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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Im Kerker der Hoffnungslosen.

Wenn man in Paris auf dem Bastilleplatz neben der Julisäule steht, so führt links von der breiten, jetzt auch macadamisirten Straßenader, welche die Vorstadt St. Antoine bis zur Barriere du Trône durchschneidet, eine ziemlich schmale Straße von unbedeutendem Aussehen nach Nordost. Es ist die Straße de la Roquette. Der ganze Charakter dieser Straße ist wesentlich verschieden von dem Charakter der andern Straßen, welche die in allen Pariser Revolutionen so berühmt gewordene Vorstadt durchschneiden. Sie ist einsamer, stiller und ruhiger; die Café’s, Läden und Werkstätten verschwinden bereits noch vor der Stelle, wo die Straße den neuen Boulevard „Prinz Eugen“ kreuzt; dann wird das Aussehen derselben von Schritt zu Schritt sogar ärmlich und schmutzig. Die Asphalttrottoire hören auf, das Pflaster wird unregelmäßig, die hohen Pariser Häuser schrumpfen zu einstöckigen, kleinen Gebäuden zusammen. Noch wenige Minuten, und das ganze große, glänzende und geräuschvolle Paris ist verschwunden; man sieht sich mit einem Male an die äußere Grenze der Vorstadt versetzt. Der Wechsel ist um so plötzlicher, da die Straße Roquette in ihrer ganzen Länge kaum eine Viertelstunde mißt. Jenseits des Boulevard „Prinz Eugen“ wird der Charakter der Straße völlig traurig. Grabsteine, Steinkreuze, Todtenkränze, Bilder, welche den Tod und das Grab darstellen, Cypressensträuße, Epheu- und Immortellenkränze bilden die Staffage der Erdgeschosse der ärmlichen Häuser; der Fremde, der die Straße zum ersten Male durchwandert, kann nicht mehr im Zweifel sein – die Straße de la Roquette muß zu einem Friedhofe führen. Und so ist es auch. Sie führt gerade zu der berühmten Begräbnißstätte der Stadt Paris, dem Friedhofe „Père Lachaise“.

Aber sie führt noch an einer anderen Begräbnißstätte vorüber, die vielleicht die Wenigsten von den vielen Tausenden, welche die Straße zum Friedhofe des „Père Lachaise“ wandern, kennen oder beachten. Kurz bevor die Straße den äußern Boulevard kreuzt, erheben sich zur rechten und zur linken Seite derselben zwei kolossale Gebäude von düsterem, unheimlichem Aussehen. Halb schauen sie wie Gefängnisse, halb wie befestigte Forts aus. Hohe Mauern schließen sie in ihrem ganzen Umfange ein. An den Ecken und über den vergitterten Eingangsthoren sind die hohen Mauern mit Thürmen gekrönt, und aus dem innern Raum dieser düstern Umfassung blicken uns die Giebel kolossaler Gebäude an, welche auf der linken Seite der Straße eine sternförmige Gestalt haben. Zu welchem Zwecke dienen diese beiden finstern Gebäude? Das Gebäude links mit den hohen, sternförmig sich ausbreitenden Häusergiebeln ist das Gefängniß für junge Verbrecher von sechs bis zwanzig Jahren. Es ist der einzige Pariser Kerker, welcher einen vollständig inhumanen Charakter trägt; denn in seinen Gängen und Zellen ist die Isolirhaft in ihrer äußersten Strenge eingeführt. Das Gebäude rechts ist nur in den Menschen, welche in demselben detinirt werden, und in dem Schicksale, dem diese Menschen entgegengehen, fürchterlich; in seinen Räumen und in der Behandlungsweise der Verbrecher, welche diese Räume füllen, waltet die humane Behandlungsweise, welche ich in allen französischen Gefängnissen gefunden habe und welche niemals den Zweck der Haft überschreitet. Es ist das Gefängniß der Bagnosträflinge und der zum Tode Verurtheilten, der Lagerplatz des Ausschusses der Bevölkerung des Seinedepartements, bis sie in die Bagnos und nach den Deportationsplätzen in Cayenne abgeführt werden – oder bis sie die Guillotine besteigen. Aus diesem Gefängnisse erlösen nur zwei Dinge, die schrecklichsten im Menschenleben: das Bagno oder der Tod durch Henkershand. Das Gefängniß führt den Namen nach der Straße, welche an seinem finstern, vergitterten Eisenthore vorüberführt. Es heißt „la Prison de la Roquette.“ Sein Ursprung ist ganz neuern Datums. Es ist erst im Jahre 1851 erbaut.

