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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

„Ein Heer von Candidaten,“ erzählte er mit Humor, „stellte sich nach unserm Zeitungsinserat. Unter ihnen besagte Günther. Auf meine Frage, woher sie sei, erhielt ich die Antwort: aus B… Das rief mir natürlich die Erinnerung an das benachbarte Fürstenschloß wach, wo ich als Gast so manche herrliche Woche verlebte. Mit dem Städtchen selbst zwar und seinen ehrsamen Bewohnern kam ich niemals in Berührung, aber das Mädchen war nun einmal aus der lieben Gegend, hatte ein ehrliches Gesicht – enfin, ich theilte ihr die Stunde zu.“

Doctor Michaelis, der sich wieder gefaßt und Platz genommen hatte, reichte unwillkürlich über Theegeschirr und Silberaufsätze hin dem treuherzigen Graubart die Hand.

Eh bien, Herr Doctor,“ sagte die Baronin. „Sie sehen, daß ich im Hause keine Stimme habe. Meine Wahl war es nicht.“

„Sind Sie mit dem Mädchen unzufrieden?“ fragte Michaelis betroffen.

„Ja.“

„Aber liebste Emma!“

„Ich bleibe dabei,“ entgegnete die Baronin. „Bevor Mademoiselle Günther Lehrerin ward, spielte unsere Marie einige Piècen aus Martha und Stradella allerliebst, jetzt hör’ ich nie mehr eine Melodie, sondern immer und ewig die Scala und andere bloße Uebungen. Außerdem ist mir der Mademoiselle Charakter nicht sympathisch. Sie ist für Marie eine zu passive Natur. Ihre Melancholie, fürchte ich, steckt mein Kind an.“

„Aber Emma! Sie spricht ja in den wenigen Stunden nur, was Bezug auf’s Clavier hat.“

Eh bien, warum spricht sie so wenig? Für ein Mädchen ohne Familie und Vermögen paßt es sich nicht, die Schwermüthige zu spielen.“

„Wir wissen nicht, welchen Kummer sie hat.“

„Eine Person ihres Standes muß ihren Kummer zu Hause lassen können. Die zweite Hälfte der Stunde ist dem Gesang gewidmet. Wie oft habe ich Mademoiselle gebeten, meine Tochter französische Lieder zu lehren, wie selten erfüllt sie meine Wünsche! Sie hat Ein Lied, das mich zur Verzweiflung bringt, das sie fast in jeder Stunde – da – c’est ça!“ Die Baronin unterbrach sich plötzlich und wies nach oben.

Das Exercitium im ersten Stock hatte aufgehört, und eine geübtere Hand spielte. Dann sang eine Mädchenstimme:

Noch nichts von winterlicher Trauer!
Noch einmal warmer Sonnenschein
Und düftetrunkne Ahnungsschauer,
Noch einmal laß es Frühling sein!

Die schwergebeugten Wipfel warten
Der Hand noch, die die Früchte bricht;
Die Sonnenblume kehrt im Garten
Ihr Antlitz sehnend noch zum Licht.

Noch immer hör’ ich den gewohnten
Gesang der Vögel im Geheg,
Und Schatten gaukeln wie vor Monden
Auf dem verlaßnen Waldesweg.

Und geh ich Nachts im Sternenscheine
An Deinem Hause still vorbei,
Regt sich die Sehnsucht, und ich meine,
Daß es noch immer Frühling sei!

„Arme Amanda!“ flüsterte Michaelis, als die beseelte Klage verstummt war.

Der gutmüthige Baron aber sagte gerührt: „Parbleu – entschuldige, Emma! – mir gefällt das Lied, und das Mädchen hat einen Vortrag, der mich alten Soldaten zum Weinen bringen könnte!“

Die Generalin zuckte die Achsel. „Kennen Sie Mademoiselle Günther vielleicht näher?“ wandte sie sich gleichgültig an Michaelis.

„Zu dienen, meine Gnädigste,“ erwiderte dieser mit seinem feinsten Lächeln um den Mund. „Fräulein Günther ist meine Mündel.“

Nun war es an der Baronin, verlegen zu werden.

Aber der Arzt brachte sofort das Gespräch auf einen andern Gegenstand und schien für die Fortsetzung der Gesangsübungen über ihnen keine Aufmerksamkeit zu haben. Bald darauf empfahl er sich. –

Ein Garten trennte das Haus von der Straße. Diese zog sich den königlichen Park entlang. Wenige Schritte vom Gartengitter mündete eine der zahlreichen Querstraßen. An dieser Ecke machte Doctor Michaelis Halt.

