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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Göschen zog ein Buch hervor und es dem Kleinen hinreichend, sagte er: „Da lies einmal, gleich hier die erste Seite.“

Es war der dreißigjährige Krieg von Schiller.

Der Knabe las für sein Alter und seinen Stand mit ungewöhnlicher Fertigkeit und nicht ohne Ausdruck.

„Kannst Du auch schreiben?“ frug Göschen weiter.

„Ja, aber ganz langsam.“

„Hättest Du wohl Lust, Buchdrucker zu werden?“

„Wie der Herr Factor Langbein?“ frug freudig erregt der Knabe, „wie gern! Herr Langbein hat auch als ganz kleiner Knabe angefangen, Buchdrucker zu werden.“

„Je nun,“ lächelte Göschen, „wenn Du recht fleißig bist und recht Tüchtiges lernst, kannst Du auch einmal Factor werden. Kennst Du mich denn?“

Der Knabe nickte freundlich und erwiderte: „Herr Göschen.“

„Wohlan,“ fuhr dieser Menschenfreundliche fort, indem er dem hocherfreuten Knaben ein Viergroschenstück schenkte, „sag’ Deinem Vater, daß er mich morgen besuchen soll, ich werde weiter mit ihm reden.“

Der Knabe, das Silberstück in der Hand, wußte nicht, ob er wache oder träume. So reich war er im Leben nicht gewesen. Welcher Wechsel! Erst sollte er todtgeschossen werden, und jetzt solches Glück und auch noch die Hoffnung, Buchdrucker zu werden, wonach schon immer sein Sinn gestanden.

Seume und Göschen setzten ihre Wanderung nach Böhlen fort. Ersterer nahm Gelegenheit, seinen Unmuth über das Benehmen der Edelleute gegen den armen Knaben laut werden zu lassen.

„Diese jungen Leute aus den bevorzugten Ständen,“ sprach er, „welche sich das Brüsquiren des Bürger- und Bauernstandes, Kenntnißlosigkeit und Verachtung aller Wissenschaftlichkeit als noble Passion anrechnen und deren Anzahl leider Gottes in deutschen Landen nur zu häufig gefunden wird, diese rudis indigestaque moles, die wie ein Plumpsack auf unsrer politischen wie gesellschaftlichen Entwicklung ruht, trägt ebenfalls dazu bei, daß das deutsche Volk aus seinem bejammernswerthen Zustande nicht herauskommt. Am ausgeprägtesten ist dieses nichtslernende, brüsquirende und sich selbst überhebende Junkerthum unter den jüngern größtentheils aus Adeligen bestehenden preußischen Officieren zu finden. Ich bin erschrocken, als ich unlängst Gelegenheit hatte, diese Kreise kennen zu lernen. Welche totale Unkenntniß der Weltlage, zumal Frankreich und der französischen Armee gegenüber! Dabei welcher Uebermuth und Verachtung alles Nichtpreußischen! Diese Unglückseligen betrachten die Franzosen noch immer durch die Brille von Roßbach und bedenken nicht, daß kein großer Friedrich mehr an ihrer Spitze steht und gegenüber ein Napoleon. Letztrer so wie dessen Marschälle gelten jenen Leuten für Nichts als aus dem Pöbel hervorgestiegene Glückspilze und Emporkömmlinge, für avancirte Unteroffiziere, die von einem Cadettenhause und probemäßiger Dressur keine Ahnung haben. Der simpelste preußische Lieutenant hält sich für berufen, den Napoleon in ein Mauseloch zu treiben, und bespöttelt den Oesterreicher, daß er Italien von zusammengelaufenen Pariser Straßenjungen und zerlumpten Bataillonen sich hat nehmen lassen. Wer kurzsichtiger Weise seine Macht also überschätzt und den Feind in solchem Grade verachtet, ist schon halb geschlagen. Das kann unmöglich ein gutes Ende nehmen, falls es über kurz oder lang zum Kriege kommt, wie nicht ausbleiben wird. Die preußischen Junker mit ihrem Bramarbasiren werden den preußischen Staat nicht retten; und unverständiger Uebermuth hat noch alle Zeit seine Strafe erhalten.“[1]

