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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Diese neue Welt liegt nämlich, mit einer einzigen kleinen Ausnahme, unter Wasser und ist nach der Bank von Neufundland, wo alle Jahre über 50,000 Menschen in mehr als tausend Schiffen vom Mai bis October für Millionen Thaler Schätze fischen, der reichste Tummel-, Spiel- und Tanzplatz aller Arten von Bewohnern des atlantischen Meeres. Hier lieben und laichen, leben und leuchten des Oceans Ungeheuer, Leckerbissen, Licht-, Heiz- und Schmierlieferanten in millionenfacher, wimmelnder Fülle vom Walfische an bis zum Hering, der Dorsch und der Delphin, der Kabeljau und der Klippfisch, der Stock- und der Stichfisch, die Phocäne und des Meeres Hyäne, der Hai, und fressen sich gegenseitig auf millionenweise und pflanzen sich fort in Billionen und jagen einander in Liebes- und Mordlust und schießen durch die Massen verfolgt und verfolgend und springen empor über das grimmige Gewälze der Wogen einem gefräßigen Feinde unten aus den Zähnen, um in dem Schnabel eines der zu Tausenden über ihnen kreisenden und kreischenden geflügelten Seeräuber unterzugehen.

Diese neue unteroceanische Welt ragt mit einem einzigen Felsenkegel bei ruhiger See höchstens 25 Fuß aus dem Wasser empor, im Sturme aber oft gar nicht, da die wallenden und donnernden Wogenberge darüber hinwegrollen und das Schiff des Unerfahrenen oder Verschlagenen zerschmettern. Dieser unbedeutende feste Haufen in dem unabsehbar umher ruhelosen Elemente sieht unheimlich gespensterhaft aus und hat in seiner stummen, stumpfen Einsamkeit, weiß oder kahlköpfig, wie er in der Regel emporragt, etwas spukhaft Ungethümliches. Die weiße Perrücke oben besteht aus Guano, da die umherkreischenden Seevögel hier den einzigen Ruheplatz finden und ihn oft doppelt und dreifach, auf einander sitzend und sich gegenseitig verdrängend, besetzen. Der Kegel oben ist stumpf, doch ist es noch Niemandem gelungen, ihm nahe zu kommen, geschweige ihn zu besteigen. Die Engländer nennen ihn „Rockall“ (Felsenall, lauter Fels), und das Wort ist in dem Munde der Meeresfischer und auf der Zunge von Compagnien, die hier im Ganzen und Großen fischen wollen, bereits eins der volksthümlichsten und verheißungsvollsten geworden.

Der Rockall-Kegel steht unheimlich in der ruhelosen Wüste des atlantischen Oceans, aber er ist ein freundliches Merk- und Wahrzeichen der Natur, um auf die unermeßlichen Schätze um sich herum aufmerksam zu machen.

Die Bank von Rockall ist eine der merkwürdigsten geographischen Entdeckungen unserer Zeit genannt worden. Sie ist es aber noch mehr für Handel und Wandel Europas, besonders für die Entwickelung Deutschlands in seinen oceanischen und Flottenbestrebungen, wenn es endlich einmal einen Wink verstehen und wirklich zugreifen lernen sollte. Die Bank von Rockall ist jetzt der Europa nächste Liebes- und Laich-Platz der atlantischen Meeresbewohner. Diese haben bekanntlich keine festen Wohnsitze und ziehen, ohne Wanderbücher, ganz nach Belieben oder Instinct (ein Wort für Natur- und Willensgesetze, die wir nicht kennen) in der weiten Welt der Wasser umher, unternehmen aber alle Jahre zu bestimmten Zeiten ungeheuere, tausendmeilige Wanderungen in solchen dichten Massen, daß sie sich oft, wie z. B. die Heringe, förmlich aus dem Wasser herausdrängen. Der „Instinct“, der sie dabei treibt, führt und leitet, ist uns im Wesentlichen unbekannt. Nur so viel gilt als ausgemacht, daß sie sich bestimmte günstige Plätze für Fortpflanzung aussuchen. Dergleichen Laichbänke kamen in früheren Zeiten oft ziemlich häufig in großer Nähe der europäischen Küsten vor. Diese sind aber alle aufgegeben worden, und die Rockall-Bank ist jetzt die uns nächste und nach allen bisherigen Ermittelungen eine fabelhaft ergiebige, da sie den verschiedensten Arten kostbarer Fische als Fortpflanzungs-Asyl dient. Der kiesige, sandige Boden mit vielen Hebungen, Höhlen und Schlupfwinkeln, auch wahrscheinlich mit viel zoophytischer und sonstiger Nahrung (da sie auch von einander leben) mag ihnen so günstig und dabei so geräumig erschienen sein, daß sie diese Stätte wohl nicht so leicht wieder aufgeben werden.

