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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Sie ging fort in ihr Zimmer zurück; ruhiger im Aeußeren, völllg verstört im Inneren trat sie dort ein. Niemand wagte, ihr zu folgen – Mittag, Abend vergingen, ohne daß ihre Klingel irgend einen der Diener oder die Dienerinnen herbeirief. Als endlich ihre Jungfer in das Gemach trat, war die Gebieterin nicht darin, auch im ganzen Schlosse nicht zu finden. Allen Vermuthungen und Befürchtungen machte der Schäfer des Gutes durch die Aussage ein Ende: „Ich sah die Frau Gräfin heut um Mittag über die Wiesen gehen und den Weg zum Walde einschlagen.“

Dort im Forsthause wohnte die Amme des Grafen, eine einfache, fromme, verständige Frau. Bei ihr glaubte man die verlassene Gräfin am besten aufgehoben.




2.

Mitternacht war nahe, als an der Eisenbahnstation E* der Schnellzug anhielt. Nur eine tief verschleierte Dame stieg aus, welche als einzige Bagage eine kleine Reisetasche bei sich trug.

„Ist’s wirklich so, daß die Züge seit gestern verändert sind?“ fragte sie den Bahnhofswärter, der mit einer im Sturme flackernden Laterne auf sie zuschritt.

„Wohin wollen Sie?“

„Nach A**.“

„Dahin geht der nächste Zug morgen früh vier Uhr, funfzig.“

„Also doch dann erst! wie spät ist’s jetzt?“

„Einige Minuten über halb zwölf.“

„Da muß ich ja fast fünf Stunden hier bleiben.“

Sie blickte sich um, zog Mantel und Schleier fester und schritt langsam, gedankenvoll vorwärts.

„Sie wollen doch nach der Stadt? warten Sie einige Minuten, dann werde ich Sie hin begleiten. Ist sonst Niemand da, der es könnte.“

„Kann ich diese paar Stunden nicht auf dem Bahnhofe bleiben?“

„Hier? hm – gehen Sie lieber zur Stadt, der Gasthof ist nicht weit.“

„So kann ich durchaus nicht hier bleiben?“

„Ist gegen die Verordnung, der Wartesaal auch kein Aufenthalt für Sie, die Sie so allein sind. Von zwei Uhr ab ist viel Leben hier.“

„Ist nicht ein Damenzimmer da?“

„O ja; doch es ist ungeheizt, sehr kalt.“

„Kann ich dort nicht bleiben? Bitte – wenn es geht.“

Sie zog bei den Worten ein Portemonnaie hervor, händigte dem Bedenklichen einen Thaler ein, und williger sprach er jetzt: „Nun, dann kommen Sie!“

Das Zimmer war bald erreicht und der Fremden geöffnet. Es zeigte sich als ein großes, ziemlich wüstes Gemach. In der Tiefe ein Sopha mit Tisch davor, eine Reihe Stühle an den Wänden seitwärts, das Ganze nur schwach, kaum erkennbar beleuchtet durch den Schein einer etwas trübe brennenden Gasflamme, der durch die Fenster jener nach dem großen Wartesaal führenden Glasthüre fiel.

Weniger durch das ungewisse Licht, als durch eine feuchte kellerartige Luft wurde der Raum unbehaglich.

„Es ist hier in der That sehr kalt,“ sprach die Fremde zusammenschaudernd. „ So werde ich Feuer machen.“

„Ach nein, das würde zu lange dauern, und ich sehne mich nach ein wenig Ruhe.“

„Sie reisten schon lang?“

„Zwei Nächte und einen Tag. Darf ich Sie um frisches Wasser bitten? der Kopf schmerzt mich so.“

„Gleich!“

Das Gleich dauerte etwas lange; doch dafür kehrte der Mann auch mit einem Korbe voll Holz und Kohlen zurück.

„Werd’ nur Feuer machen, und schlafen Sie dann ein wenig, ich bleib’ nebenan.“

„Sie werden mich aber doch sicher benachrichtigen vor Abgang des Zuges?“

„Ganz sicher! Also nach A** reisen Sie?“

„Mit dem Zuge, der dorthin fährt.“

„Da gehen Sie wohl weiter oder – bleiben Sie in A**?“

Sie sah den Fragenden, dessen Ton ihr auffiel, jetzt zum ersten Male genauer an, er beugte sich aber tief zum Ofen nieder, so daß sie nichts von den Gesichtszügen erkannte, und war wieder ganz beruhigt, als er im gleichgültigsten Tone fortfuhr:

