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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

glaubte es seinem stieren Auge anzusehen, das nicht rechts, nicht links blickte.

„Sollte er ihr folgen?“ sagte der Doctor. „Sollte er etwas gesehen, erfahren haben? Er ist nicht ganz unvernünftig und hat für manche Dinge sogar ein scharfes Urtheil. Er soll schon vor einiger Zeit etwas gemerkt haben, meinte der alte Conrad. Ich muß es wissen. – Aber gehen wir zu der Sterbenden.“

Sie verließen den Ort, der sie verborgen hatte. Sie mußten noch weit in den langen Gang hineingehen, dann Seitengänge einschlagen, bis sie in den bewohnten Theil des weitläufigen Schlosses gelangten, in welchem die Zimmer der kranken Freifrau sich befanden. In einem der Seitengänge erreichten sie diese.

Der Arzt klopfte fast unhörbar an eine Thür, und eben so leise wurde die Thür von innen geöffnet. Eine alte Kammerfrau hatte sie geöffnet, sie ließ die Beiden in ein matterhelltes Zimmer treten, in welchem die tiefste Stille herrschte. Es war die Stille der Nähe des Krankengemachs, vielleicht, wahrscheinlich, bald des Todes. Wer hätte sie stören mögen!

„Was macht die Kranke?“ fragte der Arzt mit seiner leisesten Stimme die Frau.

„Sie ist ruhig geblieben, seitdem Sie fort waren. Sie erwartet den Herrn Pater.“

„Melden Sie ihn.“

Die Kammerfrau verschwand durch eine Seitenthür. Man hatte sie kaum gehen, die Thür kaum öffnen und wieder zumachen hören. Nach kurzer Zeit kam sie zurück, und mit ihr kam der alte Diener Conrad, der bei der Kranken gewesen war. Der alte Mann hatte Thränen in den Augen. Als er an dem Mönche vorbeiging, ergriff er dessen Hand; er drückte, er küßte sie.

„O Herr Pater, Sie gehen zu einem Engel des Himmels –“ Er konnte vor Schluchzen nicht weiter sprechen.

„Die gnädige Frau ist bereit,“ sagte die Kammerfrau.

Sie führte den Mönch in das Krankenzimmer, in diesem zu einem Bett.

„Der Herr Pater, gnädige Frau,“ sagte sie.

Sie kehrte in das Zimmer nebenan zurück, in dem sie gewartet hatte, um dort ferner zu warten.

Der Mönch war allein mit der Kranken, der er die Beichte hören und die er zum Sterben vorbereiten sollte, die ein Engel des Himmels war. Er stand an ihrem Bett. Auch in dem Krankenzimmer war nur eine halbe Helle; nur eine Nachtlampe brannte darin. In ihrem matten Scheine sah der Mönch die Kranke. Es war eine junge Frau, vielleicht im Anfange der dreißiger Jahre. Sie war schön; aber das schöne Gesicht war weißer als die weißen Kissen, auf denen sie lag. Dem alten Mönche weinte das Herz, wie er sie so sah. Er mußte gewaltsam das Schluchzen unterdrücken, das ihm in der Brust heraufzog. Aber immer mußte er sie wieder ansehen, wie man ein Bild ansieht, das wir schon früher einmal gesehen haben, als Kind vielleicht schon, das seitdem nie aus unserer Erinnerung hat entweichen können, und das nun auf einmal vor unser leibhaftes Auge wieder hintritt.

„Sie wollen mir beichten, meine Tochter!“ sagte der Mönch, und seine Stimme zitterte.

„Ja, ehrwürdiger Vater.“

„Sind Sie sofort bereit?“

„Ja, ehrwürdiger Vater,“ sagte sie noch einmal mit ihrer schwachen Stimme.

Er kniete vor dem Bette nieder. Da sie, die Kranke, es nicht konnte, that er es für sie.

„Der Herr der Wahrheit sei mit Ihnen!“

Er empfing ihre Beichte, ertheilte ihr die Absolution und sprach den Segen über sie. Er wollte ihr das Abendmahl und die letzte Oelung geben, aber in dem Vorzimmer war ein Geräusch entstanden.

Es war die erste Unterbrechung der lautlosen Stille, die, so weit das Ohr reichte, geherrscht hatte. Die Kranke horchte hin.

„Mein Mann!“ fuhr, jauchzte sie auf einmal auf. „Georg! Georg!“

Die Thür wurde leise geöffnet, und noch leiser trat ein Herr in das Zimmer.

„Georg, mein Georg, bist du es?“

Da flog, stürzte der Mann zu dem Bette.

„Ich bin es, meine Margarethe!“

Der Gatte umfing die Gattin. Sie umschlang mit den schneeweißen, abgezehrten Armen seinen Hals.

