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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

für den Winter war es, die Sperlinge auf einem Blumenbret zu füttern. Außerdem wurde jeder längere Aufenthalt an den Fenstern vermieden; auch der Graf machte seine vielen Beobachtungen mit dem Fernrohr (selbst Bote und Bötin verfolgte er täglich mit demselben die halbe Stunde Wegs nach Hildburghausen hin, die er vom Schloß aus beherrschte!) hinter den Vorhängen.

Die Gräfin verstand deutsch auch zu lesen und zu schreiben. Ich sah selbst mehrere Hefte der damals in Hildburghausen erschienenen „Deutschen Classiker“, in welchen, wie der Graf später sagte, die Dame sich ihre Lieblingsgedichte bezeichnet hatte. Auch ein Brief[1] von ihr hat sich erhalten, natürlich ein sehr unverfänglicher, eine Geburtstagsgratulation der „Gräfin“ für den „Grafen“, welcher wenigstens leise Andeutungen an die Vergangenheit der Erstern giebt und die Taufnamen Beider, Ludwig und Sophie, verräth.

Die Spazierfahrten nach Rodach hin gehörten vielleicht zu den größten Freuden der Gräfin, wobei wir jedoch nicht verschweigen dürfen, daß sie nicht ein einziges Mal allein, d. h. ohne des Grafen Begleitung, ausgefahren ist. Diese Fahrten verkürzten sich später bis zur Coburg-Hildburghäuser Landesgrenze, weil der Rodacher Chausseegelder-Einnehmer einmal beim Grafen um eine Entschädigung für die immer nur bis kurz vor den Schlagbaum benutzte Chaussee angehalten hatte. Plötzlich wurden die Pferde wieder verkauft, und der Graf miethete einen Grasgarten jenseits eines Baches und ungefähr 30–40 Schritte vom Schloß entfernt. Obwohl dort hohes Buschwerk stand, wurde er doch noch mit einer acht Fuß hohen Breterwand versehen, – und das war nun auf der großen schönen Gotteserde das einzige Fleckchen, wo – doch erzählen wir lieber gleich die Art der Benutzung dieses Bischens freier Natur an einem Tage, so haben wir ein Bild für viele Jahre. Die Schwiegertochter der alten Bötin Schmidt, von der ich am Schluß dieses Artikels spreche, erzählte mir Das so oft, daß es mir wie zu etwas Selbsterlebtem wurde. Um so mehr freute ich mich, als ich später mit den Angaben des obengenannten Berichterstatters bekannt wurde, jene mündlichen Mittheilungen hier so genau wiederzufinden. Darnach begab sich also „an jedem Morgen, in der schönen Jahreszeit, doch nie früher, als die Bötin aus der Stadt in’s Schloß gekommen war, der Graf in den Garten; hier ging er eine Stunde lang auf und ab und kehrte dann in’s Schloß zurück. Darauf trat die Bötin aus der Thür des Schlosses und wartete, dieser den Rücken zugekehrt. Die Thür wurde von innen aufgeschlossen, die Gräfin, tief verschleiert, trat heraus, und die Bötin, ohne sich nach ihr umsehen zu dürfen, schritt ihr voraus, über den Steg hinüber an die Gartenthür, schloß diese auf und stellte sich hinter die Thür, die sie aufzog. Sobald sie merkte, daß die Gräfin hinter ihr in den Garten geschlüpft war, zog sie die Thür wieder zu, verschloß sie und hielt Wache davor. Der Graf beobachtete vom Fenster aus (und man behauptete später, daß er dabei Schußwaffen bereit gehabt, mit denen er allerdings versehen war) die im Garten auf- und abgehende Dame. Wenn diese in’s Schloß zurückkehren wollte, warf sie ihr Taschentuch in die Höhe, und nun wurde, auf einen Wink vom Schlosse aus, die Gräfin in derselben vorsichtigen Weise in’s Schloß zurückgeführt.“ So hat die Schmidtin dieses Führer-Amt viele Jahre besorgt, ohne je zu sehen, wen sie führte! –

Nur drei Menschen haben, außer dem Grafen, einmal die Stimme der Dame gehört. Die Köchin, die, bei einer plötzlichen Krankheit des Grafen schon einmal Nachts durch die Klingel gerufen, zu ihrem Schrecken damals zum ersten Mal die Gräfin gesehen hatte, die an des Kranken Lager weinte, erlebte dies zum zweiten Male im Winter von 1829 auf 1830. Die Gräfin stand abermals, bitterlich weinend, im Zimmer und rief ihr entgegen: „Der Herr ist plötzlich erkrankt, helfen Sie mir ihm einen Trank bereiten!“

Der andere Mensch war ein Eishäuser Bauer, der einmal hörte, wie die Gräfin von einem Fenster des Schlosses aus Katzen lockte und zwar mit dem Rufe „Puß! Puß!“

Der dritte war ein Sohn des Boten Schmidt. Der Graf hatte bei Hildburghausen (in der Nähe des jetzigen Bahnhofs) ein Haus und einen Garten gekauft, den er vergrößern und ebenfalls mit einer hohen Breterwand umgeben ließ. Dahin fuhr er bisweilen mit der Gräfin, und das sei, erzählte der junge Schmidt, auch einmal im Jahre 1832 geschehen. Er habe soeben im Garten gearbeitet, was die Herrschaften wahrscheinlich nicht gewußt hätten. Da sei aus einem der Gänge plötzlich die Gräfin herausgetreten, habe ihn erblickt und sei, wie es schien, anfangs erschrocken, bald aber mit hastigen Schritten auf ihn zugeeilt und habe fast athemlos gesagt: „Lieber Schmidt, ich möchte Sie gern sprechen, ich – –“ In dem Augenblick aber sei der Graf aus dem Gange getreten, wie wüthend herbeigerannt und habe die Gräfin am Arm fortgeführt. Später soll die Dame noch einmal den Versuch gemacht haben, sich diesem Schmidt zu nähern, worauf ihm für immer der Garten verboten wurde.

