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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

haben, aber Berge sind sie bei alledem, welche die Kraft des Ersteigers zwar nicht erschöpfen, aber doch vollauf in Anspruch nehmen. Dazu liegen sie heute mit ihren Wölbungen, Wäldern und Felsen im reichsten Glanze da. Auch die Kirchthürme und Häuser der Dorfschaften in der vorliegenden Ebene glänzen und blitzen unter dem schönen Frühlingshimmel, während in ihrem Hintergrunde Reutlingen, die alte Stadt, am Fuße der Achalm hin geschmiegt, wie fast immer, ihr ernstes, strenges Aussehen bewahrt. Und jetzt klingen aus der ganzen Gegend nach und nach die Glocken zusammen, welche zur Kirche läuten, und Aug’ und Ohr schlürfen aus der Umgebung eine Seligkeit, die in der Natur zu leben scheint und dem Menschenkinde unwiderstehlich in’s Innere dringt. Es ist die längst entbehrte Frühlingsseligkeit.

Das Abweichen von der Straße nöthigte uns zu einem beträchtlichen Umwege, so daß, als wir die Straße wiedergewonnen und das nächste Dorf vor Reutlingen erreicht hatten, schon die Glocke ertönte, die das Ende des Gottesdienstes verkündigte. Die Gemeinde kam aus der Kirche und wenn je die Worte Faust’s, daß die Sonne im ersten Frühling, da es noch an Blumen im Revier fehle, geputzte Menschen dafür nehme, eine Wahrheit waren, so ist dies der Fall mit der Farbenpracht der Frauen und Mädchen des Dorfes Betzingen, wo wir uns befinden. Die Erscheinung ist werth, auch im Bilde dargestellt zu werden, und dem Künstler, welchem wir unsere Illustration verdanken, ist das in trefflichster Weise gelungen. Die stattlichen Frauengestalten, ihre Tracht, die eigenthümliche schwarze Lederkappe der Männer, der „Löwe“ des Dorfes – das Alles tritt uns, obschon in leiser künstlerischer Idealisirung, wie es leibt und lebt vor Augen.

Die Betzinger Bauerntracht ist in neuerer Zeit weithin, selbst in England, bekannt geworden, indeß zunächst und fast ausschließlich die weibliche. Es glich einer Oase in der Wüste, diese Tracht neben den abschreckend philisterhaften Kleidungsformen, die vor dreißig, vierzig Jahren in den Städten üblich waren, erscheinen zu sehen, und auch jetzt noch, wo wir uns kleidsamer tragen, bietet sie zu der im Ganzen farblosen, eintönigen Kleidungsweise in Stadt und Land einen ungemein reizenden Gegensatz. Sie weist uns in jene Zeit zurück, die unter Wust und Gräueln aller Art doch eine unverwüstliche Fröhlichkeit besaß und das äußere Leben des Menschen mit heiterer bunter Farbenpracht zu schmücken liebte. Keinem Zweifel nämlich unterliegt es, daß sie aus dem Mittelalter stammt; denn nach der Reformation hätte eine solche Tracht nicht mehr aufkommen können, und es ist vielmehr nur das zähe Beharren ländlicher Erbfolge, wodurch sie diese ernste, alles Farbige nach und nach verwischende Katastrophe überstanden hat.

Der eigentliche Typus der Tracht ist im Steinlachthale heimisch, das sich bei Tübingen öffnet, um die alte nach Schaffhausen führende Schweizerstraße aufzunehmen. Dieses Thal, das noch immer seines Geschichtschreibers harrt, soll nach einer ziemlich hartnäckigen Ueberlieferung von einer Colonie Schweden im dreißigjährigen Kriege bevölkert worden sein; allein die Sage ist längst widerlegt und die Bevölkerung nebst ihrer Tracht als eingeboren nachgewiesen, eingeboren nämlich in dem Sinne, daß sie nicht jünger sein kann, als die letzte geschichtliche Volkseinwanderung, die alemannische.

Ihre Tracht nun, oder vielmehr eine ähnliche, findet sich auch in einigen der umliegenden Orte wieder, sei es, daß dieselben zu irgend einer Zeit von den Farben des Steinlachthales so zu sagen angezündet wurden, sei es, daß die Tracht einst einem größeren Striche unserer Landschaft angehört hat und erst später, unter der strengen Disciplin des Protestantismus oder vielleicht nach den vernichtenden Schlägen des großen Religionskrieges, der jetzt vorherrschenden dunklen weichen mußte. Eine dieser Ortschaften ist eben das Dorf Betzingen, das ein paar Stunden östlich vom Steinlachthale bei Reutlingen liegt. Die Betzinger Tracht weicht jedoch, gleichwie eine vollreife Kunstperiode ihre Vorläuferin überbietet und zugleich unter sie herabsinkt, als die buntere und reichere von der der Steinlacherinnen ab, welcher der Freund des einfach Schönen vielleicht den Vorzug geben wird.

