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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

„Wer ist es?“

„Der Eine der wiederergriffenen Flüchtlinge. Er will Auskunft über den Tod der Unglücklichen geben.“

„Lassen Sie ihn hereinführen.“

Der Officier verließ das Zimmer. Fieberhaft erregte Blicke folgten ihm. Mit wem sollte er zurückkehren? Mit dem Herrn von Wartenburg? Der Officier kam zurück. Zwei Gensdarmen folgten ihm. Ein schwer Verwundeter wurde von ihnen mehr getragen als geführt. Er glich kaum noch einem Lebenden; seine Brust röchelte. Nur der Staatsanwalt kannte diesen; er wagte nicht aufzublicken. Aber der Verwundete konnte mit Ruhe die Leiche ansehen, mit der Ruhe des Todes, der auch ihn schon angefaßt hatte. Er betrachtete die Todte. Die Brust röchelte ihm stärker. Er warf seine Blicke von der Leiche auf den Gatten der Todten. Eine wilde Gluth leuchtete in seinen Augen.

„Herr Oberstaatsanwalt!“ rief er.

Ein Strom von Blut ergoß sich über seine Lippen. Er konnte nicht weiter sprechen. Er erholte sich.

„Ich soll hier einen Richter finden!“ sagte er.

„Ich bin es,“ trat der Richter vor ihn.

„Herr Richter, ich klage jenen Mann, den Oberstaatsanwalt von Rachenberg, an, seine Gattin, diese arme Todte, gemordet zu haben. Ich war Zeuge der That.“

Von Neuem quoll das Blut aus seinem Munde. In dem Zimmer war Keiner, den nicht das tiefste Entsetzen ergriffen hätte.

Der Staatsanwalt wollte aufspringen. Er vermochte es nicht. Er konnte nur mit dem erdfahlen Gesichte nach dem fürchterlichen Zeugen starren. Der Verwundete erholte sich noch einmal.

„Ihr Name?“ fragte ihn der Richter.

„Graf Golzenbach.“

Also nicht der Herr von Wartenburg? las man auf den Gesichtern im Zimmer. Nicht der Nebenbuhler? Um so glaubwürdiger ist seine Aussage.

„Mein Herr,“ sagte der Richter zu dem Grafen, „ehe Sie weiter reden, bedenken Sie Eins. Sie scheinen schwer, vielleicht tödtlich verwundet. Das Zeugniß eines Sterbenden wiegt doppelt schwer.“

„Ich weiß es,“ erwiderte der Graf, „und ich weiß, daß ich sterben muß, in der nächsten Minute. Ich fühle es. Jener Mann ist der Mörder dieser Frau. Er lockte, er zog sie an den Abgrund. Dann flehte sie noch um ihr Leben. Er stieß sie hinunter, unbarmherzig –“

„Mensch! Ungeheuer!“ rief der Staatsanwalt.

Er war aufgesprungen, zu dem Verwundeten hin, zu dem entsetzlichen Blutzeugen. Zum dritten Male war das Blut über die Lippen des Verwundeten geströmt. Zum dritten Male erholte er sich nicht. Die beiden Gensdarmen, die ihn hielten, hielten eine Leiche.

„Sie kennen das Recht,“ sagte der Richter zu dem Oberstaatsanwalt.

„Ich bin Ihr Gefangener!“

Indem der Oberstaatsanwalt von Rachenberg das sagte, konnte er sich stolz erheben.



Die Untersuchung gegen den Oberstaatsanwalt von Rachenberg wegen Gattenmordes war zu Ende geführt. An seiner Verurtheilung zweifelte Niemand. Seine große Eifersucht, sein leidenschaftlicher Charakter waren bekannt. Wie leicht konnte sie in einem Augenblicke heftiger Aufregung ihn ganz und gar bemeistern, zum Verbrecher machen! Nach den übereinstimmenden und völlig glaubwürdigen Zeugnissen der Reisegesellschaft hatte er in Folge jener mannigfach zusammentreffenden Ereignisse in einer solchen Aufregung sich befunden, daß Alle in ihrem Innern eine entsetzliche That von ihm gegen die unglückliche Frau gefürchtet hatten. Der Graf Golzenbach hatte die That als Augenzeuge bekundet, hatte sein Zeugniß mit seinem Tode besiegelt. Das Leugnen des Angeklagten, wie beharrlich und ruhig er es allen Zeugnissen und Vorhaltungen entgegensetzte, erschien nur um so frecher und verstockter.

Die Anklage war gegen ihn erhoben; der Termin zur öffentlichen Verhandlung vor den Geschworenen war angesetzt. Am Abende vor dem Tage war die Hauptstadt der Provinz, deren Schwurgericht das zuständige war, in großer Aufregung. Die Zeugen waren eingetroffen; mit den Zeugen viele Neugierige. Sie wollten der Verurtheilung beiwohnen. An eine Freisprechung dachte Niemand.