Französische und besonders holländische Fischer haben die Rockall-Bank wohl schon längere Zeit als besonders reiches See-Erntefeld gekannt. In Amsterdam soll es Seekarten geben, auf denen die besonders fetten Stellen von Rockall durch feingezeichnete Buysen oder holländische Seefischerboote markirt sind. Eigentlich und amtlich entdeckt wurde die neue Reichthumsquelle erst durch einen Leitartikel der Times vom 30. Juli 1861. Da wurde erzählt, wie zwei englische Seefischboote oder „Smacks“: „Resolution“ mit dem Capitain Gardener und „Adventure“, Capitain Rhodes, am 18. Juni nach sechswöchentlichen Versuchen, zwischen Island und den Far-Inseln etwas zu fangen und zu fischen, leer auf der Nord-Insel gelandet seien. Verdrießlich über ihr Mißgeschick beriethen die beiden Capitaine, was sie nun wohl vornehmen könnten. Dabei fiel dem Gardener ein, daß er einmal vor einer Mandel Jahre Rockall rühmen gehört habe: dort gäb’ es Stockfische groß wie Esel und in solcher Menge wie Besinge oder Heidelbeeren im Walde. Er habe zwar schon früher manchmal daran gedacht, sich aber immer vor der unheimlichen Einsamkeit am Rockall gefürchtet. In Gesellschaft möcht’ er aber wohl sein Heil dort versuchen. Kurz, die beiden Capitaine unternahmen eine Rockall-Expedition in Gesellschaft, gingen am 2. Juli in See und kamen schon am 13. mit 27 Tonnen oder 59,000 Pfund der besten und größten Stockfische zurück. Sie hatten Fische bis zur Schwere eines Centners, also mächtige, starke Riesen, die zum Theil die Netze durchgerissen hatten, um, befreit, sich von kornblumenblauen Hais ganz und ungekaut verschlingen zu lassen. Man hatte die Netze blos eben auszuwerfen und wieder einzuziehen brauchen, um sie voll zu finden und die ganze Ernte auf der Nord-Insel für etwa 1000 Thaler zu verkaufen, einen Preis, der durch Zwischenhandel und auf englischen Märkten sich mindestens auf das Doppelte steigerte. Bei dem Schlachten und Zubereiten erwiesen sich die umher kreischenden Seevögel so zahm, daß sie zu den Leuten auf die Schiffe kamen und ihnen die Abfälle beinahe aus den Händen nahmen, Beweises genug, daß sie noch nichts von Menschen und ihrer Gefährlichkeit wissen und die ganze Rockall-Bank wirklich eine neue Welt für menschlichen Unternehmungsgeist ist.

Die Capitaine gingen natürlich bald zum zweiten Male und holten sich ebenso schnell ähnliche Ernten. Vielleicht sind sie, und mit ihnen Andere, seitdem öfter aus- und eingelaufen. Wenigstens sind die beiden Helden in den englischen Seefischerstädten als Entdecker eines neuen, unerschöpflichen See-Erntefeldes ebenso populär geworden, wie jemals Wellington, und in Grimsby und anderen englischen Küstenstädten umjubelte die Bevölkerung den Capitain Rhodes mit enthusiastischen Vivats und Hurrahs, so oft er sich sehen ließ. Oeffentliche Orte, Bier- und Kaffeehäuser, nach Rhodes oder Rockall getauft, wie man in Berlin Straßen und Orte mit Namen von Prinzen und Polizei-Präsidenten belegt hat, kann man an der englischen Küste entlang von Grimsby bis Gravesend finden.

Damit ist’s aber nicht abgethan. Es haben sich natürlich im praktisch-speculativen Geiste Englands, der überall sofort mit Energie, Association und großem Capital zugreift, wo etwas zu holen ist, Compagnien zur Ausbeutung der neu entdeckten Schätze des Meeres gebildet. Actien à 1 Pfd. Sterling wurden binnen weniger Tage bis weit über den Bedarf gezeichnet, so daß eine Compagnie sofort mit 300,000 Thalern an’s Werk gehen konnte, um alle Vortheile, die der Fischfang von Rockall bietet, auf das Höchste zu benutzen. Dazu gehört Arbeitstheilung in Schiffe, die blos Fische fangen, in Schiffe, welche die Fische „kuren“, d. h. zubereiten, das Fleisch einpökeln, das Oel aus den Lebern ziehen, aus Abfällen Guano-Material machen etc., in Schiffe, die Proviant, Werkzeuge etc. herbeischaffen.

In Folge einer Aufforderung des einflußreichen englischen Rheders Mr. Shimper ist das Handelsministerium eben dabei, das ganze Gebiet von Rockall genau theilen und sondiren zu lassen. Seine Aufforderung schloß mit den schlagenden Worten: „Wir Fischrheders schaffen Wohlstand, vermindern die Last der Armensteuern und machen aus Abhängigen und Schwachen productive, freie und starke Menschen, weil wir einer überschüssigen Volkszahl Erwerb verschaffen. Und dadurch, daß wir eine überschwenglich vorhandene wohlfeile und gesunde Nahrung aus dem Meere ziehen, erziehen wir zugleich einen eisenfesten Vorrath von Seemännern und verwandeln Englands Armuth in Reichthum, unsere Schwäche in Stärke.“

Wir Deutsche brauchen ja auch wohl Seemänner und Producte des Meeres? Ja wahrhaftig. Es ist neuerdings beides mit einer Sachkenntniß, einem Patriotismus und so beschämenden Thatsachen nachgewiesen, daß namentlich die Norddeutschen, wo neuerdings so viel von „allen Preußenherzen“, preußischer „Machtfülle“ gegen das Volk und dessen Vertreter loyalitätsadressirt ward, in Sack und Asche kriechen oder lieber gleich auf den hohen Seefischfang in der neuen Welt gehen sollten. Diese neue Welt gehört

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 169. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_169.jpg&oldid=- (Version vom 4.9.2018)