Das Hauptstück, das über die Trägerin den meisten Reiz und Schimmer verbreitet, ist das Mieder in seiner mannigfaltigen Farbenmischung von Roth, Blau, Grün etc., deren Vertheilung hier dem individuellen Geschmacke überlassen bleibt. Man wird übrigens in der Wahl der Farben nicht leicht eine Geschmacklosigkeit entdecken, und die Silber- oder Goldborten, die sich gelegentlich zu der übrigen Zier gesellen, können kein Luxusverbot herausfordern, da sie aus sehr bescheidenem Stoffe sind. Das Mieder, auf welchem der Brustlatz oder Vorstecker vermittelst des sogenannten Preisnestels eingeschnürt ist, reicht nicht hoch genug herauf, um die ganze Brust zu bedecken, daher über dem obern Theile derselben das Göller getragen wird, ein breites, gürtelartiges Brusttuch, das den Hals umschließt und über den Saum des Mieders fällt. Zur Vervollständigung des Putzes gehört das Halsnuster von Granaten und der Anhenker, der, ein Schaustück, oft eine von Generationen her vererbte Gold- oder Silbermünze, vom Hals am Schnürchen oder Bändchen auf die Brust herabhängt. Was aber am meisten dazu beiträgt, der Tracht das eigenthümlich schmucke Aussehen zu verleihen, womit sie das Auge des Beschauers besticht, das sind die schneeweißen Hemdärmel, die sich von dem Farbenglanze der Brustbekleidung abheben. Da es jedoch nicht gut ist, allezeit zu glänzen, so hat man ein dunkles Ueberwämmschen, das Büble genannt, unter welchem die Herrlichkeit sich bergen kann.

An das Mieder schließt sich ein um die Hüften dichtgefältelter, nach unten glatt abfallender dunkelblauer Rock, der früher nicht über das Knie reichte, jetzt aber beträchtlich länger geworden ist. Die Mädchen sind an der weißen Schürze kenntlich, welche den Eindruck der weißen Aermel noch erhöht. Die Frauen tragen dunkle einfarbige Schürzen. Das Mädchen jedoch, das den Anspruch auf diesen Namen erweislich verloren hat, ist auch der weißen Schürze verlustig, und dieses alte Herkommen übt noch heute seinen strengen Zwang: kein Gesetz verbietet der Unglücklichen die Tracht, Niemand hat das Recht, sie ihr zu wehren, aber sie weiß, welchen Zungenstichen sie sich durch die weiße Schürze aussetzen würde, und zieht es darum vor, derselben freiwillig zu entsagen und die Gesellschaft der Mädchen zu meiden. Noch ist der weiblichen Kopfbedeckung zu gedenken, die, in Wirklichkeit etwas steifer als auf der Zeichnung, einigermaßen der aus antiken Bildwerken bekannten Mauerkrone der großen Mutter Kybele gleicht. „Kübeleshaube“ ist ihr Name, durch welchen sich deshalb gleichwohl kein Mythenforscher irre führen lassen darf; denn der Ausdruck will nichts weiter, als die noch größere Ähnlichkeit mit einem umgestürzten kleinen Kübel besagen.

Die Männertracht besteht – wie auch an andern Orten, wo sie aber allmählich schwindet – in einem langen weißen Rock von Zwillich, einer camisolartigen rothen Weste mit Zinnknöpfen, die wie silbern glänzen, kurzen Lederhosen und Schnallenschuhen, oder langen Zwillichhosen mit Stiefeln. Kopfbedeckung ist die schon erwähnte schwarze Ledermütze, an deren Stelle bei feierlichen Gelegenheiten, wie beim Kirchgehen und dergleichen, der schwarze Dreispitz tritt. Von Alters her wurde an hohen Kirchentagen, z. B. beim Abendmahl, auch in der Trauer und bei Leichenbegleitungen, ein schwarzer Mantel getragen, der aber nachgerade überall in Abgang kommt.

An Sitten und Bräuchen, die sich vom sonstigen ländlichen Herkommen unterscheiden, ist Betzingen nicht eben reich. Eine eigenthümliche Rolle spielt die Schürze, die wir bereits kennen, bei den Hochzeitladungen. Bei diesen trägt die Hochzeiterin eine weiße, oben mit Spitzen besetzte Schürze und über derselben eine andere von schwarzer Glanzleinwand, über deren oberen Saum die Spitzen herausgelegt werden; eine dritte, wieder eine weiße, hält sie herabhängend in der Hand. Der Buchstabe dieser Symbolik sieht etwas verwickelt aus, so daß man den Scharfsinn daran erschöpfen könnte; die Bedeutung ist jedenfalls, daß das Gebot bevorsteht, das Abzeichen des jungfräulichen Standes abzulegen und mit einem andern zu vertauschen. Der Hochzeiter und sein Gesell, der Hochzeitlader, tragen bei diesem Anlasse Säbel, wie es auch anderwärts im Brauche ist; der Letztere hat das Brusttuch mit Bändern geschmückt. Die Hochzeit selbst verläuft in gewöhnlicher Weise, und es entspricht der allgemeinen alemannischen Sitte, daß beim Kirchgang vor und nach der Trauung tüchtig musicirt und geschossen wird. In früheren Zeiten war es üblich, den Brauttanz in der Scheune zu halten.

Bei Taufen trug die ledige Gevatterin ehemals die Schapel, die hohe Krone mit Flittergold und Silberschnüren, die anderwärts die Ehrenauszeichnung der Braut ist; ihre Zöpfe waren mit seidenen Bändern eingeflochten, und ein langes schönes Band hing den Nacken hinab. Zuletzt aber war die Schapel so außer Gebrauch gekommen, daß man sie aus einem benachbarten Dorfe, das länger am alten Herkommen hielt, entlehnen mußte.

Leichenfeierlichkeiten schließen mit dem Leidtrunke, der fast überall

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 439. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_439.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)