„O, nun kann ich sterben. In Deinen Armen, Du theurer Mann! Du meine Liebe, mein Stolz! Du Stolz Deines Vaterlandes, Du Freude Deines Volkes!“

Der Gatte konnte vor Weinen nicht sprechen. Der Mönch verließ das Zimmer.

„Ja, nachher, mein Vater!“ rief ihm die Kranke zu. „Warten Sie in dem Nebenzimmer.“

Der Mönch ging in das Nebenzimmer, um zu warten. Er fand den alten Diener Conrad darin und den Hauptmann. Die Kammerfrau war hinausgegangen. Der Hauptmann trug noch die Kleidung des Lumpensammlers und war sehr vergnügt.

„Ah, Herr Pater, da sehen wir uns ja wieder! Aber was habe ich unterdeß von Ihnen hören müssen, durch meinen Freund, den Doctor? Sie haben uns belauscht! Nun, Sie konnten nicht anders. Aber ich, ich! Ich hätte die Vorsicht selbst sein sollen – ich wollte es sein! Und an Ihrer Stelle hätte eben so gut ein französischer Spion horchen können. Aber der liebe Gott hat uns ja beigestanden. Danken wir ihm.“

„Sie haben keine Sorge, keine Furcht weiter?“ fragte der Mönch.

„Wovor? Den Freiherrn herein zu bringen, das war die Gefahr, die Furcht. Ist er einmal im Schlosse – ei, da kann ein ganzes Regiment Gensdarmen und ein Regiment Kürassiere dazu kommen, und sie können einen ganzen Monat lang suchen – wir haben hier so viele alte und neue Burg- und andere Verließe, Souterrains, Keller, geheime Gänge und Fallthüren, Thürme und Wendeltreppen, Leitern und Stricke, einen ganzen Wald von Geheimnissen. – Aber was macht die Kranke, Herr Pater? Das war wohl eine Freude des Wiedersehens? Nun wird der Doctor sie auch wieder curiren können.“

Der Mönch kam nicht zum Antworten. Der Doctor trat in das Zimmer. Er war eilig; er sah besorgt, wenn nicht gar ängstlich aus.

„He, was giebt’s, Doctor?“ rief ihm der Hauptmann entgegen.

„Nichts Gutes.“

„Erzählen Sie.“

„Sie wissen, ich wollte sehen, wo der alte Herr und die Gräfin geblieben sein. Ich ging ihnen nach und fand sie.“

„Und wo und wo? Und wie?“

„Nachher davon. Lassen Sie uns zunächst das abmachen, was uns am nächsten angeht. Ich fand die Spur des Alten am runden Thurm.“

Der alte Diener Conrad war unruhig geworden. „Am runden Thurm?“ unterbrach er den Erzähler.

„Ja, Alter. Verwundert Sie das?“

„Was that er dort, Herr Doctor?“

„Er – Aber nachher davon. Bleiben wir bei der Stange. Ich hatte mich in einen Winkel gestellt, um den Alten zu betrachten. Auf einmal höre ich hinter mir Jemanden schleichen. Ich sehe mich um, erkenne den Louis und dachte, er wolle seiner Herrin nach; er habe etwas erfahren, was er ihr selbst in ihrem Rendezvous mittheilen müsse; vielleicht geradezu eine Gefahr für sie und ihren Obersten. Er ist ja nicht blos der Kammerdiener, sondern auch der Vertraute seiner Herrin, der französische Lump.

Ich lasse also den alten Grafen fahren und sehe dem Burschen nach. In der Mauer hinter dem Thurme ist ein Pförtchen, das in’s Freie führt. Er schleicht zu dem Pförtchen, zu dem er den Schlüssel hat – Gott weiß, woher.“

„Von der Gräfin – von wem anders?“ sagte der Hauptmann.

Der alte Conrad nickte stumm mit dem Kopfe.

Der Doctor fuhr fort: „Er schloß das Pförtchen auf und trat in’s Freie. Ich folgte ihm bis an die Schwelle. Hinauszugehen wagte ich nicht sogleich. Ich horchte. Aber das dauerte keine Minute, da hörte ich von allen Seiten leise, leichte Schritte heraneilen. Der Schuft mußte einem Nahestehenden ein Zeichen gegeben haben; dieser hatte es weitergegeben. Das Gesindel hatte eine ganze Kette gebildet. Und wie sie beisammen waren, da hätten Sie das Zischeln und Zascheln, das Fragen und Antworten hören sollen, und auch wohl das Hin- und Herüberlegen. Ich konnte nur leider nichts verstehen. Sie sprachen so leise, und ihr Französisch flog ihnen so schnell über die glatten Lippen, daß man meinte, nur Pfeile oder Kugeln durch

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 563. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_563.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)