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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

gewähren; die hohen Giebelhäuser waren ohne Rücksicht auf Symmetrie an einander geschichtet und verengten durch ihre unregelmäßige Bauart die Straßen; die alten Holzdächer sahen oft sehr moosig und verwittert aus; kurz es war eine alterthümliche düstere Stadt, ohne die tiefe Romantik des Mittelalters. Zwischen zwei Hügeln, die seltsam bezeichnend die Labyrinthe und der Teufelsberg heißen, lag es ziemlich kahl und schmucklos da; dennoch war es der Wohnsitz eines recht achtbaren, fleißigen, gemüthlichen Völkchens, dessen patriarchalische Einfachheit und bürgerliche Tugenden ihm Zufriedenheit und Glück gewährten. Handel, Ackerbau und Gewerbfleiß standen schon damals in voller Blüthe, und der ehrenwerthe Fleiß der Bewohner sicherte ihnen einen soliden Wohlstand. Dagegen litten sie freilich an kleinstädtischer Engherzigkeit; Poesie, Kunst und überhaupt höherer Aufschwung und ideale Genüsse gehörten zu den seltenen und entbehrlichen Luxusartikeln, die man weder besaß noch ersehnte.

Mitten in der Stadt, auf einer einsamen, klösterlichen Stelle, dem alten Schloßplatze, wo sonst ein markgräfliches Schloß gestanden hatte, welches nach der Sage eine Zeit lang der fabelhaften Fürstin desselben, der weißen Frau, zum Aufenthalt diente, und wo sich jetzt nur noch ein verödeter Brunnen, ein begraster, gepflasterter Platz und ein längliches Viereck verfallener Häuser zeigte, stand an der äußersten Spitze ein kleines einstöckiges Häuschen, welches sich ländlich und idyllisch unter den übrigen verbarg. Es hatte ein nettes Gärtchen, eine schattige Hollunderlaube und einige bescheidene Rosenstöcke vor dem Fenster, und drinnen wohnte mit seiner Mutter ein junger Mann, der es heimlich zu einem Tempel der Musen weihte und arm, unbekannt, ungeschützt die ersten Schwingen seines Adlerflugs regte.

Johann Paulus Richter gab, nachdem er von der Universität zurückgekehrt war, um seine literarische Laufbahn zu beginnen, Manches zu denken und noch weit mehr zu reden. Der sonderbare junge Mann war aber auch ganz anders als der ehrlichen Bürger Kinder, welche fein sittig und anständig von der berühmten Leipziger Universität zurückkamen, keine Neuerungen mitbrachten, den Zopf nach der Mode trugen und den künftigen Amtmann oder Pfarrer oder Doctor in ernster Würde voraus andeuteten. Dies Alles versäumte der junge Candidat Richter; er trug sein Haar schlicht von dem Scheitel zurückgekämmt, kein Puder entstellte die natürliche Farbe desselben; man vermißte den steifen Jabot oder Busenstreif, und sah dafür mit Entrüstung einen altdeutschen Kragen vom offenen Hals zurückfallen; der graue Friesrock hatte keinen breiten Schooß, und das Auge blickte kühn und geistvoll in die Welt. Was sollte man von diesem sonderbaren Menschen denken?

Zwar hatte er schon seine Satiren: „Auswahl aus des Teufels Papieren“ und seine „Grönländische Processe“ geschrieben und drucken lassen; aber sein Witz, dessen schonungsloser Stachel die Schwächen und Vorurtheile so geschickt zu treffen wußte, machte, daß man ihn fürchtete, und die heilige Gluth seines Ernstes, der Götterfunke seiner Erfindungen waren entweder noch nicht gekannt oder nicht verstanden. Die süßliche Empfindelei der damals beliebten Lectüre hatte den Geschmack verdorben; er mußte sich erst durch eine neue Sprache, durch solche überwältigende Gedanken reinigen.

In Vielem zeichnete sich mein elterliches Haus aus; heiter und gastfrei stand es Jedermann offen, und mein Vater ward wegen seiner Rechtlichkeit sehr von dem benachbarten Adel geschätzt. Er machte oft in Handlungsgeschäften Reisen in größere Städte und hatte dadurch mehr Kunstsinn und eine freiere Lebensansicht gewonnen. Auch hatte er eine hübsche Bibliothek, besonders liebte er Geschichte und andere Bücher ernsten Inhalts, auch der fromme Gellert und Prediger Harms durften nicht fehlen. Ich erinnere mich noch des Vergnügens, wenn mir in meiner Kindheit erlaubt wurde, bei kleinem Unwohlsein in einem alten Geschichtsbuch zu blättern, in welchem die bunten Bilder deutscher Kaiser prangten, über deren Herrlichkeit ich alle Schmerzen vergaß.

Meine Mutter war eine schöne stattliche Frau; sie war von Natur heiter und arglos und bekümmerte sich wenig um das Urtheil der Welt, da sie selbst nur Gutes von Anderen dachte. Sie hatte einen sehr richtigen Verstand; da sie aber keine Gelegenheit gehabt hatte, ihn gründlich auszubilden, suchte sie bei ihren Töchtern diesen Mangel so viel als möglich zu ersetzen. Aber Hof bot freilich sehr mangelhafte Stätten des Unterrichts für Mädchen zu einer Zeit, wo dafür noch wenig gethan wurde.

