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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Der seltsame Beweis!
Von A. v. K.
(Schluß.)

Die Miethkutsche fuhr durch mehrere Straßen, die Mathilde nicht sah, da der Vicomte aus übermäßiger Vorsicht auch noch die seidenen Vorhänge der Wagenfenster heruntergelassen hatte. Wortlos und bebend saß sie da, und nach einigen erfolglosen Versuchen, ein Gespräch anzuknüpfen, überließ sie der Vicomte ihren Gedanken.

Der Wagen hielt, der Vicomte half Mathilden aussteigen und geleitete sie durch einen feuchten Flur eine halbdunkle Treppe hinauf. Dann zog er einen Schlüssel aus der Tasche, öffnete eine Thür, und Mathilde trat in ein leeres Vorzimmer und von da in einen ziemlich einfach möblirten Salon, dessen Eingange gegenüber sich eine zweite Thüre mit dichter, herabgelassener Portière befand.

„Jetzt,“ sprach der Vicomte mit leiser Stimme, „frage ich Sie nochmals: haben Sie Muth? – noch ist ein Rückschritt möglich.“

„Nichts, kein Wort,“ antwortete Mathilde, „halten Sie Ihr Versprechen.“

„Dann aber halten Sie auch das Ihrige, meine hülfreiche Hand nicht von sich zu stoßen.“

„Ja doch, ja – quälen Sie mich nicht länger!“

Der Vicomte näherte sich der Portiere und hob sie auf. Sie verdeckte eine Glasthüre, durch deren Scheiben man in’s benachbarte Zimmer sehen konnte. Mathilde trat näher, warf einen Blick hinein und einen Schrei unterdrückend starrte sie das Bild an, das sich ihren Augen zeigte. In einem Voltaire-Fauteuil saß Leo, den Kopf zurückgeworfen, an die Lehne des Sessels gestützt, die Augen auf eine weibliche Gestalt gerichtet, die vor ihm stand. Die Dame hatte ihre beiden Arme um seinen Hals geschlungen, er umfaßte die feine Taille, jetzt bückte sich die Fremde und drückte einen Kuß auf Leo’s Lippen. – Kaum einen Moment betrachtete Mathilde das Schreckensbild, das ihr Glück auf immer zertrümmerte; der Vicomte ließ die Portiere fallen, und als sie nach derselben greifen wollte, taumelte sie entkräftet dahin … Mit sicherm Arm faßte sie der Vicomte und trug sie auf das Sopha, wo sie sich nach und nach erholte, – der treue Freund saß an ihrer Seite, umfaßte sie und sparte weder Worte des Trostes noch Küsse, mit denen er ihre eiskalten Hände bedeckte. Mathilde befreite sich mechanisch aus seinem Arm und wollte sich wieder der Portiere nähern. Er hielt sie zurück.

„Wozu, Mathilde?“ sprach er in bittendem Tone, „Sie haben genug gesehen, zu viel, fürchte ich. Fassen Sie sich und verlassen wir diesen Ort, wohin ich bereue, Sie geführt zu haben!“

Halb ging sie, halb ließ sie sich führen, und halb bewußtlos hob er sie in den Wagen, der nach einigen dem Kutscher zugerufenen Worten rasch dahinrollte. Trockenen Auges und stumm saß Mathilde neben dem Vicomte, der die zarteste Besorgniß um sie zeigte und mit tausend Worten sie zu beruhigen suchte. Abermals hielt der Wagen, Mathilde stieg aus und schon im Begriffe, die Hausschwelle zu betreten, stand sie plötzlich still.

„Wohin haben Sie mich gebracht, Vicomte?“ frug sie. „Wir sind nicht zu Hause.“

„Kommen Sie nur, Mathilde, kommen Sie,“ flüsterte er und versuchte sie zum Eintreten zu nöthigen.

„Keinen Schritt weiter, Vicomte, wohin haben Sie mich geführt?“

„Mathilde, nach dem Vorgefallenen können Sie doch unmöglich zu Leo zurückkehren. Ich habe für ein anderes, passenderes Unterkommen für Sie gesorgt. Haben Sie nicht versprochen, meinen Schutz anzunehmen?“

„Wenn ich denselben beanspruche, nicht eher,“ rief Mathilde mit einer Entrüstung, die eine für den Augenblick heilsame Reaction ihrer schwindenden Kräfte hervorrief. „Jetzt wünsche ich nach Hause zu fahren und das sofort!“

„Aber, Mathilde,“ … wollte der Vicomte einlenken.

„Vicomte,“ rief Mathilde am ganzen Körper bebend, „mit welchem Rechte nennen Sie mich Mathilde? Mit welchem Rechte wollen Sie mich zwingen, ein Haus zu betreten, das ich nicht betreten will? … Ich wünsche nach Hause zu fahren, Vicomte, haben Sie mich verstanden, oder soll ich um Hülfe rufen?“

Mit diesen Worten sprang sie in den noch offenen Wagen und rief dem Kutscher „Rue Montorgueil“ zu. Die Pferde zogen an.

Der Vicomte biß wüthend die Lippen zusammen.

„Verwünscht!“ rief er endlich und starrte ihr lange nach, „ich habe mich übereilt, wer hätte aber auch der keinen Person so viel Willenskraft zugemuthet? Sacrée petite Allemande! – Doch Geduld, vielleicht ist noch nichts verloren.“

Mathilde war nach Hause gekommen und beinahe besinnungslos in die Arme der treuen Mary gesunken, die in Todesangst ihrer harrte. In kurzen Worten theilte sie ihr Alles mit.

„Mary,“ schloß sie, „Du hast versprochen, daß ich im äußersten Falle auf Dich rechnen könnte; willst Du mir nun beistehen?“

„Gewiß, Mathilde, was haben Sie aber vor?“

„Vor Allem, ihn nie wiedersehen. Mache schnell, Mary, wir müssen fort, schnell fort; nimm das Nothwendige mit, Geld habe ich für den Augenblick genug, komm, bringe mich nach Deinem Vaterlande. Unter Deinem Schutze, im freien England, will ich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 305. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_305.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)