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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Mann im rechten Augenblick, und dieser war kein anderer als Schulze-Delitzsch, der, mit einem wunderbaren Organisationstalent begabt, die erste deutsche Genossenschaft in seiner Vaterstadt Delitzsch in’s Leben rief. Als Deputirter der ehemaligen preußischen Nationalversammlung mit Leitung der zur Ordnung der Handwerker-Verhältnisse eingesetzten Fachcommission betraut, hatte er sich mit großer Vorliebe dieser Aufgabe gewidmet und dabei einen reichen Schatz von Erfahrungen gesammelt, so daß er besonders seit seinem Austritt aus dem Staatsdienste die Förderung des Associationswesens in Deutschland als seine eigentliche Lebensaufgabe betrachtete. Er ging dabei mit weiser Vorsicht zu Werke, indem er die gegebenen Verhältnisse, die eigenthümliche Natur des deutschen Volkes und des deutschen Handwerkers im Besonderen berücksichtigte und, von kleinen Anfängen ausgehend, durch langsames, aber stetiges und sicheres Vorschreiten immer größere und bedeutendere Resultate erzielte. Im Gegensatze zu den glänzenden Theorien der französischen Socialisten und ihren großartigen, aber auf Sand gebauten Experimenten schlug er den einzig richtigen Weg der praktischen Selbsthülfe nach englischem Vorbilde ein, ohne darum der einseitigen Richtung und der ausschließlich materiellen Praxis der Engländer zu huldigen. Auch hier bewährte sich der echt deutsche Geist des Gründers der deutschen Genossenschaften, indem ein ideeller Hauch seine Schöpfung durchzieht, Theorie und Praxis, Gedanke und That in ihm harmonisch verschmelzen. Das von ihm befolgte System beruhte auf der alten Erfahrung, daß mehrere kleine Capitale zusammen ein großes geben, das den Betheiligten auch alle Vortheile des großen Capitals gewährt, billigere Beschaffung der nöthigen Rohstoffe, der Lebensmittel, des Handwerkszeugs, der Maschinen, der ganzen Production und des Vertriebes. Zu diesem Zwecke bildeten sich, meist auf seine Veranlassung, die verschiedenen Genossenschaften, Consum-, Vorschuß- und Productionsvereine, welche durch gemeinsame Kräfte in kurzer Zeit einen bedeutenden Gewinn erzielten und den Nutzen der Association auf diesem Gebiete praktisch darthaten.

Nach Schulze’s Ansicht aber, die er in seiner Schrift: „Die arbeitenden Classen und das Associationswesen in Deutschland“ niedergelegt hat, mußte gerade in Deutschland mit einer gewissen Zurückhaltung vorgegangen werden, „weil die Zerstörung der früheren Gewerbsorganisationen noch nicht vollständig genug erfolgt, der Platz noch nicht von allen Trümmern so weit geräumt ist, um mit völliger Freiheit zum Neubau zu schreiten.“ „Insbesondere hat man mit dem den Deutschen eigenthümlichen Hange zur Absonderung zu kämpfen, der in der Isolirung die Selbstständigkeit opfern zu müssen meint, obschon die letztere der Mehrheit nach nur durch jenen innigen Anschluß der Einzelnen aneinander gerettet werden kann.“ Von diesen Ansichten ausgehend hat Schulze ein ineinandergreifendes System von Associationen und gewerkschaftlichen Genossenschaften geschaffen, mit denen die von ihm ebenfalls ins Leben gerufenen Creditverbände, Vorschußvereine und Darlehnscassen Hand in Hand gehn. Gegenwärtig bestehen durch seine Bemühungen zweitausend derartige Associationen in Deutschland, wovon jedoch die Hälfte sich auf Bildungszwecke beschränkt, von den übrigen kommen ungefähr 500–550 auf die Vorschuß- und Creditvereine, gegen 200 auf Rohstoff-Vereine, 50 auf Vereine zur gemeinsamen Magazinirung und Production, gegen 100 auf Consum- und ebenfalls 100 auf Krankenpflege-Vereine.

Um einen Begriff von Umsatz und Verkehr derselben zu geben, entnehmen wir den regelmäßig erscheinenden Jahresberichten folgende Zahlen. Von ungefähr 360 Vorschußvereinen, welche bereits im Jahre 1861 thätig waren, hatten 188 ihren speciellen Jahresabschluß eingereicht. Obschon darunter 46 sich befanden, deren Abschluß ihr erstes Jahr betraf, wo der Verkehr natürlich noch ganz unentwickelt ist und sich in sehr kleinen Verhältnissen bewegt, so ergab sich an gewährten baaren Vorschüssen, einschließlich der Prolongationen, meist auf die Frist von 3, manchmal auch bis 6 Monaten, die ungeheure Summe von 1,876,009 Thlr. Die Migliederzahl belief sich bei 188 Vereinen auf 48,760, der Nettogeschäftsgewinn für das Jahr 1861 zusammen auf 78,055 Thlr. Rechnet man zu diesen Resultaten noch die fehlenden Berichte der übrigen 140–150 Vorschußvereine, so dürfte sich der Umsatz dieser allerdings am meisten entwickelten Classe der Genossenschaften auf mindestens 20 Millionen Thaler, der eigene Fond auf 1 Million bis 1,200,000, die fremden Anlehen auf 5½ Million schätzen lassen. Aehnliche großartige Erfolge haben aber auch die übrigen Consum- und Productionsvereine aufzuweisen.