Die Gebrüder Otto waren die Gespielen unserer Jugend und blieben uns immer freundlich zugethan; kamen sie von Leipzig in den Ferien, so war dies ein Fest bei uns ebenso als in ihrem Vaterhause. Der biedere Albrecht interessirte sich für meine ältere Schwester, und dies machte unser Verhältniß noch inniger.

Zu meinen näheren Bekannten gehörten noch Amöne Herold und Renate Wirth. Diese beiden begabten Mädchen zeichneten sich vor meinen übrigen Gespielinnen durch ihren Verstand und ihre Talente aus; erstere namentlich wußte uns durch ihre scharfe, fast beißende Auffassungsgabe sehr zu imponiren, während mein Herz mich mehr zu der weit jüngern, gemüth- und phantasievollen Renate zog. Die Winterabende gaben Veranlassung zu geselligerem Verein, besonders später nach Richter’s näherer Bekanntschaft, der die Seele und der Mittelpunkt unseres Kreises ward.

Bei einer gemeinschaftlichen Landpartie lernten wir diesen durch Christian Otto[1] kennen, der ihn uns als seinen besten Freund vorstellte. Meine Mutter bei ihrer großen Empfänglichkeit für alles Gute war von dem genialen Jüngling bezaubert, und sein glänzender Humor, in welchem sich zu zeigen er die Liebenswürdigkeit hatte, riß sie zu der lebhaftesten Bewunderung hin. Wie war dies auch anders möglich? Witz, Geist, Gedankenfülle, Empfindungsgluth sprudelten mit nie zu erschöpfender Fülle aus ihm; Alles ward von seinem mächtigen Geiste ergriffen, und wir fühlten, daß wir noch nie einen solchen Nachmittag verlebt hatten. Von nun an kam Richter in unser Haus, und wir wußten bei näherer Bekanntschaft nicht, ob wir mehr seinen Geist bewundern oder seinen Charakter lieben sollten. Kindlich bis zur Naivetät war er immer bescheiden, offen und gut. Liebenswürdig fremd in den gewöhnlichsten Dingen des Lebens, ließ er sich mit rührender Gutmüthigkeit den Spott über kleine Ungeschicklichkeiten gefallen; so scharf seine Feder und seine Worte treffen konnten, nie ward er wahrhaft verletzend, nie traute er Jemandem eine böse Absicht zu; sein heiterer, genügsamer Sinn nahm willig jede kleine Freude auf, und ihn ergötzte, was Andere oft kaum bemerkten. Für die Welt ward er ein Gegenstand der Bewunderung und des Ruhms, aber für diejenigen, die das Glück hatten, ihm als Jüngling nahe zu stehen, blieb er stets der Inbegriff des Edlen und Reinen!

Durch unsere Beschreibung ward mein Vater ebenfalls sehr begierig nach des seltenen jungen Mannes Bekanntschaft; ein Zufall wollte, daß er noch vor einem persönlichen Zusammentreffen mit ihm einen Brief von demselben erhielt, dessen Veranlassung und Inhalt zu bezeichnend ist, als daß er hier übergangen werden dürfte. Richter’s gefühlvolles, edles Herz wurde schnell von den Leiden Anderer gerührt, er war willig und bereit, allen Unglücklichen zu helfen; aber selbst noch in einer beschränkten Lage und mit den Schwierigkeiten kämpfend, die sich jeder ersten literarischen Laufbahn entgegenstellen, konnte er nur mit Mühe seine alte Mutter unterstützen und lebte selbst in Dürftigkeit; aber seine rege Theilnahme für Andere fand in seiner unübertrefflichen Feder ein sicheres Mittel, sein freundliches Mitgefühl zu bethätigen. Mein Vater, als wohlhabend und menschenfreundlich bekannt, erhielt folgenden originellen Brief von Richter:


 „Hochedelgeborner, Hochzuverehrender Herr Bürgermeister!

Hätte ich diesen langen Brief mit sympathetischer Tinte hingeschrieben, so wäre es überaus gut; denn Sie könnten ihn dann gar nicht lesen – statt daß ich jetzt bei der schwarzen unglaublich schlecht fahre. Gewis wird Ihnen nun der Brief (ich wollte darauf schwören) alles hinterbringen, was ich Ihnen verhalten wil. Er wird Ihnen – Sie können mir glauben – ohne Bedenken die Bitte verrathen, die ich im Namen meiner Mutter an Sie wagen wollen und die ich Ihnen wol nicht zu eröfnen brauche, da ich mich mit ihr geschickt schon zur h. Anna gewandt. Diese Heilige, die, wie die Katholiken glauben, sich mit der Vertheilung des Reichthums unter die Menschen abgiebt – sie ist sonach die allgemeine Kriegszahlmeisterin und gefället mir sehr wegen ihrer kontanten Zahlung – diese hab’ ich nämlich so angeredet: „Einen großen Gefallen thätest du mir und auch meiner Mutter freilich, liebe h. Anna, wenn du es so machtest und ihr, wie gesagt, zu dem Vorlehen von 20 fl. vom H. Bürgermeister Köhler verhälfest. Sie wird, um es dir noch einmal zu wiederholen, fast überal gedrückt,


  1. Man vergleiche L. Storch’s Artikel „Zwei Dichter und ein Dichterasyl“, S. 7 dieses Jahrgangs.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 184. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_184.jpg&oldid=- (Version vom 9.5.2017)