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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Ein Frühlingsgang nach Sesenheim.
Von Jos. Victor Widmann.

Das anmuthigste aller Liebesverhältnisse Goethe’s ist unstreitig jenes, das aus der jugendlichen Neigung des Dichters zur schönen Pfarrerstochter von Sesenheim im Elsaß entsprang. Wenn auch die Liebe zu Charlotte Buff am meisten bekannt geworden ist, indem sie zu dem Evangelium aller unglücklich Liebenden, zu Werther’s Leiden, Anlaß gab, so ist es doch eben diese Berühmtheit, diese Übertragung in einen Roman, die dem wirklichen Verhältnisse Eintrag gethan und einigermaßen den Blumenstaub von der Blüthe gewischt hat. Lili ferner war gewiß ein reizendes Mädchen, aber eine Puppe voll koketter Launen. Frau von Stein – war eben Frau von Stein; die Unnatürlichkeit dieses Verhältnisses und der Streit gegen die Gesetze der Gesellschaft, der darin gegeben war, verurtheilen es. Christiane Vulpius, später Goethe’s Gattin, war gut und anhänglich, allein ein besonderer Zauber geht von ihrem Bilde nicht aus. Endlich, was soll man zu jener Marienbader Leidenschaft des vierundsiebzigjährigen Greises sagen? Giebt sie auch von dem jung gebliebenen Herzen des Dichters und von seiner lange wohlerhaltenen Kraft das beste Zeugniß, so fordert sie doch unwillkürlich zu dem Rückschlusse auf, wie so ganz anders ein Mann in voller Jugendkraft geliebt haben muß, der noch am Abend seines Lebens so feurig zu fühlen vermochte!

Eine solche Jugendliebe, naturwüchsig und echt, ist die zu Friederike Brion, und sie gewinnt an Reiz durch den Kranz frischer Feldblumen, der sich gleichsam um sie flicht. Wenn Lili, die Frankfurter Banquierstochter, ihren Freund oft „beim Spieltisch unerträglichen Gesichtern gegenüberstellte“ – ziehen dagegen dort die beiden Liebenden durch die weiten Fluren, und Friederike singt ihm ihre lustigen Liedchen:

„Vom Wald bin ich ’kommen, wo’s stockfinster is,
Und ich lieb Dich von Herzen, das glaub mir gewiß;
Und da lacht er, da lacht er, der schelmische Dieb,
Als ob er nicht wüßte, daß ich ihn lieb’.“

Friederike war eben durch und durch Natur: ein tiefes, reiches Gemüth, gebildet genug, um für alles Schöne und Gute empfänglich zu sein und das Rechte überall fein zu fühlen; von Sentimentalität freilich wußte sie nichts.

Dieses edle Mädchen nun lernte Goethe kennen, als er im Jahre 1770, während er in Straßburg die Rechte studirte, von seinem Studienfreunde Weyland zu einem Ausfluge nach Sesenheim aufgefordert und im Pfarrhause daselbst eingeführt wurde. Es war einer der ersten schönen Octobertage, als die Beiden zu Pferde in Sesenheim anlangten, Goethe, seiner Freude an Verkleidungen folgend, incognito, als ärmlicher Student der Theologie. Er hatte eigens hierzu alte Kleider geborgt und sich sein Haar so wunderlich gekämmt, daß Weyland unterwegs sich des Lachens nicht erwehren konnte, besonders wenn es seinem wohlgelaunten Freunde einfiel, dergleichen Figuren, die man „lateinische Reiter“ nennt, nachzuahmen. Im Pfarrhofe trafen sie Herrn Brion ganz allein zu Hause und wurden von dem gutmüthigen Manne freundlich empfangen. Nach und nach stellte sich auch die ganze Familie ein, außer der zweiten Tochter Friederike, nach der Alle fragten und die Alle mit Unruhe vermißten, wodurch Goethe auf ihre Erscheinung vorbereitet wurde.

Endlich trat sie in die Thür, und „da ging fürwahr an diesem ländlichen Himmel ein allerliebster Stern auf“. Der Dichter, der vierzig Jahre später eine plastische Schilderung jener Tage in „Wahrheit und Dichtung“ dem Secretair Kräuter dictirte, wobei er, wie dieser versichert tief ergriffen war, oft im Dictiren inne hielt, seufzte und in leiserem Tone wieder fortfuhr – er beschreibt uns die Erscheinung des sechszehnjährigen Mädchens also: „Ein kurzes, weißes, rundes Röckchen mit einer Falbel, nicht länger, als daß die nettesten Füßchen bis an die Knöchel sichtbar blieben; ein knappes weißes Mieder und eine Taffetschürze – so stand sie auf der Grenze zwischen Bäuerin und Städterin. Schlank und leicht, als wenn sie nichts an sich zu tragen hätte, schritt sie, und beinahe schien für die gewaltigen blonden Zöpfe des niedlichen Köpfchens der Hals zu zart. Aus heitern, blauen Augen blickte sie deutlich umher, und das artige Stumpfnäschen forschte so frei in die Luft, als wenn es in der Welt keine Sorge geben könnte; der Strohhut hing ihr am Arme, und so hatte ich das Vergnügen, sie beim ersten Blick auf einmal in ihrer ganzen Anmuth und Lieblichkeit zu sehen und zu erkennen.“