„Sehen Sie dies helle Feuer, wahre Pracht solch eiserner Ofen!“

Hätte die Fremde nicht nach Zeitraum einer Stunde bereits geschlafen, die Wärme wäre ihr vielleicht unerträglich gewesen. Sie schlief so fest, daß sie nicht durch das Eintreten des Bahnwärters erwachte, der nach dem Feuer zu sehen kam, dies anfängliche Vorhaben indessen unterließ, auf den Fußspitzen dem Sopha sich näherte, den Schleier, welcher Kopf und Gesicht der Fremden umhüllte, ein wenig hob und ihn vielleicht auch wieder herabgelassen hätte, wenn eine leichte Bewegung der Schlafenden ihn nicht ängstlich gemacht. Das dichte, aber doch leichte Gewebe vorsichtig über die Sophalehne zurückschlagend, schaute er noch einmal in das jetzt unverhüllte Antlitz und wie zustimmend mit dem Kopfe nickend, murmelte er leise: „Dacht’ mir’s doch, daß sie es sei, sowie ich diese Stimme und diese eigenthümliche Aussprache hörte.“

Er schlich vorsichtig fort und hinaus, lehnte die Thür nur an, und nahm am Ofen im Wartesaale Platz, an dessen anderer Seite ein kleiner Kellner schnarchend auf Stühlen lag.

Augenscheinlich trachtete er dem Beispiel des jungen Burschen zu folgen, und die Ausführung der That war nahe, da öffnete sich das geschlossene Fenster in der Wand hinter dem Büffet, und die Stimme des Restaurateurs rief mit bebendem Ton: „Friedrich! Friedrich!“

Friedrich schnarchte weiter, der Andere sprang auf.

„Ach Grunewald, Ihr hier! welch ein Glück! eilt, was Ihr könnt, zum Doctor, meiner Frau geht es wieder schlimmer!“

„Gern, gern, Herr Schulz,“ erwiderte der Wärter, „doch ein Wort.“

„Was wollt Ihr? Lauft, ich bitte.“

„Herr Schulz, hört nur – dort im Damenzimmer ist Jemand – achtet ein wenig darauf – es ist die schöne Engländerin, von der ich Euch gestern, als Graf B**** hier ohne Frau durchkam, die Geschichte erzählte und die –“

„Gott im Himmel, was geht mich die Dame und ihre Geschichte an, wenn meine Frau todkrank ist! Wie kann ich auf sie achten, dort, wo sie nicht einmal ein Recht hat zu bleiben und mir noch Ungelegenheiten daraus erwachsen können!“

Er verschwand, der Wärter trat an den Kellner heran und ihn am Arme schüttelnd, rief er: „Schlafratte, thu Deine Pflicht, wache und gieb hier Acht, oder –“

Der Kleine sprang erschrocken auf, Bahnwärter Grunewald aber enteilte dem Saale, und als er kaum aus dem Hause war, steckte ein junges Mädchen mit verschlafnem Gesicht den Kopf in die Thüre und rief: „Ach bitte, Friedrich, helft mir ein wenig draußen beim Feuer. Die Frau soll Thee haben, und der Sturm läßt das Holz gar nicht zum Anbrennen kommen. Ach, ist das ein Elend, solch ein Bahnhofdienst, nicht Tag, nicht Nacht Ruhe und nun noch eine todkranke Frau!“

Der kleine Friedrich eilte bereitwillig der Bittenden nach. Oede, leer blieb der große Wartesaal während einer Viertelstunde. Da plötzlich öffnete sich die Thüre, eine hoch und schlank gewachsene Frauengestalt in dunkler, eleganter Kleidung erschien auf der Schwelle, sah sich prüfend in dem Raume um und trat dann ein. Erschöpfung lag in jedem ihrer Züge, alle Bewegungen verriethen völlige Ermattung. Langsam, mit fast schleppendem Schritt ging sie voran, dem Damenzimmer entgegen, stieß die Thüre auf und sank auf den nächststehenden Stuhl, wo sie bald darauf die Augen schloß.

Wäre sie so dort nur eine Viertelstunde geblieben, hätte sie die müden Augen nicht geöffnet, es wäre ihr viel Elend – der traurigste Augenblick ihres Lebens erspart worden. Aber es mochte wohl ein böser Traum sein, der sie durchzuckte, sie fuhr im Schlafe auf und öffnete die Augen. Mit forschendem Blick den Raum durchschweifend, blieb er plötzlich an Etwas haften, das sie emporschnellte mit der Elastizität einer Feder. Ein „Unmöglich!“ entrang sich ihren Lippen, und doch war’s Gewißheit! Scheu, angsterfüllt, mit stockendem Athem trat sie dem Sopha nah, und nicht entschwand, wie sie gehofft, jenes reizende, jenes ihr so furchtare Bild! Dort lag diese Fülle und Pracht lichtblonder Locken, die sie so oft als Spiel der Winde gesehen, dort ruhte ein Köpfchen, so lieblich und schön, wie sie sich als Kind die Engel geträumt, dort lag still und friedlich im tiefsten Schlafe, was ihr den Frieden des

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 627. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_627.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)