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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Während diese Rechtsunsicherheit auf ihrem Höhepunkt war, entfalteten zwar die westphälischen Gerichte, die „heilige Vehme“, geraume Zeit hindurch eine segensreiche Wirksamkeit. Indeß war einerseits ihre Abhülfe keine durchgreifende, andererseits mißbrauchten sie im Verlauf der Zeit ihre Macht, daher mußte endlich das Reich auf eine Reform bedacht sein. Der erste Schritt geschah auf dem Reichstage von 1495, welcher durch den „ewigen Landfrieden“ das Fehderecht aufhob. Allein das bekannte Sprüchwort: „traue dem Landfrieden nicht“, sagt deutlich genug, daß das Fehdewesen keineswegs mit einem Male zu Ende gewesen, und der ewige Landfrieden wurde in der Folgezeit mehr als zwanzig Mal wieder eingeschärft!

War doch auch nichts geschehen, was die Selbsthülfe entbehrlich gemacht hätte. Die Landesherren nahmen sich der Strafrechtspflege nur wenig an, und die Zusammenstellungen von Gewohnheitsrechten in sogenannten Statuten, die manche Städte veranstalteten, oder denen sich einzelne Privatleute unterzogen (z. B. der Sachsenspiegel von Eike von Repko) waren in strafrechtlicher Beziehung sehr dürftig. Als vollends im 14. und 15. Jahrhundert das römische und canonische Recht in Deutschland sich einbürgerten, mußte die Verwirrung noch größer werden, weil das römische Strafrecht zum Theil auf ganz anderen Grundsätzen beruhte, als das deutsche, zum Theil auch Strafen hatte, die im deutschen Reich gar nicht vollzogen werden konnten. Der Willkür des Strafgerichts war jetzt ein weiter Spielraum gegeben, was um so gefährlicher war, als der alte Anklageproceß mehr und mehr verschwand und das Verbrechen von Amtswegen verfolgt wurde, ferner das Bestreben sich geltend machte, über den Verbrecher möglichst grausame Strafe zu verhängen. Freiheitsstrafen waren noch nicht in Anwendung, man kannte nur Geldstrafen für geringe Vergehen, Verweisung außer Landes, verstümmelnde Strafen (Abhauen von Körpertheilen) und hauptsächlich Todesstrafen. Die letzteren vollstreckte man aber nicht nur durch Enthauptung, Hängen und Ertränkung, sondern man wendete wahrhaft grauenhafte Todesarten an, z. B. Lebendigbegraben, Pfählen, Ertränken in siedendem Wein, Oel oder Wasser, Verbrennen, Rädern, Viertheilen. Es war natürlich, daß man sich endlich nach einer festeren Rechtsordnung sehnte. Schon drei Jahre nach dem ewigen Landfrieden gingen die Reichsstände den Kaiser um eine Reform des Criminalwesens an, indeß bei dem schleppenden Gang auf den deutschen Reichstagen dauerte es noch über dreißig Jahre, ehe die gewünschte Reform in’s Leben trat. Erst 1532 wurde ein sowohl das Straf- als Strafproceßrecht umfassendes allgemeines deutsches Reichsgesetz, die peinliche oder Halsgerichtsordnung Kaiser Carl V. (die sogen. Carolina) erlassen. Dieses Gesetz war von segensreicher Wirkung, da es über die einzelnen Verbrechen, Strafen und das Proceßverfahren bestimmte Satzungen enthielt und die Willkür der Strafgerichte wesentlich beschränkte. Die zu Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts üblich gewesenen grausamen Strafen hat die Carolina zwar nicht abgeschafft. Sie schreibt z. B. für einzelne Verbrechen Abhauen der Finger vor, Herausschneiden der Zunge, Zerschneidung des Leibes in vier Stücke (Viertheilen), Lebendigvergraben, Verbrennen u. s. w., doch dieser Vorwurf trifft nicht den Gesetzgeber. Es lag einmal im Geiste der Zeit, daß der Verbrecher mit möglichst qualvollen Strafen büßen müsse, und die Gräuel und Schandthaten des Faust- und Fehderechts waren wahrlich nicht geeignet gewesen, einer humaneren Richtung Bahn zu brechen.

Schon vor der Carolina und im Laufe des 15. Jahrhunderts hatte das Strafproceßverfahren eine wesentliche Umgestaltung erlitten. Der Grundsatz bei der handhaften That, daß dem Angeklagten seine Schuld zu beweisen sei, wurde allmählich bei jedem Verbrechen zur Regel. Der Anklageproceß ging in den Inquisitionsproceß über, und der Richter mußte nunmehr selbstständig für die Herbeischaffung der zur Verurtheilung erforderlichen Beweismittel sorgen.

Der bequemste Beweisgrund war freilich das Geständniß. Auf dieses legte man das hauptsächlichste Gewicht und suchte es auf alle mögliche Weise von dem Angeklagten zu erlangen. Dabei gerieth man aber auf einen Abweg, der zu abscheulichen Mißbräuchen führte. Durch die Folter (Tortur, peinliche Frage) suchte man nämlich ein Geständniß zu erpressen. Die Carolina, die ihr Beweissystem auf Zeugenaussagen und Geständnisse baute, vermochte sich über den Geist der Zeit nicht zu erheben und erkannte die Anwendung der Folter gesetzlich an. Zwar bestimmte sie, daß man nur bei genügendem Verdacht und nur bei schwereren Verbrechen zu ihr greifen, sie auch nicht mehr als einmal anwenden solle. Allein an diese Beschränkungen hielten sich die Gerichte leider nicht, und oft genügte der geringste Verdacht, den Angeschuldigten den grausamsten Martern zu unterwerfen.