Es ist nicht möglich, nun ausführlich hier zu erzählen, wie Goethe sofort an Friederike das größte Interesse nahm, sich mit ihr fast ausschließlich unterhielt und, indem er immer mehr über sie erstaunte, zugleich immer mehr sich seiner Verkleidung zu schämen anfing; wie er noch am gleichen Abend bei einem Spaziergange mit ihr wandelte, „mehr den Himmel über sich zum Gegenstande habend, als die Erde, die sich neben ihnen befand“; wie er hierauf, als er Nachts mit Weyland allein war, diesen ängstlich ausforschte, ob wohl Friederike schon von Jemand geliebt werde, und sich über die Verneinung dieser Frage freute; wie er dann am andern Morgen über den verwünschten grauen Rock mit den kurzen Aermeln in Erbitterung gerieth, zuerst nach Straßburg zurückreiten wollte, dann aber auf den glücklichen Gedanken kam, sich die ländliche Kleidung eines Wirthssohnes in Drusenheim zu borgen und als Georg der Frau Pastorin einen Kuchen zu überbringen, über welche neue Verkleidung viel lustige Verwirrungen und Scherze entstanden. Es genügt zu sagen, daß die Leidenschaft der beiden jungen Leute von Stunde zu Stunde wuchs und daß Goethe nach zwei Tagen, als er wegritt, sein Herz in Sesenheim zurückließ. Zugleich hatte er den Vater sehr für sich eingenommen, indem er ihm einen Plan zu einem neuen Pfarrhause zu zeichnen versprach, da das alte, worin die Familie lebte, sehr baufällig war.

Von Straßburg aus schrieb Goethe an Friederike viele Briefe; der einzige, der von denselben noch erhalten ist, datirt vom 15. October. In diesem Briefe nennt er sie seine „liebe neue Freundin“ und sagt ihr, nie sei ihm Straßburg so leer vorgekommen, wie jetzt. Drum hielt es ihn auch nicht lange dort; im November, an einem Samstag Abend, langte er plötzlich in der Schenke zu Sesenheim an. Merkwürdiger Weise war man im Pfarrhause nicht überrascht, als er eintrat. Friederike’s liebendes Herz hatte seine Ankunft geahnt und vorausgesagt. Der folgende Tag, ein heller, freundlicher Novembersonntag, wurde von den Liebenden mit einem Morgenspaziergang begonnen, auf dem sie sich von den bevorstehenden Vergnügungen des Nachmittags und von neuen geselligen Spielen unterhielten, auch beschlossen, wo möglich in ungetrennter Gemeinschaft dem Allen sich hinzugeben. Die Glocke rief sie vom Spaziergang zur Kirche; der gute Pfarrer Brion hat gewiß nie einen geistreichern und doch zugleich unaufmerksamern Zuhörer gehabt, als an diesem Tage! Der Nachmittag verfloß fröhlich bei Tanz und gesellschaftlichem Spiel, wobei die Liebenden Hauptpersonen und Anordner des Ganzen waren. Und da, in der Erregung des Tanzes und der Lust, fand sich endlich das reizende Paar im „langen, langen Kuß der Lieb’ und Schönheit“.

Diesmal verließ Goethe Sesenheim als erklärter Liebhaber. Eine Verlobung hatte vermuthlich deshalb nicht statt, weil er noch so jung war und die Einwilligung des Vaters hätte eingeholt werden müssen. Gedichte aus jener Zeit und an Friederike gerichtet finden sich mehrere unter den gesammelten Liedern Goethe’s: Willkommen und Abschied: „Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde“. – Mit einem gemalten Band: „Kleine Blumen, kleine Blätter“. – An die Erwählte: „Hand in Hand und Lipp’ auf Lippe“. – Mailied: „Wie herrlich leuchtet mir die Natur“. Ferner: „Erwache, Friederike“ und „Ein grauer, trüber Morgen“.

Bekanntlich hielt sich Goethe in Straßburg auf, um dem Studium der Rechte, das er in Leipzig begonnen, ferner obzuliegen und das Doktorexamen zu bestehen. In dieser Zeit fand er nicht Muße zu Besuchen in Sesenheim. Dagegen kam damals Frau Pfarrer Brion mit ihren beiden Töchtern zu Bekannten in die Stadt. Dieser Besuch war es, der zuerst das Verhältniß mit Friederike lockerte. Goethe selbst nennt ihn „eine sonderbare Prüfung“.

Die Mädchen erschienen in Nationaltracht; in den Städten des Elsaß war dieselbe längst durch die französische Kleidung verdrängt worden. Daher geriethen die beiden Pfarrerstöchter in einen Gegensatz zu ihren städtischen Verwandten, der auf dem Lande jedenfalls zu Gunsten der erstern ausgeschlagen hätte, hier aber, in der Stadt, nach und nach für sie peinlich ward. Wenn auch Friederike sich in die ungewohnte Umgebung leichter als ihre Schwester zu finden wußte, so stand doch auch sie in nicht ganz zu verwischendem

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 330. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_330.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)