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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Herr von H…dorf zog ein altes Zeitungsblatt aus seiner Brieftasche. „Unter den erschütternden Berichten,“ las er, „wie die barmherzigen Schwestern oft Todte und Verwundete auf dem Schlachtfelde finden, nimmt folgende kleine Episode das Interesse Mancher vielleicht mehr in Anspruch, als die größte Schreckensscene des Krieges. Nach dem letzten blutigen Gefechte fand eine der thätigsten und aufopferndsten Diakonissinnen einen jungen sterbenden englischen Officier, dessen brechendes Auge an einem Medaillon hing, worin sich das Bild eines der lieblichsten Mädchenköpfe und eine Locke des schönsten blonden Frauenhaars befand. So lang seine Hand Kraft zum Halten hatte, so lang umklammerten die Finger auch dies Eine, was für ihn im Leben vielleicht sein Alles umschloß!“

„Und Sie glauben, daß jener Sterbende Harry West war?“

„Ich vermuthe, ich hoffe es!“

Nach langer Pause, als der Fremde sich Gräfin Clara empfehlen wollte, ergriff sie seine Hand und fragte unter Thränen: „Wie, mein Herr, wie kann ich Ihnen vergelten, was Sie gethan, wie Ihnen danken?“

„Mein Schweigen war mir kein Opfer,“ sagte der junge Mann, „ich that’s einfach aus Gründen der Menschlichkeit, und Dank verdiene ich deshalb nicht. Wollen Sie mir aber einen Gefallen erweisen, so geben Sie mir Aufschluß über die Ursache jenes entsetzlichen Doppelmordes und – sagen Sie mir, was aus den hinterbliebenen Kindern geworden ist.“

„Lassen Sie mich das Letzte zuerst beantworten! – Meine älteste Nichte ist nach Auflösung ihrer Verlobung in den Orden der frommen Schwestern zu ** getreten; die beiden erwachsenen Söhne haben beschlossen, im Auslande Dienste zu suchen; die drei jüngsten Kinder sind hier bei mir auf dem Gute. Werfen Sie einen Blick durch jenes Fenster, – sehen Sie sie spielen in der glücklichen Sorglosigkeit jenes Alters, in dem man noch Alles leicht vergißt, und hoffen Sie mit mir, daß die Jahre ihnen mehr und mehr die traurige Erinnerung an ein so furchtbares Ereigniß ihres Lebens nehmen werden.“

Gräfin Clara ging nach diesen Worten an ihren Schreibtisch, und Herrn von H…dorf den letzten Brief ihres Bruders und ein Tagebuch ihrer Schwägerin gebend, das sie in dem verborgenen Fache eines Büreaus gefunden, worin Jene wichtige Papiere aufzubewahren pflegte, sprach sie ernst. „Aus Beiden werden Sie Alles ersehen, was Sie zu wissen wünschen; das Tagebuch wird Ihnen völligen Aufschluß über eine That geben, die, im Dunkel der Nacht vollführt, durch Ihre Rücksicht mit im tiefsten Dunkel für die Welt geblieben ist; – dieser Brief aber wird Ihnen offenbaren, daß jene finstere That im Damenzimmer zu E* gesühnt worden, – furchtbar gesühnt ist und sich in entsetzlicher Weise gerächt hat.“




Im Lager von Chalons.
(Schluß.)

Um nicht Alles aus den Städten einführen zu müssen, sind hinter den Baracken des Lagers Gemüsegärten angelegt worden, welche von den Soldaten selbst bearbeitet werden. Das hat einen doppelten Vortheil: es verschafft den Truppen eine frische, angenehme Kost und nimmt einen Theil der freien Zeit in Anspruch, die sie jetzt nützlich hinbringen, während sie sonst auf Spiel und Müßiggang verwendet wurde.

Der praktische Sinn des französischen Soldaten, welcher sich ganz wunderbar in alle Lebenslagen zu schicken und den größten Vortheil daraus zu ziehen weiß, bewährt sich auch hier. Bei dem Mangel an Wald und Gesträuch fehlt es dem Lager und folglich auch den einzelnen Zelten an Schatten, was besonders im Sommer sehr unangenehm wird. Wer nun nicht so glücklich ist, seinen Zeltpfahl unter oder neben einem Baume aufschlagen zu können, der hilft durch Anpflanzung von schnell wachsendem Gesträuch, großen Blättern und Blumen nach. Ueberall, wo es nur zu machen ist, muß die hochstämmige Sonnenblume zugleich Zierde und Schatten verleihen.

Damit noch nicht zufrieden, haben sie auch noch für andern Schmuck gesorgt, indem sie an hervorragenden Stellen Bildsäulen aus Gyps aufrichteten, welche noch die besondere Bestimmung haben, durch allegorische Andeutungen die vielfachen Siege der französischen Nation in’s Gedächtniß zurückzfrufen.

