Seite:Die Gartenlaube (1863) 090.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Aber der Adel seines Landes fiel von ihm ab, und die Folge dieses Verraths war die schreckliche Verwüstung Hessens durch Tilly. Die Zerstörung und das Blutbad Mindens stehen als Schandpfahl in der Geschichte, sowohl der Mordbrenner und Mörder, als der Feiglinge, die ihren muthigen Herrn verließen und sich nicht wehrten. Moritz sah sich genöthigt, zu Gunsten seines Sohnes Wilhelm 1627 abzudanken, und starb fünf Jahre später in Armuth und Gram zu Eschwege, aber froh gerührt von des großen Schwedenkönigs aufgehendem Glanzgestirn, das ihn zu rächen versprochen hatte.

Ein eben so ehrenhafter charakterfester und tüchtiger Regent war sein Sohn Landgraf Wilhelm V. der Beständige, der einzige deutsche Fürst, der dem zur Rettung der Geistesfreiheit herbeigeeilten Schwedenkönig fest und muthig die Hand zum Bunde reichte, aber schon fünf Jahre nach dessen Tode, erst 35 Jahre alt, der vom wilden Kriegsleben hervorgerufenen Lungenkrankheit erlag, während sein Land von der siegreichen kaiserlichen Soldateska cannibalisch mit Feuer und Schwert verwüstet wurde. Doch nun trat seine Gemahlin als Schutzgeist des Landes auf, jene zweite heilige Elisabeth, die in der hessischen Geschichte und im Volksandenken gleich unsterbliche Landgräfin Amalie Elisabeth, die große Vormünderin-Regentin, der es Hessen-Kassel zu verdanken hat, daß es überhaupt noch ein Land ist. Als Vormünderin ihres Sohnes, des nachherigen Landgrafen Wilhelm VI., in der schlimmsten Zeit, welche Deutschland betroffen, unermüdlich thätig, umsichtig, groß, zwang sie ihren politischen Feinden Achtung ab und hat bei Mit- und Nachwelt das ehrenvolle Zeugniß erworben, daß sie nicht nur eine der ausgezeichnetsten politisch weisesten Fürstinnen, sondern auch eine der edelsten und hochsinnigsten Frauen gewesen. Wahrlich eine deutsche Frau, werth von den größten deutschen Dichtern gefeiert und verherrlicht zu werden!

Nie ist aber auch eine Fürstin treuer und herzinniger von einem deutschen Volksstamme verehrt und geliebt worden, als Amalie Elisabeth von ihren Hessen. Ihr ganzes seelisches Wesen spricht sich in einer von ihr in die Martinskirche in Kassel, in der sie begraben liegt, gestifteten Votivtafel aus:

„Beste Bürger!

Zur Ehre des höchsten Gottes lasse ich Euch dieses Zeichen und Ausdruck meines Wohlwollens zurück, weil die wahre Liebe sich bildlich nicht darstellen läßt, die ich zu Euch im Herzen trage.

Lebet glücklich! Sendet Eure Gebete zum Himmel für das Wohl Eurer Fürsten, damit unter ihrer gerechten Regierung Euch nichts fehle zum glücklichen Leben!“

Auch ihr Sohn war ein wackrer Regent, doch starb auch er, wie sein Vater, erst 34 Jahre alt, und seine Witwe Hedwig Sophie von Brandenburg wurde eine zweite wohlthätige Vormünderin-Regentin des hessen-kasselschen Landes.

Ihr Sohn ist nun endlich der Landgraf Karl, den wir in der Ueberschrift dieses Artikels meinen, wiederum einer der ausgezeichnetsten Fürsten Deutschlands, der im Gegensatze zu den kurzen Regierungen seines Vaters und Großvaters eine der längsten, eine dreiundfünfzigjährige (1677–1730) geführt, und dessen merkwürdiges Thun und Treiben sich im Andenken des hessen-kasselschen Volks sehr lebendig erhalten hat. Noch heut zu Tage erzählt der achtzigjährige Bauer der hessischen Hochebene mit großem Wohlbehagen seinen staunenden Enkeln die seltsamen Geschichten vom Landgrafen Karl, wie er sie selbst von seinem Großvater vernommen. Denn merkwürdiger Weise lebt dieser in so vieler Hinsicht merkwürdige Fürst gerade unter den Bauern seines Landes in großer Farbenfrische fort, eben weil er ein spezieller Bauernfreund gewesen und unter ihnen einen Liebling gehabt hat. Aber Karl war nicht nur ein Freund und Wohlthäter des Landvolks, er war auch ein tüchtiger, einsichtsvoller Regent und ein wohlwollender, kenntnißreicher, geistig vielfach hochbegabter, ungemein thätiger und Wissenschaft und Kunst eifrig fördernder Fürst, dem Kassel seine höchste Blüthenzeit verdankt.

Eine falsche Vorstellung von Fürstenwürde und -Größe hatte Karl, aus der das ganze Unheil seines Landes emporgewachsen ist; es war die krankhafte Anschauung seiner Zeit, die ihn bewältigte, daß Luxus, Pracht, Pomp nothwendige und unerläßliche Attribute der Fürstenherrlichkeit seien, und der ihm innewohnende rastlose Trieb, sich in ganz besondrer Weise auszuzeichnen, artete zur krankhaften Sucht aus, alle nur irgend aufzutreibenden Sonderbarkeiten in Natur, Kunst, Industrie etc. anzuhäufen. Aus diesem Triebe sind die Wasserkünste der Wilhelmshöhe (damals Karlsberg oder Winterkasten genannt), die großartigsten und berühmtesten der ganzen Welt, hervorgegangen, aus ihm ist das große Kunsthaus zu Kassel, dieses in seiner Art einzige Aggregat von Kunstgegenständen, Curiositäten und Bizarrerien aller Art, entstanden. Aber der Fürst des kleinen Landes wurde von diesem ausgearteten Triebe auch angespornt, Städte zu bauen, und Karlshafen giebt davon Zeugniß.