Durch die Folter sind unzählige Justizmorde verübt worden, nur sie trägt die Schuld an den Hexenprocessen, die Deutschland drei Jahrhunderte lang furchtbar heimgesucht haben. Im Bisthum Würzburg z. B. starben von 1627 bis 1629 über 200 wegen Hexerei den Feuertod, im Bisthum Bamberg in denselben Jahren 285, in Salzburg in einem einzigen Jahre (1678) 97, und der sächsische Jurist Carpzow verurtheilte allein über 100 Hexen zum Scheiterhaufen.

Zu den Hexenverfolgungen im 15. und folgenden Jahrhunderten trug freilich der grenzenlose Aberglaube bei, der alle Stände ergriffen hatte. So glaubte man steif und fest an Zusammenkünfte und Schmausereien mit dem Teufel, glaubte, daß die Hexen Nachts auf Besenstielen, Ofengabeln und dergleichen durch die Lüfte an den Ort der Zusammenkunft ritten, daß der Teufel die Hexen lehre, Wetter zu machen, Menschen und Vieh krank zu zaubern u. dgl. m. Daß man aber Hexen in Unmasse fand, daß sie sämmtlich auf ihr Geständniß hin, sich wirklich mit dem Teufel verbunden zu haben, verurtheilt werden konnten, dies bewirkte allein die Folter. In der Regel wurden dem Angeklagten zuerst die Daumen in Schrauben gebracht, und diese nach und nach so zusammengepreßt, bis sie zermalmt waren (der sogen. Daumenstock). Ueberstand der Gefolterte dies, so wurde er in den spanischen Stiefel gespannt; hierauf band man ihm die Hände auf den Rücken, befestigte an denselben ein Seil und zog ihn an diesem langsam in die Höhe, bis die Armgelenke verdreht wurden und die Arme über dem Kopfe standen (der sogen. Zug). Auf diese und ähnliche Weise quälte man die Unglücklichen oft bis zum Wahnsinn. Kein Wunder, daß auch die kräftigsten Naturen unter solchen Martern erlagen und in Verzweiflung ein Geständniß ablegten. Freilich wurde dies oft widerrufen. Aber dann begann die peinliche Frage von Neuem, und nur in seltenen Fällen überstand der Angeschuldigte die zweite oder gar die dritte Folter, ohne sein Leugnen oder, wie dies auch vorkam, den Geist aufgegeben zu haben. Geschah das Letztere, so war der Angeschuldigte freilich nicht an den Folgen der entsetzlichen Qualen gestorben, sondern – der Teufel hatte seine Seele geholt!

In einem Urtheil aus der sächsischen Praxis heißt es z. B.: „Weil aus den Acten soviel zu befinden, daß der Teufel der Margarethe Sparrwitz auf der Tortur so hart zugesetzt, daß sie, als sie kaum eine halbe Stund an der Leiter gespannt mit großem Geschrei Tods verfahren und ihr Haupt gesenkt, daß man gesehen, daß sie der Teufel inwendig im Leibe umgebracht, immaßen denn auch daraus abzunehmen ist, daß es mit ihr nicht richtig gewesen, weil sie bei der Tortur gar nichts geantwortet: so wird ihr todter Körper durch den Abdecker unter dem Galgen billig (!) vergraben.“

Es ist kaum glaublich, welche nichtigen Verdachtsgründe oft die Einleitung des Hexenprocesses veranlaßten. Wenn Jemand einem Anderen etwas Böses gewünscht hatte, demselben dann zufällig ein Unglück begegnete, so wurde gleich eine Anklage wegen Hexerei erhoben. Langer Schlaf galt als Folge der nächtlichen Zusammenkünfte mit dem Teufel u. dgl. m. Am gefährlichsten aber war es, daß man die Angeklagten auch nach Mitschuldigen frug und sie so lange folterte, bis sie zur Verzweiflung getrieben eine Reihe von Personen als Hexen bezeichneten, die sie vielleicht nur dem Namen nach kannten. Diesen wurde dann sofort der Proceß gemacht. Ohne die geringste Ahnung von der ihnen drohenden Gefahr wurden sie dem Kreise ihrer Familie entrissen, verhaftet, peinlich gefragt und – auf ihr Geständniß hin zum Flammentode verurtheilt!

Im 18. Jahrhundert nahm die Strafrechtspflege einen neuen Aufschwung. Zunächst nahm sich die Wissenschaft ihrer in ernster Weise an und äußerte einen heilsamen Einfluß auf die Gesetzgebung. Einzelne Staaten erließen umfassende Strafgesetzbücher, so Baiern 1751, Oesterreich 1768, Preußen 1794. Dem humaneren Zeitgeist trugen die Landesfürsten insofern Rechnung, als sie eine neue Strafart, die Zucht- und Arbeitshäuser, einführten, so daß die harten Strafen der Carolina bald ganz außer Anwendung kamen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 335. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_335.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)