Ein Musiker, der auch in plastischer Hinsicht ein wenig von den Musen angelächelt worden ist, hat alle diese Bildsäulen in freien Stunden geschaffen. Er heißt Lempereur, welchem Umstande wir eine nette Anekdote verdanken. Als nämlich der Kaiser zuerst darauf aufmerksam gemacht wurde, fragte er nach dem Künstler und seinem Namen. „Wer hat diese Statuetten angefertigt?“ „Lempereur,“ war die Antwort. Da der Kaiser sich nun sehr wohl bewußt war, niemals solche Sünden in Gyps begangen zu haben, so stutzte er und fragte noch einmal nach dem Verfertiger. Er erhielt immer von Neuem die Antwort: „C’est Lempereur!“ bis sich denn endlich herausstellte, daß der plastische Musikus Lempereur heiße. Der Kaiser lächelte, ließ sich den Künstler vorstellen, beschenkte ihn und ermunterte ihn, fortzufahren. Hoffentlich wird er es mit einem bessern Erfolge thun, als bisher.

So ist Alles hübsch und nett, selbst die Trinkstuben entbehren des Geschmackes nicht; man trifft keine einzige ohne ihren Pavillon vor derselben.

Das Hauptquartier, dem wir doch auch einige Worte widmen müssen, hat eine solche Lage, daß man aus demselben einen Ueberblick über das ganze Lager hat. Es besteht aus einer Anzahl kleiner, steinerner, fast zu zierlich erbauter Häuser. Der kaiserliche Palast, wenn wir das Gebäude so nennen dürfen, hat natürlich eine größere Ausdehnung und bedeutendere Verhältnisse, aber er ist ebenfalls in dem jetzt landläufigen, nichtssagenden Eisenbahnstyle erbaut. Er trägt eben die ephemere Dauer an der Stirne, welche bei einem Lagergebäude natürlich ist.

Dieses Hauptquartier, welches in der großen Zeltstadt ein Städtchen für sich bildet, enthält noch große Räume für Gäste, wo täglich an langen Tischreihen Table d’hôte gespeist wird. Die hübsche Militärmusik, welche hier bei jedem Mahle aufspielt, würzt die Speisen und erhebt den Gast eine Weile über den kriegerischen Lärm der volkreichen Soldatencolonie.

In der letzten Hälfte des Monats Juli hatte der Kaiser seinen in Düsseldorf residirenden Verwandten, den Fürsten Anton von Hohenzollern-Sigmaringen, zum Besuche im Lager eingeladen, und dieser war mit seinem Sohne, dem Prinzen Anton, der Einladung gefolgt.

Nachdem Wettrennen und andere Festlichkeiten vorangegangen waren, fanden am 22. vor dem hohen Gaste Manöver statt, welche eine großartige Wirkung hervorbrachten. Es kann hier die Aufgabe nicht sein, auf dieselben näher einzugehen, doch können wir es uns nicht versagen, zu erwähnen, daß die Frontveränderungen in kolossalem Maßstabe von mehreren großen Truppenkörpern mit einer seltenen Präcision und Schnelligkeit ausgeführt wurden, wie denn überhaupt die Beweglichkeit der französischen Infanterietruppen die der deutschen bei Weitem übertrifft.

Die Bataillons- und Pelotonsfeuer geschahen mit einer solchen Ruhe und Genauigkeit, daß man in der That nur einen einzigen Schuß zu hören glaubte.

Den Glanzpunkt aber bildete eine Schwärmattaque der Spahis, die aus der Reserve plötzlich durch die Intervalle der übrigen Cavallerie hervorbrachen, sich in rasender Schnelligkeit ausbreiteten und nach Art der Kabylen in voller Carrière Feuer auf den Feind gaben.

Die äußere Erscheinung der afrikanischen Truppen ist in einem hohen Grade interessant. Wenn man diese wilden Söhne einer fernen, glühenden Zone einzeln und in Schwärmen daherfliegen sieht, so wird die Phantasie auch des nüchternen Schauers thätig. Unwillkürlich glaubt man sich nach Afrika versetzt, man sieht im Geiste die Palmen und hört über dem Haupte ihr Rauschen. Die Gestalten dunkelbärtiger Emirs steigen vor unsern Augen auf, wie sie mit flatternden Gewändern und blitzenden Augen in rasendem Galopp über die sandigen Flächen jagen oder in stiller, träumender Beschaulichkeit vor ihren Zelten sitzen, dem fernen Hufschlage lauschend oder über kriegerischen Unternehmungen brütend.

Die Einbildungskraft durchbricht dann alle Schranken der Wirklichkeit und schwingt sich mit einem kühnen Rucke über alle

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 644. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_644.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)