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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Aus den letzten Stunden einer Monarchie.
Von Johannes Scherr.

Die Uhr des zu den Tuilerien gehörenden Pavillon de l’Horloge schlägt ein Uhr, die erste Stunde des 24. Februar 1848. Die Nacht ist frostig und finster, aber der Widerschein ihrer Myriaden von Gaslichtern macht die über der Riesenstadt hängende Dunstmasse weißlich schimmern. Der alte Königspalast, welcher schon so viele Schicksalswechsel gesehen, diese Tuilerien, in denen Marie Antoinette intriguirt, der Convent vulcanisirt und Napoleon despotisirt hatte, sie zeigen auch zu dieser Stunde in ihrem Innern, wie in ihrer Umgebung, jenes unbeschreibliche Ungewöhnliche, Unruhige, Hastvolle und Bängliche, welches Katastrophen von Herrschern und Staaten vorauszugehen pflegt, wie der Staubwirbel aufwühlende Windstrom dem Gewitter voranwallt. Die Wachtposten sind überall verdoppelt, verdreifacht. Das Gitter des großen Hofes ist geschlossen. Die ganze Vorder- und Hinterfront des Schlosses entlang ist in allen Stockwerken eine Masse von Fenstern erhellt, und man sieht in den Corridoren des Erdgeschosses, wie droben in den Mansardengängen eilende Lichter kommen, verschwinden und wiederkommen. Auf den Treppen, in den Vorhallen und Vorzimmern ein summendes Getöse, nur noch mühselig gedämpft durch den aufgehobenen Finger der Aja Etikette, ein Kommen und Gehen von Staatsmännern und Generalen, Hofherren und Hofdamen, Lakaien und Zofen. Ueberall in’s Längliche oder auch schon in’s Lange gezogene Gesichter, aufgeregte Mienen, Frageblicke, Geflüster und Gewisper. Ein Unheimliches schreitet durch das ungeheure, prächtige Haus. Noch ist dieses Schreiten nur ein Schlürfen, aber binnen etlichen Stunden wird es ein Dröhnen sein.

Kriegerische Zurüstungen ringsher um den Palast. Längs der Rue Rivoli eine Colonne Infanterie unter den Waffen. In den Zwischenräumen reitende Artillerie mit ihren Stücken. Starke Cavalleriepikets in die Rue St. Honoré und bis zum Palais Royal vorgeschoben. Der Quai entlang der Seine, soweit die Tuilerien- und Louvrebauten reichen, ebenfalls wohlbesetzt. Auch hier zwischen dem Fußvolk Artillerie, besonders an den Punkten, wo sich die drei Brücken, Pont Royal, Pont du Carrousel und Pont des Arts, auf das linke Stromufer hinüberlegen. Bei näherem Zusehen wäre in der Haltung der Truppen eine gewisse Schlaffheit und Verdrossenheit bemerkbar geworden: sie hatten schon seit nahezu zweimal 24 Stunden in Wind und Wetter ermüdenden und unliebsamen Dienst gethan. Aber drinnen auf dem Carrouselplatz geht es laut und lebhaft her. Lodernde Pechpfannenfeuer werfen ihren rothen Schein über den weiten Raum, der nach allen vier Seiten mit Truppen sämmtlicher Waffengattungen garnirt ist. In der Mitte ein dichtstehender Halbkreis von Stabs- und Subalternofficieren. Vor der Fronte desselben eine Gruppe von Generalen. Auf der Sehne des Bogens ein Mann von martialischer Figur, Haltung und Gebehrde. Sein von den breiten Schultern zurückgeschlagener Mantel läßt eine reich gestickte Uniform sehen, und auf dem Kopfe trägt er den an den aufgeklappten Rändern mit weißem Federnbesatz eingefaßten Hut eines Marschalls von Frankreich. Ihm zur Seite hält sich ein schlanker Mann in der Uniform eines Generallieutenants, dessen aristokratisch feine, kühle und etwas hochmüthige, aber feste und gescheidte Züge den Herzog von Nemours, Zweitältesten Sohn Louis Philipp’s, erkennen lassen. Hinter dem Marschall erblickt man zwei in Mäntel und Pelze sattsam eingewickelte Civilmänner, zwei soeben, man weiß nicht recht, halb oder ganz entministerte Säulen des „Systems der Corruption“, Guizot und Duchâtel. Der Zweite mag immerhin das Gesicht in den Pelzkragen verstecken: es lohnt sich nicht der Mühe, ihn anzusehen. Schade aber, daß man von Herrn François Guizot nicht mehr zu sehen bekommt. Denn der Mann verdiente wohl näher betrachtet zu werden, als der zu Fleisch und Blut gewordene Doctrinarismus des constitutionellen Systems, als die Verkörperung des zur höchsten Potenz erhobenen Schulmeisterthums der parlamentarischen Fiction.

