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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Weise; nirgendwo sonst berühren sich so nah das Ewige und das Vergängliche, die Schöpfung von Millionen Jahren und die Mode von gestern; Sonnenschein und Schminke, Wiesenduft und Eau de mille fleurs, die Schönheit und die Fratze, das Erhabene und das Lächerliche.

Ich sagte oben, daß der Sonnenschein für Interlaken so nothwendig sei, wie gute Laune für eine schöne geistvolle Frau. Allein wie sehr ich auch den Sonnenschein liebe und besonders in Interlaken liebe – es giebt auch hier eine Grenze, wo sich der Mensch von den Fliegen und Schmetterlingen scheidet und spricht: Ein jegliches nach seiner Art, mir wird’s zu viel! Ich hab’s erfahren im Julimonat des vorigen Jahres, in dem schönen Interlaken.

O dieser Sonnenschein! Wie er des Morgens in aller Frühe seinen Weg durch die Ritzen der grünen Jalousien suchte und sagte: ich bin da und jetzt gehört die Welt mir bis zum Abend! wie er ein paar Stunden später überall war! wie in seinem Glanz die Schneefelder der Jungfrau, des Silberhorns und des Breithorns leuchteten und schimmerten und flimmerten, daß kein Menschenauge es ertragen konnte und blaue Brillen im Preise stiegen! wie die kahlen starren Felsmassen des Vordergrundes in den allmächtigen Strahlen wie in weichen Nebeln verzitterten! wie die Bäume die Gluth tranken und kein Blättchen regten, als fürchteten sie, es möchten Flammen aus den Aesten schlagen! wie still die Vögel in dem dichtesten Laub versteckt sich hielten, der Abendkühle harrend! und wie der mitleidige Kellner in unserm Hotel über die Meisenfamilie, die sich in einer Ampel der Veranda angesiedelt halte, schützende Blätter befestigte, damit die kleinen nackten Thierchen nicht versengt würden! Armer guter Mensch, Du wußtest wohl, warum Du Mitleid hattest! Eines Mittags servirte er nicht, wie sonst. Ich fragte die schöne Wirthstochter, wo der Jacques heute sei. Sie deutete mit dem Finger nach der Stirn und flüsterte, indem sie mir das Eis über die linke Schulter reichte: „Die große Hitze, wir haben ihn heute Morgen in das Spital schaffen müssen.“

Die große Hitze! sie bildete den Unterhaltungsstoff beim Frühstück; man seufzte darüber am Mittagstisch, und am Abend wurde bei Thee und Erdbeeren dasselbe Thema noch immer ventilirt. Es litt eben ein Jeder darunter, ich nicht zum mindesten. Ich war nicht zum ersten Male in Interlaken; ich wußte aus Erfahrung, wie mild hier sonst die Lüfte wehen, selbst an heißen Sommertagen; wie traumgleich hier im Schutz und Schirm der ewigen Berge, durchhaucht vom linden Athem der nachbarlichen Seen, zwischen den grünen Matten unter breitästigen Bäumen die Tage dahinfließen, daß man sich schier in das Land der seligen Lotophagen versetzt glauben könnte, von dem Tennyson singt:

Hier grünen Moose kühl,
Hier rankt der Epheu durch den üpp’gen Pfühl,
Und in dem Strom die Lotosblumen trauern,
Und schläfrig hängt der Mohn von zack’gen Felsenmauern.

Wie hatte ich mich aus dem Staub und der Hitze Berlins gesehnt in mein liebes Lotosland! Hier sollten sich der müde Kopf und die müde Brust nach schwerer Arbeit erquicken, während ich das eben vollendete Werk in aller Muße durchlas und dabei das letzte Pünktchen auf’s letzte i setzte. Die rastlose, unbändige, überwältigende Hitze machte mir selbst die leichte Arbeit schwer und ließ mich sehnsüchtig die fünfte Nachmittagsstunde herbeiwünschen, wo ich nach überstandener Table d’Hôte in das schattige Revier des Kleinen Rugen flüchtete.

Wenn Du Interlaken kennst, lieber Leser, so kennst Du auch den Kleinen Rugen, den letzten Ausläufer der Hochalpen, den zierlichen Fuß gleichsam, den die Jungfrau in das Bödeli setzt. Ein Bergkegel von 600’ Höhe ungefähr, vom Fuß bis zum Gipfel auf seiner ganzen Oberfläche mit den verschiedenartigsten Laub- und Nadelhölzern bestanden – Dank der Forstverwaltung des Cantons, welche vor etwa 40 Jahren diesen Berg zu einer Pflanzschule für sämmtliche in der Schweiz vorkommenden Baumgattungen bestimmte. Von der Hotelstraße des Höhweges gelangt man über die Matte zwischen Interlaken und dem Dorfe Matten und durch einen Theil dieses Dörfchens an den Fuß des Rugen, und wenn man den erreicht hat, ist man geborgen, selbst in der größten Sommerhitze.