Zu all diesen prächtigen Dingen brauchte er Geld und immer Geld, und dieses stete Geldbedürfniß, aus jenem Triebe entsprungen, machte ihn zum Seelenverkäufer seiner Landeskinder. Hätte er, wie sein Ahn Wilhelm der Weise, die zinnernen Teller und was damit zusammenhängt, in Ehren gehalten, und wären seine Nachfolger ebenfalls so klug gewesen, dem Beispiele des Weisen zu folgen, es stände in Hessen-Kassel besser um Land, Volk und Fürsten. So hat es ein böses Verhängniß gewollt, daß es gerade der thätige, kenntnißreiche, wohlwollende, einsichtsvolle, langregierende Herr war, unter dessen Regierung der Silberblick der Hessengeschichte sich zeigt, daß gerade dieser Karl es sein mußte, der die erste große, mit nichts zu sühnende Sünde am Hessenvolke beging, die schmachvolle, unselige, als böses Gift in den Volksadern fortschleichende Verschacherung der wehrbaren Jugend seines Volks. Ja gerade dieser feingebildete, humane Landesfürst, der die von dem treulosen Ludwig XIV. von Frankreich ausgetriebenen Protestanten aufnahm und ihnen die vier neuen Straßen der Ober-Neustadt in Kassel erbaute, der ebenso den aus der Pfalz von der neuen Herrscherfamilie (der katholischen von Neuburg, nach Aussterben der protestantischen von Simmern) verjagten deutschen Protestanten Heimath und Heerd gewährte, dieser selbe Fürst verkaufte schon 1687 eintausend Stück seiner Landessöhne an die Republik Venedig zum Krieg gegen die Türken in Morea, um mit dem dafür erhaltenen Gelde seinem Luxustriebe zu genügen. Von dem genannten Jahre datirt die große hessische Blutschuld, die seit 175 Jahren giftige und faule Früchte genug getragen hat, und an der das Dichterwort in Erfüllung gegangen ist: – „alle Schuld rächt sich auf Erden.“

So bildet Landgraf Karl den Höhenpunkt der hessischen Fürstengeschichte. Bis zu ihm ist sie eine glänzend aufsteigende Linie mit wenigen und unbedeutenden Einbiegungen, zusammengesetzt aus einer Reihe leuchtender Fürstengestalten, Männern und Frauen, beide groß und herrlich, lauter ebenbürtigen Enkelkindern der heiligen Elisabeth und mit ihrem Segen begnadigt, würdig, daß ihre Bilder in einem deutschen Pantheon aufgestellt würden.

Nach dem Jahre, welches den Anfang der Blutschuld bezeichnet, beginnt erst leise, dann allmählich stärker die Einbiegung der Curve, bis sie tiefer und tiefer hinabsteigt. Als Landgraf Karl einmal Blutgeld geschmeckt hatte, wurde er, von seiner Baulust und seinem Curiositäteneifer angestachelt, immer lüsterner und begieriger darauf, und das zuströmende Geld fachte die Leidenschaften in ihm, statt sie zu befriedigen, nur noch heftiger an. Im spanischen Erbfolgekriege verkaufte er 9000 Landessöhne an die Seemächte (1702), vier Jahre später 10,500 Mann zum Gebrauch in Italien, endlich nach dem Utrechter Frieden (1713) nochmals 12,000 Hessen an England, welche mit ihrem Blute das englische Uebergewicht in Europa erkämpfen und befestigen mußten. Bei der Thronbesteigung des Königs Georg II. von Großbritannien (1727) stellte sich das überraschende Ergebniß heraus, daß der Landgraf Karl von Hessen-Kassel aus der englischen Staatskasse 240,000 Pfund Sterling (1,680,000 Thlr.) jährlicher Subsidiengelder für gelieferte Soldaten bezog. Davon sind die prächtigen Wasserkünste gebaut und die Curiositätensammlungen angelegt worden.

Und das that ein volksfreundlicher Fürst. Welch ein bizarrer Widerspruch! Wie kann man einem Volke freundlich gesinnt sein und es wie Schlachtvieh verkaufen! Aber das ganze achtzehnte Jahrhundert ist voll solcher Widersprüche und schroffer Gegensätze. Die Zeit liegt seit Jahrhunderten an der einen großen Lüge krank, daß die ungeheure Mehrheit der Menschen für die Befriedigung selbstischer Zwecke einer kleinen Minderheit da sei, und bis heute hat sie trotz aller Kämpfe und Krämpfe noch nicht von diesem verderblichen Wahne genesen können, welcher der Vater aller andern unzähligen Widersprüche und Unzulänglichkeiten ist.

Von Landgraf Karl’s wunderlicher Volksfreundlichkeit hat sich ein Beispiel als Sage im Volksmunde lebendig erhalten: sein eigenthümliches Verhältniß zu dem Bauer Hans Hooße zu Leimbach im Antriftthale, eine Stunde von der Festung Ziegenhain.

Dieser Hans Hooße, ein an Körper und Geist kräftiger

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 90. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_090.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)