Zwanzig Schritte vor dem vergitterten Eingangsthore, immer noch an der linken Seite der Straße de la Roquette, bemerkt der Vorübergehende im Pflaster fünf größere Steine von heller Farbe. Sie bilden ein großes Quadrat, der fünfte Stein liegt in der Mitte, wo die beiden Diagonalen des Quadrats sich schneiden. Diese fünf fast unscheinbaren Steine bezeichnen den fürchterlichsten Platz in Paris. Sie sind die Verkörperung schrecklicher Erinnerungen, welche bis in das vorige Jahrhundert zurückreichen. Die Erinnerungen triefen von Blut, Schmerz und Thränen. Wir stehen, mit einem Worte, hier auf dem Platze, wo bei jeder Hinrichtung in Paris die Guillotine aufgestellt wird. Nachdem dieses fürchterliche Instrument im verflossenen Jahrhundert bald auf dem Grêveplatze, bald auf dem St. Antonsplatze, bald auf dem Revolutionsplatze, welcher heute der Eintrachtsplatz heißt, gehaust hatte und in der ersten Hälfte unsers Jahrhunderts rund um die Barrieren von Paris herumgewandert ist, hat es endlich hier seit zehn Jahren seine bleibende Stätte gefunden. Aber es steigt auch hier nur während der Finsterniß der Nacht aus der Erde, um nach dem ersten Morgengrauen wieder zu verschwinden. Die Guillotine erfüllt ihr schauerliches Handwerk, bevor sich die Sonne über den Baumgruppen des Boulogner Holzes am Himmel erhebt, und verschwindet, ehe sie der Sonne in das strahlende Feuerauge blickt. Das fürchterliche Instrument schämt sich seines Daseins vor dem Jahrhundert, welches die Menschen mit Recht das Jahrhundert der Civilisation und der Humanität getauft haben. Oder schämen sich die Mörder, welche die Todesstrafe in diesem Jahrhundert der Bildung und der Humanität über den Häuptern ihrer Brüder aussprechen? Nein, diese Mörder haben das Gefühl der Scham lange verloren. Das ist der heutige Hinrichtungsplatz für Paris, und für das Seinedepartement. Der zum Tode Verurtheilte bringt seine letzte Nacht auf der Erde entweder in den im hintern Hofe des Gefängnisses befindlichen Zellen für die Hinzurichtenden, in welche ich die Leser sogleich führen werde, zu, oder er wird aus dem andern Gefängnisse, in dem er bis dahin detinirt war, wenige Minuten vor seiner Hinrichtung in den vordern Hof der „Prison de la Roquette“ geführt, wo ihn der Henker in Empfang nimmt.

Ich zog die Klingel an dem vergitterten Eisenthor, welches auf die Straße de la Roquette hinausführt. Das Thor und der kleine Hof, in den ich von außen hineinblickte, schauten so finster aus. Und draußen lachte die Erde im Blumenschmuck und Sonnenschein. Es war ein strahlender Octobertag. Dann öffnete sich das finstere Thor, Turcos im arabischen Burnus und buntfarbigen Turban empfingen mich und führten mich zu dem Greffier. Ich zeigte ihm meine von dem Polizeipräfecten an alle Gefängnißdirectoren im Departement der Seine lautende Vollmacht vor, mich überall umherzuführen und in allen ihren Diensten und Functionen so genau und so weit zu unterrichten, wie es ihre Pflichten irgend gestatteten. Der Befehl des Polizeipräfecten erschloß mir auch das Gefängniß de la Roquette, welches sehr schwer zugänglich ist. Der Greffier klingelte. Es erschien ein Beamter des Gefängnisses. Ich bat mir als Führer einen der Brigadiers aus, welche bei Felix Orsini, dem fanatischen Gegner Napoleon’s, die letzte Nacht, bevor er das schöne Haupt auf das Bret der Guillotine legte, gewacht hatten. Der Greffier sagte mir die Erfüllung meines Wunsches zu. Der Brigadier kam. „Haben Sie bei Orsini die Nacht vor seinem Tode gewacht?“ fragte ich ihn.

„Ja wohl, mein Herr,“ sagte der Brigadier. „Ich habe sowohl bei Orsini, wie bei Pierri und auch bei Rudio manche Nacht die Wache gehabt. Wie Sie wissen werden, brachten sie einundzwanzig Tage in la Roquette zu.“

Wir gingen. Der erste kleine Hof schloß mit einem großen, mehrstöckigen Gebäude ab. Es dient zu Beamtenwohnungen, zum Aufenthalt für die Wachen – und zum Aufenthalt des Henkers, welcher hier das Opfer der Guillotine in Empfang nimmt. Heute füllten ihn die afrikanischen Soldaten in ihren malerischen Trachten. Ein zweites, mit eisernen Stäben vergittertes Thor führte in das Hauptgebäude des Gefängnisses von la Roquette. Es dient zum Aufenthalte und zu den Arbeitssälen der Bagnosträflinge und der Deportirten. Nach einigen Schritten standen wir in seiner Mitte. Die vier Seiten des dreistöckigen Gebäudes umgeben einen großen innern Hof. Ein Brunnen mit beständig fließendem Wasser bildet das Centrum desselben. Der weite Hof dient den Sträflingen als Aufenthaltsort und Spazierplatz für die Erholungszeit, wozu selbst in diesem Gefängnisse der schwersten Verbrecher zwei Stunden täglich bewilligt sind.

Da la Roquette durchschnittlich 800–900 Sträflinge enthält, welche ihre Abführung in die Bagno’s oder nach den Deportationsorten erwarten, so lösen sich dieselben für die Freistunden abtheilungsweise nach den einzelnen Divisionen ab. Auch zur Zeit, als ich den Hof besuchte, waren viele der Gefangenen in demselben anwesend. Sie gingen und sprachen miteinander, wo und wie sie wollten. Den berüchtigten Gänsemarsch, der in deutschen Zuchthäusern

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 8. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_008.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)