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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Und nun zogen alle Drei und zahlreicher Publicus hinterdrein dem Polizeigerichte von Bowstreet zu. Kläger wie Gerichtshof waren gleichgespannt auf die Erklärung des Wunders, das einem Menschen das Geld unter den festhaltenden Fingern aus der Tasche zu zaubern vermag, und der Erstere sicherte dem Meistergauner Straflosigkeit zu, unter der Bedingung, daß dieser mittheile, mit welchem Kniffe er den Diebstahl vollführt habe.

„Nun, sehen Sie, meine Herren,“ bekannte der Verbrecher, „ich kam gerade aus dem Citythore heraus, wie Sie drüben auf Mr. Child’s Bank lossteuerten, und dachte mir gleich, daß da ein gut Stück „Zinn“ (so nennt die englische Gaunersprache das Geld) eingesackt werden sollte. Ich machte mich darum hinter Ihnen in das Bureau hinein und sah, wie Sie das Geld einstrichen. Jetzt waren Sie mir schon so gut als gewiß. Ich ging Ihnen nach, und wie Sie an das Somersethouse kamen und sich einen Augenblick die grauen Mauern anguckten, da kitzelte ich Sie mit der kleinen Feder hier im rechten Ohre. Sie vergaßen für den Moment Ihren Schatz und nahmen die Hand aus der Tasche, um die zudringliche Fliege, oder was sonst Sie juckte, fortzuschaffen – und während dem fuhren meine Finger geschwind nach Ihrem Beutel und holten sich das Moos!“

Selbstverständlich bietet ein Menschengedränge, ein Auflauf oder Tumult dem Langfinger die besten Chancen. Wenn sich also nicht zufällig schon irgendwo eine solche deckende Menschenauhäufung vorfindet, so muß eine geschaffen werden, und um die Mittel und Wege dazu sieht sich der Pickpocket nicht verlegen. Seine erste Sorge ist es, den passenden Operationsplatz zu wählen, d. h. einen Platz, den geldführende Individuen zu passiren pflegen. Geschickt wirft einer der Helfershelfer – nie der ausführende Wire selbst – einen Stein in das nächste Schaufenster. Das schönste Gedränge ist fertig, und das Geschäft der Wires beginnt.

Das ist jedoch ein ziemlich verbrauchter Coup, der blos unter besonders günstigen Umständen, wenn irgend eine bestimmte Veranlassung, sei es eine Vieh- oder eine Blumen-, eine Hunde- oder eine – Kinderschau, ein großes Bootrennen auf der Themse oder eine feierliche Cricketpartie, in welcher Manchester gegen Liverpool oder Cambridge gegen Oxford Ball schlägt, eine zahlreiche Landbevölkerung und Kleinstädtermenge „hinauf“ nach London führt. Vor einem andern feinern Kniffe mag sich dagegen der mitleidige Fremde, der noch nicht lange genug die Londoner Rußluft geathmet hat, um von vornherein gegen alle Ansprachen, Bestrebungen und Productionen mißtrauisch zu sein, mit denen auf seine Theilnahme speculirt wird, vorzugsweise hüten.

Es ist etwa die Stunde, wo sich die großen Geschäftshäuser der City leeren, ihre Eigner und Gehülfen westwärts heimtrachten und, wer es kann, sich beeilt, um in den mächtigen Sauerstoffreservoirs, den Parks, die den Tag über geschluckten Miasmen und Kohlenatome möglichst aus den Lungen zu pumpen. Die Straßen des Westends füllt jetzt das eleganteste Publicum, zu Fuß, zu Wagen und zu Roß. Jählings stockt der Menschenstrom; an der Hydeparkecke oder vor den Villen von Parklane, in Knightsbridge oder vor dem Albertsthore stürzt ein unglücklicher Epileptischer zu Boden. Die Hände sind ihm fest geschlossen, die Augen stier, und Arme und Beine schlagen in gräßlichen Zuckungen um sich. Die Fußgänger bleiben stehen, einzelne Reiter steigen von den Pferden, und schnell hat sich ein Kreis von Mitleidigen und Neugierigen um den Kranken gebildet. Der Eine rathet dies Mittel, der Andere erbietet sich zu jener Hülfsleistung, bis allmählich der Leidende wieder zu sich kommt und mit matter Stimme bittet, ihm eine Droschke herbeizuholen, in der er, von dem Bedauern der Umstehenden gefolgt, davonfährt und – sich in’s Fäustchen lacht. Denn die ganze haarsträubende Scene war nichts Anderes als eine meisterlich gespielte Komödie, und der Krampfbehaftete nur der kunstgeübte Helfershelfer schlauer Taschendiebe, die während des Spectakels eifrig ihre goldene Ernte eingeheimst haben, bald die Mitleidigsten unter den Mitleidigen spielend, bald von dem Kranken keine Notiz nehmend, je nachdem es ihren Zwecken gemäß erscheint. Und morgen wiederholt sich das Schauspiel an einem andern Platze des Westends; der Fallsüchtige macht nämlich aus seiner seltsamen Kunstleistung seinen täglichen und ausschließlichen Lebensberuf, oft Jahre lang und unter den Argusaugen und vor den Spürnasen der schutzmannschaftlichen Blaufräcke selbst. Denn die löbliche Compagnie deren stiller Theilhaber er ist, sorgt dafür, daß der Name ihres trefflichen Mimen noch auf keinem Londoner Polizeiregister figurirt. Auch muß der Mann immer in anständigem, doch nie in auffälligem oder stutzerhaftem Anzuge erscheinen und den ältlichen Gentleman von mäßigen Mitteln copiren, der von vornherein auf Sympathie Anspruch machen darf.