Diese bewundernswürdigen Resultate hat aber der deutsche Arbeiter hauptsächlich der rastlosen Thätigkeit und dem außerordentlichen Organisationstalent dieses Mannes zu verdanken, der sein ganzes Leben, seine unermüdliche, vor keinem Hinderniß zurückschreckende Energie dem deutschen Volke und vor Allen den deutschen Arbeitern und Handwerkern widmet. Ein neues Zeugniß dafür legt der deutsche Arbeiterkatechismus, jene im Berliner Arbeitervereine von ihm gehaltenen Reden, ab. Sie geben in musterhaft populärer Sprache die Grundzüge seines Systems und enthalten einen wahren Schatz volkswirthschaftlicher Grundsätze und Erfahrungen. Hier werden das Wesen und die Natur der Arbeit und des Capitals mit wunderbarer Klarheit dargethan, die Arbeiter über ihre wahren Interessen belehrt, die alten Vorurtheile gegen die Concurrenz und das Maschinenwesen schlagend beseitigt, die Mittel angegeben, um den in ihrem Gefolge nothwendig auftretenden Uebelständen zu begegnen, das Selbstgefühl und das Selbstvertrauen des Arbeiters gehoben und gestärkt, die Vortheile der Selbsthülfe durch die Genossenschaften theoretisch und praktisch nachgewiesen und die ausschweifenden Forderungen und phantastischen Träume moderner Volksbeglücker und falscher Voksfreunde nach Gebühr gewürdigt und ihr verderbliches Treiben schonungslos aufgedeckt.

Vor Allem aber kann nicht genug hervorgehoben werden, daß Schulze-Delitzsch im eigentlichen Sinne ein Apostel des Friedens, der Gesittung und der Bildung ist, die er als die Hauptfactoren zur Hebung und Verbesserung der deutschen Arbeiter betrachtet. Im Gegensatz zu den socialen Agitatoren stellt er nicht das Capital der Arbeit feindlich gegenüber; für ihn „ist die Fähigkeit der Capitalansammlung bei den Menschen gleichbedeutend mit ihrer Culturfähigkeit, indem vom Wachsthum dieses geistigen und sachlichen Capitals der Menschheit jeder Fortschritt in der Civilisation, die allmähliche Vervollkommnung menschlicher Zustände in intellectueller, sittlicher und wirthschaftlicher Hinsicht notwendig bedingt wird.“ So sucht er die Kluft zwischen den Besitzenden und Besitzlosen unablässig auszufüllen, indem er Arbeit und Capital als gleichberechtigte Mächte hinstellt, die allein durch ihre innige Verbindung und gegenseitige Förderung sich und der Menschheit durch Lösung der socialen Frage dienen. Beide können aber zu diesem Resultate nur durch die politische und bürgerliche Freiheit gelangen, welche die Lebensluft des Staates und der Gesellschaft ist. Daher geht bei Schulze-Delitzsch seine sociale Thätigkeit mit seinem politischen Wirken Hand in Hand, und sein Wahlspruch lauter: Kein socialer Fortschritt ohne politische Freiheit, keine politische Freiheit ohne socialen Fortschritt.



Der deutsche Schützenzug nach La Chaux de Fonds.
Von Wilhelm Jungermann.
2.

Die Bürger von La Chaux de Fonds haben fast mehr als ihr Möglichstes gethan, um den Festort festlich herzurichten. Bis in die kleinsten Gassen hinein war der Ort mit Blumengewinden, mit Fahnen, Bildern, venetianischen Masten, Triumphbogen und Inschriften geschmückt; am Gebäude der Uhrenausstellung war uns Deutschen zu Ehren Schiller’s lebensgroßes Bild angebracht, und auf dem Denkmal Leopold Robert’s, des berühmten Malers aus La Chaux de Fonds, war dessen Bildsäule in Gyps aufgestellt. Hier hoch oben im Jura auf dem dürren Kalkboden wachsen der Blumen nur wenige, da hieß es also die Blumen selbst gemacht, wenn die Häuser festlich geschmückt werden sollten. Und so haben denn die Frauen und Mädchen von La Chaux de Fonds viele Monate – manche sagten sogar ein Jahr – lang mit unermüdlicher Geduld Blumen und wieder

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 519. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_519.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)