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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Der Hauptmann tappte in der Finsterniß umher.

„Hier!“ rief er. „Eine Treppe! Und richtig eine Wendeltreppe. Und es ist auch ein Strick da, um sich daran zu halten, damit man nicht unten den Hals bricht. Man muß also verdammt tief fallen können. Folgen Sie mir, Doctor.“

„Ich bin schon da.“

„Halten Sie sich nicht zu fest an dem Stricke, das alte Seil kann morsch sein, seit Jahrhunderten da hängen. Wenn es reißt, brechen wir Beide da unten die Hälse.“

„Und wo sind wir, Hauptmann?“

Der Angeredete suchte von Neuem umher. „Auf trocknem, festem Boden von Erde.“

„Und hier links fühle ich eine steinerne Mauer. Der Gang muß sich also nach rechts ziehen.“

„Und da habe ich ihn auch. Der trockne, feste Boden zieht sich hier fort. Und ich kann Ihnen auch sagen, wie breit der Gang ist, Doctor. Ich messe fünf Fuß, acht Zoll. Wenn ich meine beiden Arme ausstrecke, so berühren meine Fingerspitzen rechts und links die beiden Seitenmauern. Denn nicht wahr, Doctor, die Länge der beiden ausgestreckten Arme eines Menschen entspricht der Länge seines Körpers?“

„Wenn uns in diesem schmalen Gange Franzosen begegneten, so wären wir ein paar verlorene Menschen.“

„Ja, das wären wir. Gehen wir weiter.“

„Ich folge Ihnen.“

„Horch! Hörten Sie da nicht etwas, Doctor?“

„Da hinten vor uns! Es kam mir auch so vor.“

„Und in der Höhe war es.“

„Sollten wir an dem Ende des Ganges sein?“

„Wir werden es sehen. Es ist wieder still. Gehen wir um so vorsichtiger.“

„Teufel, da ist es wieder! Und ganz nahe vor uns.“

„Und es lautet, als wenn an einem Schlosse gedreht, an einer Thür gearbeitet würde.“

„So ist es auch, und, Hauptmann, wenn da die Franzosen wären, um in den Gang einzudringen?“

„Und wer sollte sie hingeführt haben, Doctor?“

„Der Louis! Wir sprachen schon vorhin von ihm. Der Bursch ist mit allen Hunden gehetzt, kennt alle Winkel des Hauses, hat, wie alle Welt hier, von einem geheimen, unterirdischen Gange im Schlosse gehört, hat sicher nicht eher geruht, als bis er ihn ausspionirt, hat ihn dann von einem Ende bis zum anderen verfolgt und gebraucht ihn jetzt zu seinem schändlichen Verrathe. Sie hätten sehen sollen, wie der Schuft den ganzen Tag, den ganzen Abend immer auf den Beinen, bald hier, bald dort, überall schlich, überall hin horchte. – Aber still! Da wurde deutlich ein Schlüssel gedreht.“

„Wer in dieser verdammten Finsterniß sehen könnte! Aber gehen wir darauf zu.“

„Und wenn es die Franzosen wären, Hauptmann? Wir liefen ihnen geradezu in die Hände!“

„Entkommen könnten wir ihnen ohnehin nicht. Aber im Gegentheil, wenn wir es können, so ist es mir gerade durch ein Draufgehen möglich. Jene Thür ist nicht unmittelbar am Gange. Sie müssen also noch eine zweite Thür passiren und vorher öffnen; kommen wir ihnen an dieser zuvor! Vielleicht ist sie von hieraus zu verriegeln, oder sonst zu versperren. Voran, Doctor! Nur dem Muthigen gehört die Welt.“

Sie gingen vorwärts. Nach dem Oeffnen der Thür hatten sie gar nichts weiter gehört.

Sie waren nach zehn Schritten am Ende des Ganges. Aber wo und wie war dieses Ende des Ganges? Sehen konnten sie nicht das Geringste. Sie mußten fühlen.

„Wir stehen vor einer Thür von massivem Eisen, Doctor – sie ist so breit wie der Gang und verschlossen.“

„Versuchen Sie, ob sie zu öffnen ist.“

„Still, Doctor! Das würde Geräusch machen und uns verrathen. Mich dünkt, ich höre etwas jenseits.“

Beide legten horchend das Ohr an die Wand.

„Wahrhaftig,“ rief der Doctor, „da spricht Jemand.“

„Und wissen Sie, wer es ist?“

„Nun?“

„Der junge Graf.“

„Der Blödsinnige?“

„Gewiß. Mit wem mag er nur sprechen?“

„Und wo könnte er sein? Wo wären wir also?“

„Da antwortet ihm Jemand, und – Teufel, das ist die Stimme des alten Grafen.“

„Großvater und Enkel beisammen? Der Verrückte und der Blödsinnige? Die haben seit Jahren kein Wort mit einander gesprochen. Was mögen sie jetzt haben?