Ab und zu trifft man an Straßenecken, da, wo das Wagenchaos minder gefahrdrohend ist, einen echten oder falschen Krüppel (ohne alle Füße, mit nur einem Arme oder mit einem Stelzbeine) auf dem Trottoir knieen oder kauern, welcher mit verschiedenen bunten Stiften allerhand sehr drastische Figuren und Gruppen auf die Wegplatten malt. Natürlich zieht das ein gewisses Publicum bescheidnerer Art, Ladendiener und Köchinnen, Domestiken und Arbeiter, herbei, und der zufällig vorübergehende Fremde bleibt wohl auch eine Minute stehen, um zu sehen, was die Scene zu bedeuten hat, und einen Blick auf die oft mit entschiedenem Geschicke gemachten unzweideutigen Schildereien zu werfen. Der verstümmelte Künstler ist aber wieder nur ein Diebeshelfer, der Spießgeselle von Beutelschneidern einer untergeordneten Kategorie, die, während sich die farbigen Linien auf dem Asphalte zum pikanten Bilde zusammensetzen, sich die wenigen Schillinge oder Pence zu Gemüthe führen, welche die arglosen Gaffer bei sich tragen.

John Bull’s Steifheit, Rückhaltung und vorsichtige Wortkargheit, wenn er sich Jemandem gegenübersieht, der ihm nicht in optima forma vorgestellt und als „respectabel“ bekannt, ist auf dem ganzen Continente zum Sprüchwort und typischen Komödienvorwurfe geworden, und ein Engländer, der an einen Fremden auf öffentlicher Straße oder an öffentlichem Orte gar das erste Wort richten oder ihm anders als mit einem frostigen „No“ oder „Yes“ antworten wollte, sündigte gegen die Urerz-Grundregel der nationalen Anstandslehre. Diese britische Unnahbarkeit trägt nicht zum kleinsten Theile dazu bei, daß sich der an offene Mittheilsamkeit und freiern geselligen Verkehr gewöhnte Ausländer anfangs unter den Söhnen Albions so unbeschreiblich unbehaglich fühlt. Es ist daher erklärlich, wenn er es als einen ihm leuchtenden besondern Glücksstern betrachtet, sobald ihm einmal eine Ausnahme von dieser unerträglichen britischen Exclusivität aufstößt, und sich freut, wieder einmal von Herzen und nach Herzenslust plaudern zu können. Allein ich kann meine Landsleute nicht genug warnen vor diesen gemüthlichen Engländern, die uns auf der Straße, auf der Eisenbahn und im Omnibus in ein Gespräch zu verwickeln suchen. Tragen dieselben nicht einen völlig untrüglichen Stempel der Biederkeit auf ihrem Gesichte, alsdann bleibe man zugeknöpft – auch im buchstäblichen Sinne – wie der zugeknöpfteste Brite; denn nur zu häufig stehen die freundlich mittheilsamen Herren zur großen Londoner Gaunerwelt in sehr innigen Beziehungen und bemühen sich, uns durch liebenswürdige Unterhaltung festzuhalten, lediglich, damit der Wire, dessen Geschäftskumpane sie sind, die nöthige Zeit findet, den vertrauensnollen Fremden recht gründlich zu durchforschen. Meistens sind die Mittheilsamen, was der Engländer „geknickte“ (broken down) Gentlemen nennt, „Lebensberufverfehler“, die einmal bessere Tage gesehen und darum sich noch eine gewisse Respectabilität in Wesen und Mienen erhalten haben. Um selbst als Wires noch etwas leisten zu können, sind sie zu alt, denn der Dieb muß in der Diebeshöhle geboren und von Klein auf zu seiner Kunst geschult und gedrillt werden, um sich zur Meisterschaft aufzuschwingen; zu Annexions-Helfershelfern aber macht sie jener letzte Schimmer von Achtbarkeit, der ihrem Auftreten geblieben ist, vorzugsweise geschickt. Mit einem Worte, sie sind ein Köder der allergefährlichsten Sorte, vor dem man sich kaum zu viel in Acht nehmen kann. –

Mit der folgenden Falle wird hauptsächlich das zartere Geschlecht, namentlich von gewissem Alter, gefangen. Ein Bürschchen von vier, fünf Jahren mit weißgewaschenem Gesichte und sauberem Kittel oder ein nettgekleidetes kleines Mädchen steht mit betrübter Miene auf der Straße und starrt rathlos auf die Aufschrift eines Briefes, den es bestellen soll. Das arme Ding hat die Adresse vergessen und weiß nun seiner Noth kein Ende. Eben kommt da eine würdige Matrone des Wegs gegangen. Schüchtern trippelt das trostlose Kind an sie heran und bittet ängstlich, ihm doch die vergessene Adresse lesen zu wollen. Wer könnte so hartherzig sein, dieser Ansprache zu widerstehen? Die Dame nimmt dem Kleinen das Billet aus der Hand, sucht vielleicht erst nach dem Brillenfutteral, das sie in der Tasche hat, setzt bedachtsam die Gläser auf die Nase und willfahrt dann gutmüthig und wortreicher, als unbedingt nöthig, dem an sie gestellten Gesuche. Mittlerweile aber

lohnt ein schon lauernder Wire ihre Freundlichkeit, indem er ihr die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 826. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_826.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)