Armes Weib! Auch nicht das vergänglichste Zeichen von Liebe und Theilnahme durfte ihm zu Theil werden. Die Frau Pfarrerin hatte es, kurz nach ihrem Anzuge in Eishausen, eines Tages gewagt, im Pfarrgarten einen schönen Strauß zu pflücken und ihn durch ihr Dienstmädchen „für die gnädige Frau Gräfin“ in’s Schloß bringen zu lassen. Das Dienstmädchen meinte freilich, der Graf müsse sich sehr gefreut haben, denn „er sei wie närrisch in der Stube herumgesprungen.“ Die Aufklärung kam bald genug: die freundliche Gabe hatte seinen äußersten Zorn erregt. Man wußte nun, daß für Niemand eine Dame im Schloß existire: sie war aus den Reihen der Lebenden gestrichen, und der Graf war nur der Wächter ihres Athems.

Trotz all dieser Vorsichtsmaßregeln schwebte das Geheimniß mehrmals in der Gefahr der Enthüllung. So gestand der Graf später selbst, daß während der Truppendurchzüge von 1814 und 1815 im Pfarrhaus ein russischer Officier gelegen habe, der sein Geheimniß gekannt und, wenn er ihn gesehen hätte, sein Schicksal entschieden haben würde. Nicht geringere Gefahr drohte ihm einige Jahre später durch seinen Kammerdiener. Die Eingeschlossenheit desselben mit der Köchin war nicht ohne Folgen geblieben: sie hatte ihm in wenigen Jahren zwei Kinder geboren. Ward auch dadurch das gräfliche Geheimniß nicht beunruhigt, so schien dagegen den Kammerdiener, der regelmäßig zur Kirche ging, eine schwere Last im Gewissen zu drücken; er bat den Pfarrer mehrmals, heimlich bei ihm beichten und das heilige Abendmahl nehmen zu dürfen. Der Pfarrer versagte ihm diesen Wunsch, weil ihm die Verheimlichung der Beichte bedenklich war. Und als der Kammerdiener auf dem Sterbebette lag und in großer Unruhe nach dem Geistlichen verlangte, widersetzte sich der Graf diesem Verlangen. Ohne Arzt und ohne Pfarrer, nur von einer gewissen sogenannten „Teichgreth“ gepflegt, starb der arme Mann, den nun der Graf dem Pfarrer als einen „Philipp“ Scharre, 60–66 Jahre alt und aus der Schweiz gebürtig bezeichnete. An diese Adresse sollen dann noch zwanzig Jahre lang Briefe in’s Schloß gelangt sein! Wohin sind sie gekommen? Offenbar hat die Flamme stark im Dienste dieses Geheimnisses gestanden. – Spurlos vorüber ging der Verdacht, welchen der bekannte Polizeimann Eberhardt auf das Schloß warf, indem er es mit Kaspar Hauser in Verbindung zu bringen suchte; er führte den Findling vor das Schloß und in der Umgegend umher, mußte aber ohne das gewünschte Resultat wieder mit ihm abziehen.

Eine ernstlichere Gefahr führte die Ernestinische Erbtheilung nach dem Aussterben des Fürstenhauses Gotha, 1826, herbei. Das Herzogthum Hildburghausen kam an Meiningen, und die meiningische Regierung drang darauf, daß der Unbekannte sich legitimire. Und weil man wohl an das Gerücht glaubte, daß der Graf sein Geheimniß der Herzogin Charlotte von Hildburghausen entdeckt und damit seine Duldung im Lande gesichert habe, so gab man ihm auch jetzt an die Hand, daß der Herzog von Meiningen bereit sei,

  1. Dieser Brief lautet wörtlich, nur mit berichtigter Orthographie, so:
    „Lieber, guter Ludwig!

    Ich wünsche Dir zu Deinem Geburtstage viel Glück und Segen! Der Himmel erhalte Dich gesund bis in das späteste Alter. Ach, lieber Ludwig, es sind schon viele Geburtstage, die ich bei Dir erlebe, und der Himmel segne Dich für Alles, was Du schon an mir gethan hast und an mir noch thust!

    Ach, lieber, guter Ludwig, es thut mir leid, daß ich Dir zu Deinem Geburtstag keine bessere Freude machen kann. Ich habe hier eine Kleinigkeit für Dich gestickt, ich schäme mich, daß sie nicht besser ist. Aber gewiß wirst Du, lieber guter Ludwig, es doch von Deiner armen Sophie annehmen als einen Beweis meiner Liebe und Dankbarkeit. Ach, verzeihe mir, mein guter Ludwig, wenn ich bisweilen fehle! Ich bitte den Himmel, daß er mich lehre, meinen Fehler zu verbessern. Möchtest Du doch mit mir zufrieden sein, ich aber im Stande, Dir Alles nach Wunsch zu thun, Alles Dir angenehm zu machen. Ach, lieber guter Ludwig, ich weiß, daß meine Lage schrecklich war, und ich danke Dir nochmals! Der Himmel segne Dich für Alles! Behalte mich lieb, lieber Ludwig! Ich bleibe im Schutze Marias und dem Deinen

              Deine arme Sophie bis in’s Grab.

    Den 28. September 1808.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 311. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_311.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)