Seite:Die Gartenlaube (1864) 218.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

besucht, das erste Mal am 18. November (also drei Monate nach der That) und das zweite Mal unmittelbar vor dem Gerichtstage. Beidemal sei das Benehmen des Angeklagten ganz natürlich, nicht erkünstelt gewesen. Derselbe bestreite, ein Verbrechen verübt zu haben, und fühle weder Schmerz, noch Reue, noch Zerknirschung über seine That. Miß Goodwin, so behaupte er, sei sein Eigenthum gewesen, das man durch einen Act der Gewalt ihm habe entreißen wollen; er habe seine Braut angesehen wie seine Gattin, die einen Ehebruch begangen und über deren Leben er eben darum habe verfügen dürfen wie über das Geld in seinem Beutel. Um das ihm gestohlene Eigenthum wieder zu gewinnen, habe er Elisabeth getödtet; er würde es gerade so mit einem Dieb machen, der ihm ein Gemälde stehle. Er gestehe Niemandem das Recht zu, über ihn zu Gericht zu sitzen, denn er sei ein freier Mann; da er sich nicht selber in die Welt gesetzt, so könne er denken und handeln, wie es ihm beliebe, ohne Rücksicht auf irgendwen. Der Angeklagte, so finden die Aerzte, habe ganz falsche Moralbegriffe, derselbe sei auch Atheist, ja mehr als das, er leugne Gott und Unsterblichkeit. Zudem stehe er im Wahn, schon einige Wochen vor dem 21. August das Opfer von sechs Verschworenen geworden zu sein, die sein Verderben beschlossen hätten, eine Verschwörung, welche ihren Fortgang genommen habe während seiner Verhaftung; er wolle deshalb, sobald er wieder frei, das Land verlassen. Aus alledem schließen die Aerzte, daß George Townley, der zumal „wild und wahnsinnig“ aussehe, wenigstens seit dem November v. J. geisteskrank sei.

Nachdem die drei Vertheidiger, mit denen der Angeklagte erschienen war, darzuthun versucht hatten, daß George Townley, immer ein liebenswürdiger und sich selbst beherrschender Mann, durch den „furchtbaren Schlag, den seine Gefühle erlitten,“ verrückt geworden sei, entgegnete der Ankläger: sämmtliche Handlungen des Angeklagten, seine Briefe an die Ermordete, das Benehmen auf der Reise nach Wigwell, seine Aeußerungen nach der That seien die eines geistig Gesunden. Allerdings möge Townley gewisse von denen der übrigen Menschen abweichende philosophische Ansichten haben, die aber unverträglich seien mit dem Wohlbefinden der bürgerlichen Gesellschaft; das Gesetz dulde es wohl, solche Ansichten zu hegen, allein es verbiete, daß sie zu Handlungen werden; gewiß wäre es sehr gefährlich, Denjenigen, der das Stehlen nicht für unmoralisch halte, ungestraft rauben zu lassen. Die von den beiden Aerzten neuentdeckte Species von Geisteskrankheit, „die allgemeine moralische Zerrüttung“, wäre unverträglich mit der Existenz der bürgerlichen Gesellschaft.

Der Vorsitzende Richter erläuterte den Geschwornen: „Der Angeklagte habe gewiß durch die Untreue seiner Geliebten so viel gelitten, als je ein Mann litt, sein Gemüth sei wahrscheinlich krank gewesen am 21. August; daraus folge aber noch nicht die Unzurechnungsfähigkeit für seine That. Wenn George Townley wußte, daß seine Handlungsweise wahrscheinlich den Tod der Miß Goodwin zur Folge haben werde und daß er dabei gegen das Gesetz Gottes handle und gesetzliche Strafe zu erwarten habe, so ist er für seine Handlung criminell verantwortlich. Die Geschworenen haben diese Fragen zu beurtheilen und zu entscheiden nach den Aeußerungen und Handlungen des Angeklagten zur Zeit der That; eine solche Aeußerung sei: „Das Weib, das mich betrügt, muß sterben,“ hierin liege das Motiv zur That, und in der weiteren Aeußerung: „Ich werde dafür gehängt werden,“ das Bewußtsein von der Strafbarkeit dieser That. Miß Goodwin möge den Angeklagten betrogen haben, deshalb aber dürfe er ihr nicht die Kehle durchschneiden. Der Angeklagte beanspruche zwar jetzt ein mit seinen eigenen brieflichen Aeußerungen im Widerspruch stehendes Recht, über sein Weib und seine Verlobte zu verfügen wie über ein Stück Vieh, – das sei aber keine zur Unzurechnungsfähigkeit führende Sinnestäuschung, sondern nichts als eine von den gewöhnlichen Ansichten abweichende und den göttlichen Gesetzen widersprechende Ansicht.“

Nach dieser vortrefflichen Belehrung zogen sich die Geschworenen zur Berathung zurück. Schon nach fünf Minuten verkündigte der Obmann das Schuldig. Der Richter aber setzte die schwarze Kappe auf, erklärte sich einverstanden mit dem Wahrspruch der Geschworenen, da eine Freisprechung in ihren Folgen gefährlich gewesen wäre für die Gesellschaft, forderte den Angeklagten auf, seinen Frieden mit Gott zu machen, und verkündigte mit bewegter Stimme das Todesurtheil.