„Messieurs“, sagt der Marschall Bugeaud mit knapper Hutlüftung kurz und barsch, „der König hat mich mit dem Oberbefehl über die gesammte bewaffnete Macht von Paris, Linie und Nationalgarde, betraut. Man muß ein Ende machen mit den Rebellen. Ihr wißt, wenn ich mich mit ihnen schlug, bin ich niemals geschlagen worden. Habt Acht, daß Ihr mich diesmal meine Jungferschaft nicht verlieren macht.“

Beifälliges Lachen belohnt den Kasernenspaß des Herzogs von Isly, bekannter noch unter seinen populären Titeln: „Kerkermeister von Blaye“ und „Schlächter von der Rue Transnonain“. Aber horch, was trägt der Nachtwind für ein dumpfes Geräusch den Strom herunter, von der Cité-Insel her und herüber aus den volkreichen Quartieren, die sich zur Linken der Seine um das Pantheon zusammenballen und zur Rechten zwischen dem Hôtel de Ville, der Place de la Bastille und den Boulevards gelagert sind? Ein Rauschen und Brausen, bald sinkend, bald schwellend; ein tausendfältig Gemisch von Tönen und Klängen, zersplitternd jetzt in Hunderte von grellen Mißlauten, dann wieder zusammenschlagend in ein Aechzen und Stöhnen und Donnern, als hörte man den atlantischen Ocean wüthend an die Kuppen der Bretagne prallen. Und wiederum, horch, reißen sich aus dem monotonen Gesause einzelne articulirte Töne los: „Allons enfants!“ und antwortet es drüben: „Le jour de gloire est arrivé!“ und wie ein Bündel feuriger Klangraketen zischt zum mächtigen Himmel empor der unsterbliche Refrain: „Aux armes, citoyens!

Der Marschall zieht sich den Mantel dichter um die Schultern und sagt: „Wir werden ein Wort mit den Herren von den Barrikaden sprechen. Doppelte Ladung in die Gewehre! Ihr sollt alsbald meine Befehle haben, Messieurs. Ich gehe, die Dispositionen zur Niederwerfung der Emeute festzustellen.“

Während er, siegessicher, im Etat-Major (Generalstabsgebäude) seinen Plan entwirft, arbeiten sich zwei Männer mühsam und oft angerufen zum Eingang des Palasthofs und von dort zur Hinterpforte des Pavillon de l’Horloge durch. Der eine ist in der Uniform der Adjutanten des Königs, der andere in Civil, – ein Mann weit unter Mittelgröße. Aus dem hinaufgeschlagenen Kragen seines Pelzüberrocks ragt ein ungewöhnlich großer Schädel hervor. Nachdem er sich aus seinen Einhüllungen herausgewickelt, stellt sich der Kleine als ein ziemlich altes Männchen dar mit einem sehr wenig schönen Gesicht, welchem jedoch die Augen viel „Esprit“ verleihen würden, so sie nicht durch große runde Brillengläser verdeckt wären. Er nimmt seinen Hut ab und wischt sich den Schweiß von seiner Stirn, denn er hat unterwegs mit seinen armen kurzen Beinen verschiedene Barrikaden überklettern und so zu sagen ein „Rennen mit Hindernissen“ mühselig bestehen müssen. Dann folgt er seinem Führer, Herrn de Berthois, zum Arbeitscabinet des Königs. Auf dem Wege dahin streifen, von dorther kommend, zwei Herren an ihm vorüber, fast Ellenbogen an Ellenbogen, Messieurs Guizot und Duchâtel, und wie der Kleine sie erkennt, gleitet flüchtig ein sardonisches Lächeln über sein Gesicht. Im Vorzimmer eilt dem Kleinen Herr de Montalivet entgegen, Intendant der Civilliste, eine Person, welche ganz genau einem durch ein Vergrößerungsglas betrachteten Knaben gleicht. Im Uebrigen ein beflissenster Diener des vielgepriesenen „Systems“, dessen logische Consequenz der heutige „Dies irae“. Der geschmeidige Höfling ist deshalb nicht zu tadeln. Hat doch das gesammte „officielle“ Europa das „System“ des Bürgerkönigs als die Quintessenz politischer Weisheit lobgepriesen und zwar mit Recht. Denn es hatte beinahe achtzehn Jahre lang Erfolg gehabt, und der Erfolg ist das göttliche goldene Kalb, um welches schon lange nicht mehr nur die „Kinder Israel“, sondern auch die „Gojim“ vom Aufgang bis zum Niedergang wetteifernd den Ringelreigen tanzen.

„Ah, Monsieur Thiers,“ sagt Herr de Montalivet, „wir sind höchlich erfreut, Sie hier zu sehen. Freilich, der König erwartete nicht weniger von Ihrer Hingebung. Aber schonen Sie den König.“

„Den König schonen? Meine erste Pflicht ist, ihm die Wahrheit zu sagen,“ versetzte der kleine Nothhelfer, in welchem man zu dieser Stunde einen großen sieht. Was doch Alles die Menschen sich einbilden! Thiers, der Verfasser einer napoleonischen Mythologie in zwanzig dicken Bänden, ein „Wahrheitssager“! …

Wenige Minuten darauf – um 21/2 Uhr – stand der napoleonische Mythograph und orleanistische Staatsmann vor dem Sohn Egalité’s, welchem der Königstraum, den er vor Zeiten mit Dumouriez in den Feldlagern an der belgischen Grenze geträumt hatte, im Juli von 1830 zur Wirklichkeit geworden war, zu einer

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 360. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_360.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)