Es ist bezaubernd schön auf dem Rugen zu jeder Tageszeit, besonders aber in den Stunden zwischen fünf Uhr und Sonnenuntergang, wo ich ihn tagtäglich besuchte. Der Reichthum der Scenerie, welcher sich nach allen Seiten hin den entzückten Blicken entfaltet, ist unbeschreiblich, und die mit jedem Augenblick wechselnde Beleuchtung läßt jedes dieser herrlichen landschaftlichen Bilder in dem ihm am meisten zusagenden Colorit erscheinen. Es ist ein wonnesames Schwelgen in Formen und Farben, oft von einer Intensität, die dem übertrieben erscheinen mag, welchen die Natur nicht mit malerischen Augen begabt hat.

Da ist der Blick nach Osten über den Brienzer See, den man zwischen fünf und sechs Uhr genießen muß, wenn der liebliche Thalgrund zu unsern Füßen mit seinen Häusern und Häuschen, seinen Bäumen und Mattlis im warmen Nachmittagssonnenschein prangt, wie ein Paradies; wenn die Contouren der Bergzüge, die zur Linken, gegen Nordost, den See einschließen, im tiefsten Ultramarin verschwimmen, während die rechts, die noch direct von den schrägen Strahlen der Sonne getroffen werden, in allen Tönen des Goldes prangen, zwischen beiden sich das gänzlich blaue Wasser des See’s so friedlich und so lockend ausbreitet, lockend hinüber nach den Gießbach-Fällen, nach Brienz, dessen Häuser am fernen Rande des See’s sich noch eben aus dem Duft erheben, nach dem Haslithal und weiter in’s schöne Land Italia.

Und hat man nun, in Entzücken versunken, eine Farbe in die andere übergehen und mählich bleicher und bleicher werden sehen, ist man nach manchen Gesprächen und manchem Ausruhen durch den dämmerigen Wald allmählich steigend auf die entgegengesetzte Seite des Berges gekommen, so schwebt ein anderes Bild vor Deinen Augen, so ähnlich dem ersten und doch wieder so ganz verschieden in Stimmung, Formen und Farben.

Die Sonne ist bereits unter den scharfen Grat der Stockhornkette getaucht. Der westliche Himmel prangt in dunklerem und hellerem Safrangelb, von dem sich die prachtvolle Pyramide des Niesen, vom Gipfel bis zur Sohle in herrlichstes Violet gehüllt, mit wunderbarer Schärfe abhebt. Ueber dem Safran des Horizontes färbt sich der Himmel lichtgrün und dunkelgrün bis hinauf zum Stahlblau des Zeniths, und all’ diese Farbenpracht wird von der weiten Fläche des Thuner See’s zurückgeworfen, wie von einem krystallnen Spiegel, während die dunklen bewaldeten Hänge der Berge des Vordergrundes das einzige Bild einrahmen.

Aber noch sollen wir Größeres schauen. Uns links wendend, treten wir nach kurzer Wanderung durch den Wald hinaus auf die Matte, die vom Rugen auf dem Rücken des Hügels in wenigen Minuten nach der Ruine des Schlosses Unspunnen hinüberführt. Vielleicht gehen wir bis zu der Ruine; vielleicht lagern wir uns gleich hier in das schwellende Gras. Schöner, großartiger kann der Blick auf die Jungfrau doch nirgends sein. Aus den Tiefen des Lauterbrunnenthales steigt die Nacht schon herauf, aber mächtig, als könnte das Erdendunkel ihrem Glanz nichts anhaben, leuchten noch immer die Schneefelder und Gletschermassen der Jungfrau hoch herab aus dem südlichen Himmel, dessen herrlich blaue Tiefen das Auge nicht ergründen kann. In den schweren Schatten, die ringsumher die finstern Berge werfen, erscheint die ungeheuere Eiswand in fast greifbarer Nähe, und doch ist sie so fern, daß von der furchtbaren Lawine, die so eben an ihren Hängen vielleicht mehrere tausend Fuß herunterdonnert und deren einzelne Aufstürze und allmähliches Wachsen das Auge genau verfolgen kann, das gespannt horchende Ohr in der tiefen Stille ringsum auch nicht den leisesten Ton vernimmt.

Doch siegt die Erdennacht. Bleicher und bleicher, zuletzt in gespenstischer Blässe schaut die Jungfrau herab. Von den näherliegenden Bergen, vom Abendberg, von der Suleck sind kaum die Umrisse noch zu erkennen; hoch oben von den Hängen der Schienigen-Platte leuchtet das Feuer einer Sennhütte wie ein mächtiger Stern aus dem Dunkel. Tiefe Nacht liegt in dem Thale von Interlaken; tiefe Nacht und tiefe Stille, unterbrochen nur von einem gelegentlichen Lachen oder Singen, das aus einer der ringsum zerstreuten Hütten ertönt, oder dem Klingeln eines Einspänners, der eine verspätete Gesellschaft von einem Ausfluge nach Lauterbrunnen und der Wengernalp zurückbringt.

So oft ich damals von dem Thal den Rugen hinan oder vom Rugen hinab in’s Thal stieg, kam ich an einem mächtigen Bau vorbei, der das ganze Plateau eines waldigen Ausläufers bedeckte, welchen der Rugen seinerseits in das Thal hineinschiebt; und so oft ich diesen Bau, an dem so rüstig geschafft wurde, sah, hatte ich stets denselben Wunsch, nämlich: daß derselbe bereits

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 459. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_459.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)