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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Im Damenzimmer.
Skizze den Louise Ernesti.
(Schluß.)

Während aus dem nicht entfernt liegenden Bahnhofe um diese Zeit eine dichtgedrängte Menschenmasse die Leiche eines jungen schönen Mädchens umstand und in dem allgemeinen Entsetzen immer und wieder die Frage laut wurde: „wer mag es sein? wo kommt sie her?“ hatte der junge Mann an der Landstraße aus jener Tasche ein Papier gezogen, geöffnet und als einen Reisepaß erkannt, der auf den Namen „Ellinor Wood“ lautete.

Außer diesem Paß enthielt der Reisebeutel ein Packet Briefe, die alle jene Namensaufschrift trugen, alle mit den kurzen und doch so bedeutungsvollen Worten: „For ever Harry West“ unterzeichnet waren.

„Armer Harry!“ rief der junge Mann, als er flüchtig einzelne der Briefe durchflogen und bei seiner weitern Untersuchung der Tasche an ein kleines Bild gelangte, das einen jungen Officier in englischer Uniform darstellte.

„Armer Harry!“ rief er abermals, als er, ein Portefeuille öffnend, dort einen ungesiegelten Brief fand, der nächst der Adresse: „An Mr. Harry West“ die nähere Bezeichnung seines Aufenthalts trug. „In der Krim also! Nun, diesen Brief sollst Du noch haben, und wer weiß, ob es nicht so wie so der letzte gewesen wäre. Feindliche Kugeln nehmen ja ebenso wenig Rücksicht auf liebende Herzen, wie eifersüchtige Weiber. Eher, als Ihr Beide dann gedacht, seid Ihr vielleicht vereint, dort vereint, wo das „for ever“ nicht so fraglich ist, wie hier auf dieser jammervollen Erde.“

Der junge Mann packte Alles wieder in die kleine Tasche und trat den Weg zum Bahnhof an, wo er unter allen Verstörten den Wirth am verstörtesten fand.

„Ah, Herr Lieutenant, Sie!“ rief Jener aus, als er des jungen Mannes ansichtig wurde, „auch Sie kommen heut an diesen Ort des Unglücks?“

„Für mich ist’s in Wahrheit ein Unglücksort, denn ich höre, daß ich den Zug nach O… verpaßt habe. Aber was ist Euch, was habt Ihr, ist Eure Frau –“

„Ach nein, ach nein! kommen Sie, hören Sie das Entsetzliche!“

Als der Wirth berichtet, wen und was man vor kurzer Zeit in dem Damenzimmer entdeckt, bat der Officier, ihm die Todte zu zeigen, und als er an der Stätte des Verbrechens fragte: „Und Ihr wißt also eigentlich gar Nichts?“ betheuerte der Wirth laut: „Nein, Nichts!“ fügte aber leiser, in vertraulichem Tone das hinzu, was der Bahnhofwärter Grunewald ihm vor seinem Fortgehn von der Fremden gesagt.

„Werdet Ihr das bei Gericht angeben?“ fragte der Andere ernst.

„Bewahr’ mich Gott, Herr von H…dorf! wo werd’ ich als rechtlicher Mann Etwas auf das Geklatsch eines ehemaligen Bedienten geben und dadurch eine so hochstehende und achtungswerthe Familie, wie die des Grafen B****, in diesen Mord verflechten!“

„Ihr seid ein vernünftiger Mann, bester Schulz, – ein so vernünftiger, daß Ihr auch hoffentlich Nichts darin finden werdet, wenn ich mir von diesem reizenden Kopfe der Todten eine kleine Skizze mache und eine Locke dieses schönen Haares abschneide.“

Als Herr von H…dorf wenige Wochen später in einer vom Schauplatz des Verbrechens weit entfernten Stadt den Brief an Mr. Harry West zur Post gab und diesem Briefe ein kleines Packet beifügte, sagte er vor sich hin: „Mög es Dir Freude machen, Camerad! und ist’s Deine letzte auf Erden und kommst Du eher als ich dorthin, wohin die Kleinlichkeiten des Lebens nicht dringen, dann vergiebst Du mir auch wohl, daß ich jenes unglückliche Weib durch Verrath nicht noch elender gemacht habe!“

3.

Acht Jahre sind seit den in dem vorigen Abschnitt geschilderten Ereignissen vergangen. In anderem Lande, anderer Umgebung, in völlig verschiedener Stimmung und gänzlich veränderter Lage finden wir die schöne Gräfin Natalie wieder.

Sie durchschreitet am Arm ihres Gatten eine Reihe Prachtgemächer in einer der größern Residenzen Europa’s. Die Säle und Zimmer prangen alle im herrlichsten Festesschmuck, und von den herabhängenden Lüstres, den hoch aufsteigenden Candelabern, den Kerzenreihen über den breiten Flügelthüren strömt ein Meer von Licht und Glanz herab.

Zu den von Zufriedenheit, von innerem Glück leuchtenden Zügen des Mannes steht das ernste, fast düstere Antlitz der Frau, das eine beinahe geisterhafte Blässe deckt, in sonderbarem Contrast. Als sein Mann sie umschlingt, seine Lippen ihre Stirn berühren und seine weiche, klangvolle Stimme spricht: „Sei nur heiter, heiter, meine Natalie!“ da versuchen ihre Lippen zu lächeln, aber Thränen steigen in den tiefen ernsten Augen auf.

Er stellt sich vor sie hin, legt seine beiden Hände auf ihre Schultern und schaut sie voll Liebe, voll Bangen an. „Natalie, kannst Du nie den Schmerz vergessen,“ fragt er im Tone der Zärtlichkeit, „den ich Dir heut vor zehn Jahren durch meine Strenge zugefügt? Vergiß und vergieb endlich.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 641. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_641.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)