„Da wird eine Thür geöffnet. Sie knarrt fast ärger als die andere, als wenn sie seit einem halben Jahrhundert nicht geöffnet wäre.“

„Seit einem halben Jahrhundert, Hauptmann? Wissen Sie, daß gerade seit fünfzig Jahren die Frau und der Bruder des Alten verschwunden sind?“

„Teufel, Doctor, worauf bringen Sie mich da? In dem alten Thurme sollen die Beiden verschwunden sein. An dem alten Thurme sahen Sie vorhin den Alten mit den Schlüsseln. Wir müssen hier vor diesem Thurme stehen. Der verborgene Gang mündet hinein.“

„Aber still, still, Hauptmann! Hören Sie die sonderbaren Töne!“

„Das ist ein Hund.“

„Der Alte hatte seine Dogge bei sich, den Hannibal.“

„Und hören Sie, wie das Thier heult! Und da winselt es wieder. Das überläuft einen ja heiß und kalt. Was mag das sein?“

„Horchen wir weiter. Da lacht einer. Es ist der Alte. Ich kenne sein heiseres, boshaftes Lachen des Wahnsinns. Das fährt erst recht durch Mark und Bein.“

Sie schwiegen und horchten gespannt, indem sie Beide das Ohr fest an die eiserne Thür gelegt hatten. Großvater und Enkel, der verrückte und der blödsinnige Graf, sprachen miteinander. Aber von dem, was sie sprachen, waren nur einzelne, abgerissene Worte zu verstehen.

„Ja, ja, hier!“ sagte der Alte, als wenn er auf eine Frage geantwortet hätte.

„Und wie?“ fragte der Enkel.

Die Antwort war diesmal nicht zu verstehen. Die Horcher unterschieden nur das Wort „Hannibal“. Von dem, was darauf wieder der Enkel sprach, waren nur die zwei Worte „die Franzosen“ zu verstehen. Der Alte lachte darauf, fast so heiser und boshaft, wie vorhin. Dann sprachen Beide lange, ohne daß eine einzige Sylbe zu unterscheiden war.

„Hannibal, komm!“ rief jetzt der Alte dem Hunde zu.

Die Thür, die zuletzt aufgeschlossen war, wurde wieder zugemacht. Man hörte deutlich das schwere Knarren, aber am Schlosse wurde nicht wieder gedreht; sie war also nur angelehnt. Zwei Schritte bewegten sich. Eine zweite Thür wurde geöffnet; es war dieselbe, welche die Horchenden zuerst, da sie noch weiter zurück im Gange waren, hatten aufschließen hören. Sie wurde wieder abgeschlossen, und man vernahm nichts mehr.

„Hm, Doctor, was war das Alles?“

„Gott weiß es, Hauptmann: Die Beiden haben etwas vor, die beiden armen Thoren zusammen. Gutes ist es nicht, obwohl der Blödsinnige dabei ist. Das Lachen des Alten war zu boshaft. Und auch die Bosheit des Wahnsinns steckt an, wie der Wahnsinn selbst. – Gehen wir, Hauptmann!“

„Ja, kehren wir zurück! Was gehen uns die Narren an? Ich habe da zwar einen Gedanken über das, was sie vorhaben konnten; aber er ist zu wüst, als daß ich ihn aussprechen mag. – Wir haben eins gewonnen. Dieser Gang mündet in den alten runden Thurm; darüber ist kein Zweifel. So kann kein Franzose hinein. Die Thüren des Thurmes sind von Eisen; die Fenster sind mit den schwersten eisernen Stäben versehen. Die Schlüssel zu den Thüren hat außer dem Alten und dem alten Conrad kein lebender Mensch gesehen. Der Alte giebt sie nicht aus der Hand. So ist der Freiherr sicher vor jeder Gefahr.“ – Sie waren schon auf dem Rückwege und konnten, trotz der tiefsten Dunkelheit, schneller gehen in dem Gange, der ihnen nun bekannt war. Aber auf einmal mußten sie auf der Mitte ihres Weges ihre Schritte einhalten. Sie hörten plötzlich vor sich ein Geräusch, einen Lärm.

„Herr des Himmels, was ist das?“

„Das ist Waffengetöse!“

„Vor uns! In dem Zimmer der Freifrau!“

„Die Franzosen?“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 595. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_595.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)