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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

von der Praxis der Engländer und Belgier abweichend, zur Geltung brachte. Er widerstrebte, so lange es an ihm war, den Einflüssen der später durch den Bezug amerikanischer Betriebsmittel bedingten Betriebsformen und Constructionen der Stationen, indem er das Betriebsmaterial der Leipzig-Dresdner Bahn, ganz nach den so ungemein praktischen englischen Principien, mit kleinen Wagen von kurzem Radstande ausrüsten ließ, die eine so große Beweglichkeit und Handlichkeit gewähren. Diese construirte er, ebenfalls nach englischem Systeme, mit einer großen Anzahl kleiner Drehscheiben, die den Betrieb, ohne ihn, wie man sehr irrig meint, gefährlich zu machen, so sicher, geschmeidig und führig gestalten.

Von allen Nachtheilen, die dem deutschen Eisenbahnwesen anhaften, datiren neun Zehntel von dem Abweichen von diesem Principe. Es ist hier nicht der Ort, dies näher auszuführen.

Die Gesellschaft bedurfte einer Autorität zur Consolidirung der öffentlichen Meinung in Bezug auf die von ihr adoptirte Kunze’sche Linie über Würzen, Dahlen, Strehla (Riesa) und von da an auf dem rechten Elbufer über Oberau. Die Beziehungen der Reise trugen Früchte. Dem großen Ingenieur Walker war Kunz lieb geworden, und er verstand sich dazu, nach Sachsen zu kommen und die Linie zu prüfen. Der berühmte Engländer gewann, auf denselben Pfaden gehend, die der geistvolle Deutsche ihm vorgeschritten war, dieselben Ueberzeugungen. Er billigte Kunz’s Linie mit einer einzigen kleinen Abweichung.

Der nationalökonomische Fernblick der Männer, die an der Spitze des Unternehmens standen, ist nicht genug zu preisen. Was wäre die auf dem linken Elbufer geführte kürzere Leipzig-Dresdner Bahn gewesen, als eine Binnenbahn, bald ausgeschlossen aus dem großen Ost-West-Strome des europäischen Verkehrs!

Im November 1835 wurde Kunz zum Ober-Ingenieur der Bahn ernannt. Tüchtige und geistvolle Arbeitsgenossen wurden ihm zur Seite gestellt. Die Arbeiten begannen, und in kaum hoch genug zu schätzender und geschätzter Weise entwickelte sich unter den Händen des Mannes, der nie eine Eisenbahn hatte bauen sehen, wie durch Divination ein Organismus der Arbeiten, der selten an praktischer Brauchbarkeit von einem andern übertroffen worden, in seinen Hauptzügen für den Bau der meisten Bahnen noch mustergültig und, wo es geschah, meist nur zum Nachtheil der Sache verlassen worden ist. Die ganze Ueberzeugungskraft von Kunz’s persönlicher Autorität gehörte dazu, die vor der unerhörten Größe der Massen und Summen zurückschreckenden Bauunternehmer dazu zu bewegen, sich mit den gewaltigen Erd- und Felsenarbeiten zu befassen. Die Schnelligkeit der Herstellungen ließ die Dorfbewohner nach den Bauten hinauslaufen, „um sie wachsen zu sehen“. Die Brücken über die Elbe, die Mulde und das Zschöllauthal, der Viaduct bei Röderau, der Einschnitt bei Machern, der Tunnel bei Oberau wurden mit Armeen von Arbeitern gefördert, daß besorgte Polizeibeamte die Köpfe schüttelten. Die Gesichtspunkte für das Mögliche verschoben sich dem ruhigen Sachsenvölkchen. Die Eisenbahn schritt wie ein unwiderstehliches Etwas durch die Gemüther, so wie ihre mächtigen Dämme das Land wie Bergstürze verschütteten, ihre Tunnel und Einschnitte durch Fels und Höhen brachen.

Kein Geweck, kein Geschäft, kein Wissen, keine Kunst blieb unbeansprucht, Talente und Kräfte erstanden wie durch Zauber unter dem Blicke des geistvollen Mannes, der mit unerhörten Anstrengungen und Opfern an Lebenskraft sich zum Allgegenwärtigen auf der ganzen Linie seiner Thätigkeit machte, wie das Vertrauen des Directoriums ihn zum Allmächtigen gestempelt hatte. Vertrauen besitzen ist keine Ehre, und es nicht besitzen keine Schande, je nach der Capacität des Empfängers und Spenders. Nie ist Vertrauen besser placirt gewesen, als das des Directoriums der Leipzig-Dresdner Bahn zu Kunz.

Kein Genie ist seltener, als das des Regierens, weil es das Genie des Vertrauens einschließt. Es giebt keinen großen Dirigenten ohne das Genie des Vertrauens, das instinctiv und untrüglich Natur und Intensität jeder sich ihm bietenden Kraft erkennt. Der Verfasser, der das Glück hat fast alle bedeutenden Techniker der Zeit persönlich zu kennen, hat unter ihnen drei ganz hervorragende Dirigenten gefunden: Kingdom Brunel, August Borsig und Carl Theodor Kunz. Der Erbauer der Great Western-Bahn und des Leviathan, der Schöpfer der größten Locomotivenfabrik der Welt und der Erbauer der ersten großen deutschen Eisenbahn hatten gleichmäßig die Fähigkeit, dem vor sie Hintretenden durch Hirn, Herz und Nieren zu blicken. Wo sie ihn hinstellten, da paßte der Mann. Sie waren eben Meister!