Er harrte nicht lange. Bald wandelte ihm die wohlbekannte, zierliche Mädchengestalt entgegen. Ihre Kleidung war von dunkeln Farben und ärmlich; das Gesicht verdeckte der Hutschleier. Sie schritt ohne Hast, aber auch ohne Interesse am Straßengetriebe dahin.

Michaelis trat ihr in den Weg.

„Amanda!“ sagte er tief bewegt und hielt dem Mädchen die Hand entgegen. Ihre Augen blickten erschrocken unter dem Schleier auf, dann hörte man einen lauten Aufschrei, ein leises Weinen, und schluchzend küßte Amanda die Hand des Greises.

(Schluß folgt.)




Kaulbach und sein Carton „das Zeitalter der Reformation“.

Mit dem Carton „das Zeitalter der Reformation“ hat der geniale Meister Kaulbach den berühmten Cyklus seiner Wandgemälde in dem Treppenhause des neuen Berliner Museums in würdigster Weise abgeschlossen. Diese Bilder gehören unstreitig nicht nur zu den schönsten Zierden der preußischen Hauptstadt, sondern zu den bedeutendsten Meisterwerken der neueren Kunst. In bewunderungswürdiger Weise hat in ihnen Kaulbach die ihm gestellte große Aufgabe gelöst, eine fortlaufende culturhistorische Entwicklung der europäischen Menschheit darzustellen. Sage und Geschichte hat er dabei in ihren Tiefen erfaßt und die zu Grunde liegenden Ideen vollkommen erschöpft. Es ist der philosophische und historische Geist unseres Jahrhunderts, der aus diesen Wandgemälden zu uns spricht, verkörperte Gedanken und in Farben strahlende Weltanschauung. Die abstracten Ideen des Philosophen erscheinen hier vor uns in gestaltenreicher Fülle, in concreter Lebendigkeit; es sind keine bloße Schatten, keine gewöhnlichen Allegorien, wie sie das Rococo-Zeitalter schuf, sondern ein eigenes Genre von historischen Culturbildern, welche für das Genie und die Originalität ihres Schöpfers ein glänzendes Zeugniß ablegen. So malte Kaulbach den „Babylonischen Thurmbau“, indem er den tieferen Sinn der heiligen Sage, das große Ereigniß der „Völkerscheidung“, zur vollkommenen Anschauung brachte; so erblicken wir in der „Blüthe Griechenlands“ die tiefste Auffasung des hellenischen Geistes und seiner Bedeutung für die Menschheit. Die „Zerstörung Jerusalems“ ist weit mehr als ein bloßes Schlachtengemälde, indem sich in der Gruppe der „ausziehenden Christen“ ein neues weltgeschichtliches Moment offenbart, während in der berühmten „Hunnenschlacht“ und in den „Kreuzfahrern“ die Völkerwanderung und die folgenreiche Berührung zweier Welttheile sich uns unwillkürlich aufdrängen. Jedes dieser großartigen Bilder ist in gewissem Sinne zugleich „exoterisch“ und „esoterisch“, ebenso für das sinnliche wie für das geistige Auge des Beschauers berechnet, historisch und symbolisch, je nach dem Bildungsgrade und der Betrachtungsweise des Beurtheilenden. Die Ereignisse und Gestalten sind Träger der großen Ideen und doch trotz dieser typischen und philosophischen Bedeutung darum nicht weniger concret und plastisch aufgefaßt.

Derselbe tiefere Ideengang charakterisirt den neuesten Carton des genialen Künstlers; ja man könnte ihn gewissermaßen als die höchste Blüthe dieser eigenthümlichen Richtung bezeichnen, als den schönsten Schlußstein der culturhistorischen Weltanschauung auf dem Gebiete der bildenden Kunst. Mit vollem Bewußtsein hat Kaulbach das „Zeitatter der Reformation“ in seiner weitesten Bedeutung aufgefaßt und über die engen Grenzen der kirchlichen Kämpfe herausgerückt. Für ihn ist die Reformation eine weit größere und allgemeinere, indem er das Wiedererwachen der ganzen Menschheit, ihre Befreiung aus den Banden des Mittelalters, die Auferstehung des classischen Alterthums, die Entdeckung Amerikas, die Belebung

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 52. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_052.jpg&oldid=- (Version vom 5.11.2022)