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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)


Aus den Tyroler Bergen.
Von Adolph Pichler.

Der Wanderer, welcher auf dem Wege nach Achenthal vom Tegernsee herkommt, hat bald einen sehr steilen Felsenkegel vor Augen, der sich rechts vom Bade Kreuth über waldigen Vorbergen erhebt. Hinter einer Kante des Gipfels lauert Stanis, wie von einer Warte die verschlungenen Pfade überblickend, welche sich tief drunten von der Straße abzweigen und durch das Gebüsch winden. Zu seinen Füßen liegt ein Gemsbock, er hat ihn bereits aufgebrochen und die Eingeweide hinabgeschleudert, vorher jedoch ein Stückchen von der rohen Leber mit Salz bestreut verzehrt, um sich einen schwindelfreien Kopf zu erhalten. Die Vorderfüße sind unter den Sehnen der Hinterfüße durchgezogen auf eine Art, daß er das Wild schnell und bequem um den Hals über den Rücken hängen kann. Stanis ist von kurzem, gedrungenem Körperbau mit breiter, hochgewölbter Brust, über dem linken Ohr sitzt keck das grüne Hütchen mit dem Spielhahnstoß und beschattet das scharfe graue Auge, die gebogene Nase springt zwischen den magern Wangen, welche kaum der erste Flaum umsäumt, bestimmt und fest hervor, und der wohlgeformte Mund mit trotzig aufgeworfener Unterlippe, die stark entwickelten Kiefer deuten auf Härte und Entschlossenheit. Es sind die Züge eines Raubthieres, wenn auch eines edlen, man könnte an den Alpenadler denken. Eine graue Joppe, graue Hosen und Strümpfe, über denen das nackte, von biegsamen Sehnen umflochtene Knie hervorragt, vollenden den Anzug. Wenn er sich nicht rührte, möchte man ihn wohl für ein Stück Fels halten.

Stanis war ein weitum berühmter oder berüchtigter Wildschütz. Die bairischen Jäger behaupteten, er sei kugelfest und könne, wenn man ihn dränge, in den Felsen verschwinden. Freilich that es ihm Keiner im Klettern gleich, wie eine Fliege über eine senkrechte Wand läuft, entrann er über die Schorfen, wenn er nur einen Finger oder einen Nagel der schweren Bergschuhe einhacken konnte. Bisweilen nahm er ein Hündlein mit; das arme Thier vermochte ihm nicht zu folgen, da steckte er es in den Schnappsack und trug es über die kahlen Felsenrünste. Der zweitgeborne Sohn eines reichen Bauern im Unterlande, zog er es vor, den ganzen Herbst zu wildern, anstatt auf dem Felde Garben zu schneiden und Korn zu dreschen. Schon lange hatten ihn die Baiern auf dem Strich, ja es war sogar ein Preis auf seine Einlieferung gesetzt, das kümmerte ihn aber wenig, er war frech genug, Nachts vor den Fenstern der Jäger Trutzliedeln zu singen; am Sonntage ging er wohl auch in Tegernsee zur Kirche, wobei man ihm, da er harmlos ohne Waffen erschien, nichts anhaben durfte. Im Wirthshaus versuchten es einmal fünf Jäger, ihn durch Sticheleien zu reizen, er lächelte nur bisweilen und trank ruhig sein Bier, da wagte es Einer, trat ihm auf den Fuß und stieß seinen Stuhl fast um. Nun sprang Stanis auf wie eine Stahlfeder, zeichnete den Kecken mit seinem Schlagringe und warf die Andern, welche Jenem zu Hülfe eilten, durch Thür und Fenster hinaus. Die wilde Rauferei dauerte keine fünf Minuten, seitdem ließ es sich Niemand mehr beifallen, mit Stanis anzubinden.

Nur ein Gegner lebte, dem auch er auswich, und dieser kletterte jetzt den steilen Pfad heran. Dieser war der Förster Peter Auer; der Schuß, mit welchem Stanis die Gemse erlegt, hatte ihn angereizt, den Wilderer zu suchen und zu fangen. Auer glich einem Recken der Vorwelt, an Größe überragte er alle Andern, und obwohl ein Greis von sechszig Jahren, war er noch so stark, daß er als Grundstein für sein neugebautes Häuschen einen Block von beiläufig fünf Centnern frei auf der Schulter herbeitrug und versenkte. Nur beim Klettern merke er das Alter, er mußte langsamer gehen, als in der Jugend, wo er sich wie eine Gemse von Absatz zu Absatz schwang. Stanis ließ ihn ruhig herankommen; als er etwa noch dreißig Schritte entfernt war, streckte er den Stutzen vor und rief ein donnerndes „Halt!“

Der Alte war überlistet. Sei’s Jäger oder Wildschütz, dem dieses begegnet, er muß, will er nicht ein Opfer des Todes sein, die Büchse ablegen und beiseite stellen. Auer erkannte den Stand der Dinge augenblicklich, er wußte, daß Widerstand vergeblich sei, und lehnte sein Gewehr an die Felsenwand. Eine solche Entwaffnung sieht Niemand für schmählich an, ebensowenig als wenn bei einem Duell dem Gegner der Degen aus der Hand geschlagen wird.

Nun trat Stanis vor: „Hast mich fangen wollen, gelt? Bist jedoch abgeschlüpft. Laß gut sein! Du bleibst auf Deinem Platz stehen, die Büchse nehm ich zur Sicherheit mit, dort drunten beim Kreuz kannst Du sie wieder aufklauben. Rührst Dich aber, oder giebst Laut, so schieß ich zurück.“

„Du hast Glück,“ erwiderte Auer, „viel Glück, aber mißbrauch es nicht länger, sonst holt Dich endlich die Strafe Gottes ein.“

„Fasten ist vorbei, brauchst mir nicht zu predigen,“ antwortete Stanis. „Eigentlich hätt’ ich die Gelegenheit nutzen und Dir das Licht ausblasen sollen, wie Du’s unbarmherzig vielen meiner Landsleute gethan, aber Du bist ein alter Mann, hast ohnehin nimmer lang zu leben und siehst ganz meinem Vater gleich; geh’ dieses Mal in Frieden, steig mir aber nicht mehr nach, sonst –“ Er schwieg und nahm Auer’s Gewehr, vor seinen Augen riß er die Zündkapsel ab, spuckte auf das Schloß, daß der Schuß nicht mehr losgehen konnte, belud sich mit der erlegten Gemse und stieg, ohne sich um den Jäger weiter zu kümmern, bergab.


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 657. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_657.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)