und man sah es ihnen an, daß nur die Noth sie zu solcher nicht ganz weiblichen List gezwungen hatte. Alle Anwesenden, sammt den Wirthsleuten, gingen stillschweigend auf ihre Absichten ein, obwohl Niemand auch nur einen Augenblick getäuscht war. Romantik ist eine schöne Sache, wo sie einem aber auf solche und ähnliche Weise im Leben entgegentritt, da deutet sie immer auf Zustände, wie sie nicht sein sollten. Ich gestehe, daß die Serenaden und feurigen Ansprachen, die uns in Fülle zu Theil wurden, wenig zu meiner Erheiterung beitrugen; auch Heinrich Simon war sehr nachdenklich, nur Jacoby bewahrte jene unerschütterliche und erstaunliche heitere Ruhe, welche sagt: „impavidum ferient ruinae“. Rappard saß auf seiner Stube und zerstreute sich mit mikroskopischen Untersuchungen. Glücklicherweise waren diese meine speciellen Reisegefährten so geartet, daß sie selbst in solchen Zeiten sich den Sinn für alles das bewahrten, was in ruhigern Jahren ihrem Geiste, ihrem Gemüthe und Schönheitsgefühle wohlgethan. Mit Jacoby konnte man immer von Kant und überhaupt von Philosophen und Dichtern sprechen; von Heinrich Simon erinnere ich mich, daß er mir selbst auf dieser Reise, da doch unsere Geister so sehr eingenommen und beunruhigt waren, sehr ausführlich über seinen Landsmann, den alten Dichter Logau sprach, den er bis in’s Einzelnste und zum großen Theile auswendig konnte und an dessen letzter Ausgabe er sein Theil hatte. Ja, er lieferte mir sogar einen Lustspielstoff aus Logau’s Jugendleben.

Es war mir nicht schwer, solche Reisegefährten zu einem Besuche bei Justinus Kerner in Weinsberg zu bewegen, und dieser Besuch bildet in jener bewegten und in unsern Gemüthern noch mehr als äußerlich ruhelosen Zeit eine schöne Idylle. Weinsberg war mir als sagenhafter Boden der Weibertreue, als geschichtlicher des Bauernkrieges und als Aufenthalt eines lieben Dichters und sonderbaren Magiers interessant und bis zu einem gewissen Grade heilig als ehemaliger Aufenthaltsort meines theuren Nicolaus Lenau, der mir in schönen Jugendtagen oft von Weinsberg erzählt hatte. Es war ein herrlicher Sommernachmittag, an dem wir durch das schöne Land dem schönen Städtchen entgegenfuhren; aber ich will Fahrt und Land und Kernerhaus nicht näher beschreiben, wohl fühlend, daß sich meine Beschreibung dem „Besuche bei Justinus Kerner von David Strauß“ nicht im Entferntesten nähern würde.

