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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Die Chronisten nennen sie „die große, gedächtnißwürdigste, die volkreiche Hauptstadt Thüringens“, und in der That bestätigen noch viele Spuren, daß Erfurt im Mittelalter zu den größten und ansehnlichsten Städten Deutschlands gehörte. An der Hauptverbindungsstraße zwischen dem Norden und Süden des deutschen Reiches gelegen, bildete es zugleich einen Knotenpunkt für den Verkehr nach Osten und Westen. Handel und Gewerbe standen in höchster Blüthe, als es sich dem Bunde der Hansestädte anschloß. Aber auch eine bedeutende, bewegte Geschichte füllt die Annalen der kaiserlichen oder Reichsstadt. Ein sich fühlendes Bürgerthum lag fortwährend mit mächtigen Nachbarn in offener Fehde oder stritt mit der kaiserlichen oder Mainzer Statthalterschaft um alte Rechte. Gegen landadelige Patrizierkasten, die sich zu städtischer Aristokratie ausbildeten, brachen blutige Empörungen aus; kurz, es war ein unaufhörliches, muthiges, zu Zeiten tolles Treiben der stolzen Bürgerschaft außer- und innerhalb der Ringmauern. Aber auch ungeheure, sich öfter wiederholende Feuersbrünste legten große Theile der Stadt in Asche, und pestartige Epidemien rafften viele Tausende der Bewohner hinweg.

So erlosch der alte Glanz; doch heute noch zeugen von ihm viele Patrizierwohnungen, die aus der schönsten Zeit mittelalterlicher Baukunst herrühren. Von sechsunddreißig Kirchen, welche Erfurt früher besaß, sind noch viele und darunter prächtige Meisterbauten wohlerhalten. Die große Anzahl der Glockenthürme, der Stadt ein wahrer Schmuck, ragen weithin sichtbar über die Ziegeldächer der Häuser hervor.

Ueber alle Bauten hinaus aber erhebt sich majestätisch der Dom mit der an seiner Seite gelegenen Stiftskirche St. Severus, die wetteifernd mit der Höhe der kolossalen Kathedrale ihre drei kupfergedeckten schlanken Thurmspitzen in das helle Firmament streckt. Von einem außerordentlich großen Platze aus steigt die freie Riesentreppe, nach welcher der Platz noch immer vom Munde des Volks „vor den Graden“ genannt wird, zum Domberge empor. Zehn mächtige Bogen tragen einen sehr breiten, sich um den ganzen Chor ziehenden Vorsprung, welcher nach den aus diesen Bogen gebildeten Nischen mit dem seltenen Wort Cavate benannt ist. Man denke sich nun diese Cavate, die Treppe und den Platz von einer prunkvollen, mit wehenden Fahnen dahinziehenden Procession belebt, von einer bunten, mittelalterlichen Volksmenge umgeben, und es giebt ein Bild, der Arbeit des besten Künstlers würdig.

Die gewaltigen architektonischen Massen beider Kirchen wirken von ihrer hohen und freien Lage aus mächtig auf den Beschauer, der mit Bewunderung von der Großartigkeit des Dombaues erfüllt wird. Betreten wir mit ihm die fünf Mal vierzehn Stufen der breiten Treppenflucht, so erfreut uns zunächst an einem Pfeiler ein Denkmal der Dankbarkeit für die reichen Gaben zu diesem Bau in lateinischer Inschrift des 14. Jahrhunderts, die übersetzt lautet: „Im Lobe Christi jauchze, glückliches Thüringen, durch dessen Gnade du dich so hoher Gönner erfreuen kannst.“

Oben angelangt, stehen wir vor dem Hauptportal, einem vorzüglich schönen Bau- und Bildhauerwerke. Es ist ein seltsam herausgehobenes Dreieck am Quergebäude, zwischen Chor und Schiff, das zwei Eingänge von Osten und Westen bildet, über denen sich mit Knospenwerk reich verzierte Spitzgiebel, deren Füllung aus gothischen Rosen besteht, erheben. Aus dem Mittelpfeiler des vorderen östlichen Portals steht die Schutzpatronin der Kirche, die Mutter Gottes mit dem Christkinde auf dem Arme, an den inneren Wänden sind die zwölf Apostel, am westlichen Eingange die zehn klugen und thörichten Jungfrauen und zwei andere weibliche Statuen zu sehen. An der äußeren abgestumpften Ecke befindet sich eine vergitterte Nische in Kapellenform, welche eine uralte bemalte Statuette der heiligen Anna birgt, die wahrscheinlich früher das Ziel frommer Wallfahrer und somit eine ergiebige Quelle für die Baucasse war. Ueber diesem Kapellchen schmücken drei prächtige Bildsäulen von Bonifacius, Adolar und Eoban den aufstrebenden Eckpfeiler, den würdigen bedeutungsvollen Platz für die ersten Lehrer des Christenthums in Thüringen, welche auch die ersten Erbauer eines Kirchleins an derselben Stelle waren. Der Pfeiler geht in einer merkwürdigen steinernen Laterne von zierlicher Form aus, die gewiß nicht nur als bloßes Symbol des Lichtes, das von hier ausstrahlte, sondern zu wirklichem Leuchtfeuer gedient, ihre Helle weithin gesendet und den wunderbaren Steinbau mit magischem Lichte übergossen haben mag.