In der letzten Stunde des Abends hatte sich bei dem Präsidenten des Schwurgerichts noch ein Fremder melden lassen. Er habe in dem Processe wichtige Mittheilungen zu machen; er bitte, am nächsten Morgen als erster Zeuge vernommen zu werden; seinen Namen werde er morgen nennen.

Die Verhandlung des Schwurgerichts hatte begonnen. Der Angeklagte war bei dem Leugnen der That verblieben. Der Präsident verkündete, daß ein Zeuge, der sich nicht habe nennen wollen, sich gestellt und wichtige Aufschlüsse zu geben habe. Er befahl, den Zeugen einzuführen. Ein hoher, blasser Mann trat in den Saal. Tiefer Ernst, schwerer Gram lagen auf den edlen Zügen. Niemand im Saal kannte ihn, weder in dem Raume der Zuschauer, noch in dem des Gerichts. Doch zwei Augen hatten ihn erkannt, und sie füllten sich mit Entsetzen.

Der Angeklagte schien vernichtet zu sein, als er den hohen Mann, das ernste, gramvolle Gesicht sah. Sein Stolz, seine Sicherheit hatten ihn mit einem Male verlassen. Er sank auf seinem Platze zusammen, als wenn er mit dem Blicke auf den fremden Zeugen sein Todesurtheil empfangen habe.

„Er giebt sich verloren,“ zischelte es in den Reihen der Zuhörer. „Das ist ein Zeuge seines Mordes, den er nicht geahnt hatte.“

Die Richter dachten dasselbe; sie sprachen es nur nicht aus.

„Ihr Name?“ fragte der Präsident den Fremden.

„Adalbert von Wartenburg!“

Adalbert von Wartenburg! Der Hochverräther! Der zu lebenslänglichem Kerker verurtheilte, aus der Haft entsprungene, seitdem vergeblich mit Steckbriefen verfolgte, in aller Gegend gesuchte Hochverräther! Das war vielleicht der erste Gedanke Aller, als sie den Namen hörten. Er war jetzt da; ein halbes Hundert von Gensdarmen, Gerichts- und Polizeidienern umgab ihn; man brauchte nur eine Hand an ihn zu legen, um ihn in seine lebenslängliche Haft zurückzuführen. Und er hatte sich selbst, völlig freiwillig, aus eigenem Antriebe überliefert.

Aber zu welchem Zwecke? Welches konnte das Motiv sein, das den Mann aus der sicheren Freiheit in die ewige Nacht der Gefangenschaft zurückgeführt hatte? Es war der zweite Gedanke, es war die heiße, brennende Frage Aller.

Aber konnte man noch fragen, wenn man die plötzlich zusammengesunkene, vernichtete Gestalt des Angeklagten ansah? Und wußte nicht Jeder im Saale, wie dieser nämliche Angeklagte früher der eifrige, strenge, der leidenschaftlich, fanatisch strenge Ankläger des Freiherrn von Wartenburg gewesen war, wie er diesen wegen Hochverraths verfolgt, und nicht geruht und alle Mittel, die ihm seine hohe Stellung, sein mit fast unbeschränkter Macht bekleidetes Amt als Staatsanwalt, gegen die Zeugen, gegen die Geschworenen, selbst gegen die Richter gab, in Bewegung gesetzt hatte, um die Verurtheilung des Verfolgten, der nun einmal sein Opfer sein sollte, herbeizuführen? Warum konnte denn dieser Verfolgte, dieser Verurtheilte jetzt zurückgekehrt sein, hier als Zeuge stehen, seine Freiheit, sein Leben zum Opfer bringen?

Ja, der Angeklagte ist verloren! Der Gattenmörder ist dem Schwerte des Scharfrichters verfallen. Er fühlt es selbst schon. Die Blicke, die leise geflüsterten Worte des ganzen Saales sprachen es aus.

„Zeuge von Wartenburg, was haben Sie auszusagen?“ fragte der Präsident den Zeugen.

Die tiefste Stille fieberhafter Spannung wollte nicht den leisesten Ton der Antwort verlieren.

„Ich habe auszusagen,“ antwortete der Zeuge mit ruhiger, fester Stimme, „daß der Angeklagte unschuldig ist an dem Tode, dessen er bezichtigt wird. Seine edle Gattin ist nicht gemordet. Der Zufall, vielleicht eine Unvorsichtigkeit von ihrer Seite, unter allen Umständen ein beklagenswerther Unfall, und nicht ein Verbrechen hat ihren Tod herbeigeführt. Ich war unmittelbarer Augenzeuge.“

Der Angeklagte glaubte aus einem schweren Traume zu erwachen. Die Richter und die Zuhörer meinten wohl, von Gaukelbildern eines wunderbaren Traumes umfangen zu sein.

„Erzählen Sie, Zeuge – auf Ihren Eid!“ sagte der Präsident.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 406. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_406.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)