Der alte Magus empfing uns überaus freundlich, und ich hatte die schmeichelhafte Genugthuung, die ich nicht im Geringsten erwartet hatte, mit meinen Versen von ihm gekannt zu sein. Seine Erscheinung machte mich anfangs etwas stutzig, denn er sah gar nicht so aus, wie ich mir einen Geisterseher vorgestellt hatte. Groß, breitschulterig und dick, wie er war, begriff man es nicht, wie er in die Gesellschaft durchsichtiger, körperloser Geister paßte, und wie sich in solch derber Körperlichkeit eine Phantasie eingenistet haben sollte, die so phantastisches Zeug an’s Tageslicht brachte und selber daran glaubte. Hatte man sich aber nach einiger Zeit an diese Wohlbeleibtheit gewöhnt, und brachte man es dahin, von dieser zu abstrahiren und nur den großen Kopf mit den langen Haaren und den halb erloschenen Augen, über denen sanfte Dämmerung schwebte, für sich allein zu betrachten: dann allerdings konnte man das Resultat der Betrachtung mit der vorgefaßten Vorstellung von Justinus Kerner in Einklang bringen. Was uns rasch für ihn einnahm, war der Umstand, daß er sich sofort als unsern Gegner auf politischem Felde offenbarte und daß er uns trotzdem mit so großem Wohlwollen entgegenkam, als ob nichts trennend zwischen uns stände. Ach, wie selten waren in jener Zeit solche Erscheinungen! Selbst wenn er uns ironisirte mit unsern Bestrebungen, war es, als ob er uns und die Leiden, die uns erwarteten, nur beklagte. Von Ankage, von Verdächtigung unserer Absichten, war in Wort und Benehmen keine Spur. Doch hing er als veralteter Romantiker mit ganzer Seele am Alten. Bei Erwähnung Böhmens brach er in ein Lob des Katholicismus aus und rühmte die Zeit, da die Welt von Mönchen angefüllt war. Dieser Mann, den man immer mit Ludwig Uhland zusammen nannte, war ganz und gar das Gegenstück dieses klaren, ruhevollen, edeln Geistes, der immer auf festem, irdischem Boden stand, an Leid und Freud’ der Gegenwart Antheil nahm, sich über Vergangenheiten nicht täuschte und die Zukunft nach Kräften gut und schön mit aufzubauen strebte, und wahrhaftig, es wird doch Niemandem einfallen, diesen Ludwig Uhland als Romantiker im schönsten Sinne des Wortes unter Justinus Kerner zu stellen.

Nachdem wir in seinem reizenden Hause einige Zeit gemüthlich verplaudert hatten, führte uns Justinus Kerner durch seinen Garten in den historischen Thurm, welcher während des Bauernkrieges allerlei Gräuel gesehen und in dessen Fenstern jetzt die berühmten Kerner’schen Aeolsharfen wie Geister über Gräbern Klagelieder aushauchen. Auf dem Wege dahin stützte sich Justinus auf meinen linken Arm und sprach von der Glückseligkeit des Klosterlebens, dann mit einem Male hielt er inne, drückte meinen Arm fest an seine Seite, ergriff meine Hand und fragte, indem er sein Gesicht dem meinigen näherte: „Fühlst Du nit, wie unser Nervegeischt zusammenstimmt?“ Ich bestätigte das; er war darüber voller Freude, bedauerte, daß ich ihn wieder verlassen solle, da offenbar zwischen uns ein inniger Rapport bestehe, und rieth mir am Ende, von den revolutionären Wegen abzulassen. Dann, während sein Sohn Heinrich Simon in einen Thurm führte, wo junge Mädchen für den Fall eines Aufstandes Patronen machten, zeigte mir Justinus Kerner die seinem Hause gegenüberliegende kleine Wohnung, in welcher Lenau gehaust hatte und in der noch sein melancholisches Portrait hing. Es war in dieser Stube, unter diesen traurigen Augen noch trauriger, als in jenem Thurmgemache, das die Aeolsharfen mit ihren geheimnißvollen Klagen erfüllten.

Die Stimmung, in der wir das Haus des Magus verließen, war im Ganzen eine gemüthliche; seine feine Ironie oder Ironisirung der revolutionären Bestrebungen war um so weniger verletzend, als er, sobald man mit ihm discutiren wollte, zugab, daß sein Conservatismus rein Gemüthssache sei, da er an mehreren Gliedern der königlichen Familie mit großer Freundschaft hänge, und daß er in der Theorie eigentlich gar nichts gegen uns einzuwenden habe und uns Recht geben müsse. Ein einiges, großes und freies Deutschland wäre gewiß eine sehr schöne Sache, und man müßte aller Poesie, jedes Edelsinnes baar sein, wenn man für diese Idee nicht empfänglich, ja begeistert wäre; aber die Sache, wie die Dinge einmal ständen, sei zur Zeit nicht ausführbar, und er persönlich hätte zu großes Mitleid mit denjenigen, die, wenn man es erreichte, darunter zu leiden hätten. Das sei allerdings nicht gesprochen, wie ein Politiker sprechen sollte, aber er sei ja auch kein Politiker und er wolle sich als alter blinder Mann auch

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 40. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_040.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2018)