Dieses herrliche Portalwerk, das durch seine überreichen Verzierungen das höchste Interesse erregt, ist besonders wegen des hohen Alterthums der Bildsäulen wichtig, die vielleicht schon den ersten Dom, der im 12. Jahrhundert hier auf dem Felsen stand, schmückten. Die Restauration hat sich diesem baulichen Schatzkästlein mit besonderer Vorliebe und Meisterschaft zugewendet und alle Lücken und Verwüstungen, welche Zeit, Unglück und barbarische Mißhandlung vielfach angerichtet hatten, auf das Beste ergänzt und beseitigt.

Nahebei steigen von einem riesigen Unterbau, dem ältesten Theile des Domes, die kolossalen Thürme empor. Die einfachen Rundbogen des Frieses und der Fensteröffnungen bekunden den byzantinischen oder romanischen Baustyl, der im 13. Jahrhundert dem gothischen oder altdeutschen Spitzbogen weichen mußte. Noch in den oberen Stocken zeigen die Fenster bald Rund-, bald Spitzbogen.

Wir befinden uns auf dem sehr geräumigen, mit Sandsteinplatten belegten Umgange der Cavate und betrachten den Chorbau, der nach Osten uns auf der vortrefflichen Abbildung entgegensteht, in seiner großartigen reinen Schönheit. Fünfzehn bis zu enormer Höhe sich emporstreckende Fenster mit zierlichem, unerschöpflich mannigfaltigem Steinhauerwerk und zwischen ihnen die noch höher in Spitzen auslaufenden Pfeiler, mit trefflichen Bildnerwerken geschmückt, bilden diesen Haupt- und schönsten Theil des Gotteshauses.

Die schöpferische Kraft der Erfindung, der Thaten- und Opferreichthum des christlichen Mittelalters, die Herrlichkeit der altdeutschen Baukunst, „der großen harmonischen Massen, zu unzähligen kleinen Theilen belebt“, treten uns da mit hoher Gewalt vor die Seele. Die erste Bestimmung aller Baukunst, einen Raum einzuschließen, scheint hier am Chor aufgehoben zu sein, denn es giebt keine Wände, sondern nur Fenster und Pfeiler nach oben strebend, wie der lichtvolle Gedanke des Christenthums. Wir werden an F. Schlegel’s schwärmerischen Ausspruch erinnert: „Die Kunst kann das Unendliche gleichsam unmittelbar darstellen und vergegenwärtigen.“

Das Lichtmeer, welches sich durch die überaus großen Fenster in das hohe Gewölbe des Innern ergießt, würde kaum zu ertragen sein, wenn es nicht durch Glasmalereien gedämpft würde. Fabeln aber immer noch neuere Romantiker von mystischem Dunkel in gothischen Tempeln, so ist diese poetische Licenz als ein Irrthum entschieden zurückzuweisen; denn es giebt keine lichtreichere Baukunst, als die altdeutsche. Die zum größten Theile ausdrucksvollen Bildsäulen der Pfeiler sind nach der Anschauung der christlichen Baukunst so aufgestellt, daß von diesen Wächtern des Gotteshauses die männlichen Heiligen die Ost- und Südseite, die weiblichen die Nordseite einnehmen, gemäß der urchristlichen Sitte, nach welcher Männer abgesondert von den Frauen in der Kirche dem Gottesdienste beiwohnten. An der Spitze der Statuen steht, symbolisch gerechtfertigt, die Patronin des Stifts, die Mutter Gottes, Maria.

An den Pfeilern und ihren untern Verbindungen sind noch schwache Ueberreste von mit Gold belegten Malereien und Aufschriften, deutlich aber die Jahreszahl 1436 zu erkennen. Unter dem Chor hin zieht sich eine geräumige Krypta. Am Ende der Cavate beim südlichen Eingänge zur Kirche beurkundet eine Inschrift, daß der Bau des Chors am 25. März 1349 begonnen. Von dieser Seite des altanartigen Vorsprungs, von dem eine zweite schmälere Treppe nach Osten zum Platze hinabführt, ist eine reizende Aussicht über einen großen Theil der Stadt, in das anmuthige Gerathal, die blauen Berge des Thüringer Waldes im fernen Hintergründe und nach den grünen Höhen des Steigers eröffnet. Von der schwindelnden Höhe der Thürme herab wird die Umsicht außerordentlich erweitert, auch durch den Hinblick auf Erfurts Umgebungen mit den bedeutenden Citadellen, der Cyriaksburg und dem Petersberge, eine ganz herrliche. An derselben Seite führen zu beiden Seiten einer Kapelle zwei Eingänge zu dem einen Garten umschließenden Kreuzgange. Dieser in seiner düstern Stille ist ein höchst interessanter und anziehender Theil des Dombaues.

Wenn man sich im Anschauen der ruhigen Größe, von der stummen Sprache des wunderbaren Steinbaues berührt fühlt, und wenn plötzlich, an einem Ostermorgen, die gewaltige laute Sprache der ehernen Zungen zu reden beginnt; wenn die großen weithintönenden Glocken den Ambrosianischen Lobgesang „Herr Gott Dich loben wir“ intoniren, so giebt es kein Menschenherz, in dem solche Klangschwingungen nicht nachzitterten.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 230. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_230.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)