Kunz war ein Dirigent, ein Kraftausnutzer im vollsten Sinne des Worts. Das Leben hatte ihn dazu gemacht. Sein breitschultriger, gedrungener Körper kannte kein Ermüden, und das machte ihn oft unbarmherzig gegen Andere. Die Festigkeit, auf die der breitgewölbte Schädel mit frühergrautem Haar auf kurzem starrem Nacken deutete, ließ ihn schroff und unduldsam gegen Mattherzigkeit erscheinen. Sein Motto: „Ein fest durchgeführter Fehler ist zehn schwankend verfolgte Wahrheiten werth!“ ist das aller bedeutenden Leiter. Den Blick der kleinen, blitzenden Augen fühlte man in den Eingeweiden, und Betrüger und Lügner zitterten darunter. Wohl dem, dem er einmal Unrecht gethan hatte; er wurde nicht müde, es mit dem ganzen Aufwande seiner Liebenswürdigkeit gut zu machen. Dem Wackern unter seinen Leuten war er ein Schild, der sich lieber zerbrechen als jenen schädigen ließ.

Was Wunder, daß ihn seine Untergebenen liebten! Er aber liebte es mit ihnen tüchtig zu arbeiten und in ihrer Mitte, wenn Noth an Mann ging, wohl selbst einmal Hand anzulegen, aber auch fröhlich zu tafeln, und wenn sie dann, im Weine froh, von der Leber weg sprachen, da spitzte er das Ohr und nahm sich das Beste aus der ungewaschenen Wahrheit, die der Wein plauderte.

„Einen großen Fehler,“ pflegte er zu sagen, „kann jeder begehen und der kann ihm allenfalls verziehen werden, aber fünf Erbärmlichkeiten machen einen Wicht, den ich zum Teufel jage.“

Die Gebildeten, Strebsamen, Rüstigen unter seinen Technikern waren seine Jünger. Er stand in ihrer Mitte rathend, helfend, fördernd, strafend, wie etwa ein alter Künstler des 15. Jahrhunderts in Italien unter seinen Schülern gestanden haben mag, halb ihr Vater, halb ihr Fürst. „Das schlechteste Regiment,“ pflegte er zu sagen, „ist das nach Subalternansichten! Man muß sie halb hören, halb glauben und gar nicht befolgen! Wer nicht selbst weiß was Noth thut, mag das Dirigiren lassen!“

Die Arbeiten am Baue der Bahn förderte er mit unglaublicher Energie. Mit dem Blicke überall, ließ er den Vertrauenswerthen ungestört schalten, ohne ihn durch einen Wust von Anordnungen zu lähmen, durch dickleibige Instruktionen zu verwirren. Alle Formen des Transports, durch welche die Bewegung unerhört großer Massen in unerhört kleiner Zeit ermöglicht werden konnten, kamen, je nach der Localität, in passendste Anwendung. Hier wimmelten die von ihm erst einexercirten Colonnen der simpeln Schubkarrenführer in scheinbar wirren und doch so genau vorgeschriebenen Linien durcheinander, dort zogen in endlosen Reihen die pferdebespannten Kippwagen zunächst auf Bohlenbahnen, dann mechanisch construirte Karren auf Schienengleisen in karawanenartigen Zügen dahin. Endlich mußte selbst die Locomotive zur Massenbewegung starke Hand anlegen.

Die Form und Methode des Eisenbahnbaues selbst hat seit der Ausführung der Leipzig-Dresdner Bahn keine bedeutsame neue Seite und auch erst in der allerletzten Zeit mächtige neue mechanische Hülfsmittel erhalten.

Im Jahre 1837 konnte die erste Bahnstrecke von Leipzig aus, am 19. Juli 1838 eine Meile von Dresden aus befahren werden. Eisendröhnende, funkensprühende Mirakel rollten die Züge zwischen unabsehbaren Reihen Staunender hindurch, die dem herandonnernden Ungeheuer jauchzend entgegenwinkten und denen sein Vorüberbrausen den Athem versetzte! Die da auf den Zügen saßen, schauten stolz, als trüge sie der Zeitgeist selbst auf Feuerflügeln, auf die, welche unten standen, herab! – Auch von der Leitung des Marstalls der edeln Feuerpferde hielt Kunz’s Autorität fremdländischen Einfluß mit großer Kühnheit fern. Zaghaft vertraute man das wichtige Amt einem damals unerfahrenen jungen Deutschen, Heinrich Kirchweger, an, der jetzt zu den ersten Maschinentechnikern unserer Zeit gehört. Rasch folgte nun die Eröffnung von Strecke auf Strecke. Unsere Kinder, die das Eisenbahnwesen nicht jung gesehen haben, wissen nicht, wie die Erscheinung zu unserer Zeit uns ahnungsmächtig an die Herzen griff!! –

Das war auch die Glorienzeit in Kunz’s Leben, wo jeder Tag ihm neues Gelingen, neues Bewähren, neue Ehren brachte. Wäre er kein bescheidener Deutscher, kein deutscher Techniker gewesen, sie hätte ihn auch für alle Zeiten zum behaglich wohlhäbigen Genießer reichen Ruhms machen, seinen Namen in jeden deutschen Mund legen müssen. Die Compagnie honorirte seine Thätigkeit, im Sinne

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 538. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_538.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)