Kann man dem Angeklagten, der in verzweifelnder Liebeswuth zum Mörder seiner Geliebten wurde, auch die Theilnahme nicht versagen, so wird man doch den Spruch der Geschworenen gerecht finden müssen. Auch der berühmte Mohr von Venedig hätte nach menschlichen Gesetzen zum Tode verurtheilt werden müssen.




Vier Tage nach dieser interessanten Verhandlung, am Mittwoch, den 16. December 1863, wurde vor dem Central-Criminal-Gerichtshof in London ein ähnlicher Fall verhandelt, bei dessen Erzählung wir uns kürzer fassen können.

Samuel Wright, dreißig Jahre alt, dessen Herkunft uns indeß die Londoner Blätter nicht melden, ein fleißiger und ordentlicher Maurer, wohnte seit vier Monaten in London, im Süden der Themse mit der zweiundvierzigjährigen Anna Green friedlich zusammen. Beide galten, ihrer ruhigen und geregelten Lebensweise wegen, für Mann und Frau. Sie waren aber nicht verheirathet. Am Samstag, den 12. December 1863, Abends acht Uhr waren sie noch in ihrer Wohnung, „glücklich und zufrieden“. Hernach gingen sie mit einander in’s Wirthshaus. Hier soll es Streit und das Weib dem Wright zwei Streiche gegeben haben, wovon aber Letzterer selber nichts sagt. Sonntag, den 13. December, Morgens zwischen drei und vier Uhr kam das Paar nach Hause, das Weib, wenn nicht betrunken, so doch in sehr erregtem Zustand. Um vier Uhr erwachte durch einen starken Lärm in dem Zimmer über ihr eine im ersten Stocke wohnende Schneiderin. Bald darauf hört sie lautes Stöhnen. Sie wird von Angst befallen, steht auf, macht Licht und geht die Treppe hinauf, um nachzusehen, was es gebe. Auf der Treppe begegnet sie dem Wright, der nur halb angekleidet ist. Seine Hemdärmel sind aufgeschlagen, Gesicht und Arme blutig, sein Blick verstört. Auf die Frage der vor Angst fast ohnmächtigen Schneiderin: „Was giebt’s?“ erwidert er: „Sieh selber nach!“ Sie tritt hinein in die Stube und sieht hier – Anna Green, völlig angekleidet, auf den Händen und Knieen kauernd, mit einem schrecklichen Schnitt in der Kehle. Das Blut floß in Strömen auf den Fußboden. Auf dem Heerd brannte frisch angezündetes Feuer. Auf den Ruf der Schneiderin: „Um Gotteswillen, Frau Wright, was giebt’s?“ erwidert diese in schwachem Ton: „er hat mir den Hals abgeschnitten.“ Aus den Blutflecken im Zimmer schien hervorzugehen, daß ein Kampf zwischen den Beiden, stattgefunden hatte.

Als die sofort herbeigeholte Polizei und ein Arzt kamen, war Anna Green, der die Hauptarterien auf beiden Seiten des Halses durchschnitten waren, todt. Hinter der Stubenthür aber stand Samuel Wright, der auf die Frage des Constabel: „Was hat es gegeben?“ vortrat und antwortete: „Ich hab’s gethan und es ist aus.“ Auf dem Tisch lag ein blutiges Rasirmesser. Wright deutete darauf hin und sagte: „Mit dem hab’ ich’s gethan.“ Ein großes Tischmesser mit Elfenbein-Handhabe lag in der Nähe der Todten. Als der Constabel auch dieses zur Hand nahm, rief Samuel Wright aus: „Das ist das Messer, das sie gegen mich aufhob.“ Dann bat der Unglückliche, man möge ihn abführen, er könne es hier nicht länger aushalten, die Schneiderin aber möge seinen Freunden mittheilen, in welcher Lage er sich befinde.

Am andern Tag, Montag den 14. December, wurden in Gegenwart des Wright die Zeugen vom Friedensrichter des Southwarkdistricts vernommen. Auf seine Frage, ob Wright über die Aussagen derselben etwas zu bemerken habe, erwiderte derselbe mit schwacher Stimme: „Ich habe nichts zu bemerken,“ worauf der Beweis für vollständig erklärt und Samuel Wright wegen Ermordung der Anna Green in’s Gefängniß von Newgate geschickt wurde. Tags darauf, am Dienstag, nahm der gerichtliche Todtenbeschauer, der Coroner, die Leichenschau vor: die Getödtete hatte zwei schreckliche Wunden am Hals, die eine auf der rechten Seite desselben war fünf, die andere auf der linken Seite neun Zoll lang. Zufällig saß gleichzeitig die große (Anklage-)Jury des Londoner Central-Criminal-Gerichtshofes, der Coroner überwies ihr den Fall; dieselbe versetzte Samuel Wright in Anklagestand, und schon am folgenden Tag, Mittwoch, den 16. December, stand derselbe, ehe noch die Leiche seines Opfers begraben war, vor dem Lord Oberrichter des Central-Criminal-Gerichtshofes, um sein Urtheil zu empfangen. Samuel Wright erschien aber nicht, wie George Townley, von drei Vertheidigern begleitet vor der Jury, – der arme Mann, der keinen Vertheidiger bezahlen konnte, erschien ohne einen solchen! Man eröffnet ihm, daß er angeklagt sei, am 13. December die Anna Green mit Vorbedacht und aus bösem Vorsatz ermordet zu haben.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 218. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_218.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)