„Dieses deutsche Junkerthum überhaupt,“ fuhr der Spaziergänger nach Syrakus fort, „rangirt, wo es sich um vernünftigen Fortschritt und gesunde Entwicklung gesellschaftlicher Verhältnisse handelt, noch unter dem deutschen Philister und Zopfbüreaukraten, was gewiß viel sagen will. Es ist zum Verzweifeln, auf der einen Seite übermüthiges Junkerthum, zopfiges Philisterthum und auf der andern diese empörende Unterwürfigkeit und Bedientenhaftigkeit im Bauer- und Bürgerstande. Es hat mich darum ordentlich erquickt, daß der Hirtenbub vorhin nicht sofort den unterthänigen Knecht und gehorsamen Diener machte, wie wir im Volk vornehmen Herren gegenüber so gewohnt sind, sondern daß ihm das Gebot seines Vaters höher stand, als der Befehl des Junkers, selbst als die todbringende Mündung auf ihn gerichtet war. Darum sprang ich auch sofort vor und rief dem kleinen Kerl zu: Junge, laß Dich nicht verblüffen! Dieser Ausruf war schon ein Lieblingsbonmot meines Vaters, das er mir in den unterschiedlichsten Lebensverhältnissen und Situationen zugerufen hat. Auch meinem Vater war vermöge seiner ehrlichen, offenen und kernigen Natur nichts mehr zuwider, als jenes bänglich unsichere Wesen im Volke Höhergestellten oder blos Bessergekleideten gegenüber. Er haßte alles Scheinwesen, Poltronerie, Gespreiztheit und Vornehmthuerei und konnte es vor den Tod nicht leiden, wenn sich der Niedriggestellte dadurch in’s Bockshorn jagen ließ. Wer ein gut Gewissen hat, pflegte er zu sagen, kann dem Könige offen in’s Auge sehen, und ist der König ein braver und unbefangener Herr, wird ihm solche Offenheit besser gefallen, als ersterbende Unterwürfigkeit, die nur entwürdigt. Darum rief er mir fort und fort zu: Junge, laß Dich nicht verblüffen! So ist denn dieser Ausdruck auch bei mir in Blut und Leben übergegangen. Schon früh ward ich gewöhnt, mich nicht durch Scheinwesen einschüchtern und consterniren zu lassen. Es mag sein, daß ich darum vielen Leuten, als in zu rauher Schale, unbequem und ungenießbar geworden bin; mir gleich, ich bereue mein Verhalten nicht und danke es meinem Vater heute noch, daß er mir schon frühzeitig zugerufen: Junge, laß Dich nicht verblüffen!

„Dieser Charakter, lieber Seume,“ versetzte Göschen, „ist auch in Ihren Schriften nicht zu verkennen und verleiht denselben eben jenen Werth, welchen wir in der übrigen publicistischen Presse der Gegenwart vermissen; aber offen gestehen muß ich Ihnen, daß ich bei Durchlesung Ihres Vorworts zum „Sommer 1805“ wahrhaft erschrocken und nicht ohne Besorgniß für die Folgen bin. Diese Vorrede ist allerdings unter den gegenwärtigen Zeitverhältnissen eine That zu nennen. Kein zweiter deutscher Schriftsteller würde sie gewagt haben. Ich erinnere Sie nur an die Stelle, wo es heißt: „Ich will mit tiefem Trauergefühl als deutscher Mann noch ein Wort sprechen – weil ich will und Fug habe. Beherzige man es oder beherzige man es nicht; ich habe dabei nichts zu verlieren, als meinen Kopf; und dieser fängt an grau zu werden und wird täglich entbehrlicher. Tausende müssen ihn mit wenigem Sinn täglich wagen für die Grille eines Einzigen, den Wink eines Despoten, das Nicken seines Lieblingshandlangers, vielleicht für den Unterrock seiner Maitresse; ein unbefangener Mann wird ihn doch wagen dürfen für das, was er nach seiner Ueberzeugung für Wahrheit hält. Durch Wahrheit ist nach alter Erfahrung freilich keine Gunst zu verdienen, denn sie beleidigt fast überall, weil fast überall Sünde ist. – Wo die Bajonnete der Söldlinge herrschen, ist von Vernunft und Freiheit, Gerechtigkeit und Volksglück nicht mehr die Rede. Wenn es so fort geht, ist die gefürchtete Römerei fertig. – Jedes Privilegium wird ein Staat im Staate und beweist die Krankheit im Gesetze. Wer sein Vermögen nicht mehr verwalten oder verwalten lassen kann, hat für sich und den Staat als Bürger zu viel; und wer nicht mehr Bürger ist, ist durchaus weniger und wird für den Staat negativ. Aber wer denkt an Bürgerpflicht, wenn sie der Staat nicht ordnet etc.“[2] – Das ist eine gar kühne Schreibweise, lieber Seume, heutzutage. Ich begreife nicht, wie sie der sonst so ängstliche Censor hat passiren lassen können.“

„Es kann höchstens den Kopf kosten,“ wiederholte ruhig der deutsche Mann, „und dieser wird täglich grauer.“

Die beiden Spaziergänger hatten indeß das Gasthaus des Dorfes Böhlen erreicht, wo sie diesem gegenüber unter den alten ehrwürdigen Linden Platz nahmen. Es ward Kaffee bestellt, der auch bald von dem Wirthe Stephan, welcher noch in seinem Greisenalter oft von dem Herrn „Hauptmann“[3] zu erzählen wußte, gebracht wurde.

„Die Bank ist auch fertig, mein Herr Hauptmann,“ sprach Stephan, „der Hoiermüller hat endlich dazu gethan und sie nach dem Herrn Hauptmann, weil er dort gerne zu sitzen pflegt, „Seume’s Ruhe“ genannt.“

„Diese Taufe konnte sich der Hoiermüller ersparen,“ meinte Seume; „ich liebe dergleichen nicht; aber die Bank selbst freut mich,“ und zu Göschen gewendet fuhr er fort: „diese Bank müssen wir heute noch einweihen. Die Aussicht von da ist eine der schönsten.“

Wirklich sah man auch die beiden Männer nach einiger Zeit den Weg, der durch munteres Erlengebüsch nach der anmutig gelegenen

  1. Wenige Monate nach dieser Unterredung erfolgte die Schlacht bei Jena.
  2. Siehe Seume’s sämmtliche Werke, Gesammtausgabe in 8 Bänden, Seite 7 und 15.
  3. Seume war eine Zeitlang Officier bei den russischen Grenadieren.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 201. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_201.jpg&oldid=- (Version vom 7.5.2020)