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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Wir sehen ein vierfaches Canalsystem über einander. Zuerst die enge Röhre mit den kleinen Oeffnungen – unser Künstler will sie mit G bezeichnen –, das sind die Gasleitungen, die London nicht nur des Abends und der Nacht, nein, wenn die dicken braunen Novembernebel kommen oft genug während des ganzen Tages mit der nöthigen Helle und Aufklärung versorgen müssen. Wo die Kleinigkeit von ziemlich drei Millionen Menschen beleuchtet und zwar nicht mit continentaler Sparsamkeit beleuchtet, sondern mit wahren Lichtfluthen umströmt sein will, da kann man sich denken, wie riesig der jährliche, selbst nur der tägliche Gasverbrauch sein muß, dem denn auch nicht weniger als zehn große Gesellschaften mit einer Menge von Gasanstalten in Stadt und Vorstädten zu Hülfe kommen. –

Das zweite Stock, von oben gerechnet, jene Röhre von dem gewaltigen Kaliber – ein W soll auf dem Bilde ihr Erkennungszeichen werden – schafft dem Londoner eine andere Lebensunentbehrlichkeit herbei, das Wasser. Unter den sämmtlichen zwölf deutschen Quadratmeilen, welche die Riesenstadt nach und nach mit ihren Häusern bedeckt hat, läuft dies tausendfach verzweigte Netz der Wasserleitung hin, das von neun verschiedenen Compagnien geflochten ist. Im Auslande pflegt die Meinung verbreitet zu sein, daß ganz London kein anderes Trinkwasser habe, als das mit hunderterlei Arten und Unterarten von Schlamm und Unrath gemischte und gewürzte Wasser des Themsestroms, und daß darum das beste nur im Grog und Whiskeypunsche anzutreffen sei; diese Ansicht ist aber, wenigstens in ihrem ersten Satze, ungegründet. Ein großer Theil des nördlichen und nordwestlichen Londons, und namentlich auch die City empfangen ihr Trinkwasser nicht aus der Themse, sondern aus dem tiefer im Lande zwischen Wiesen und Büschen ganz idyllisch und romantisch rinnenden Flüßchen Lea und den Chadwellquellen, die in Hertfordshire entspringen und in ihrem untern Laufe zu dem sogenannten New River (Neufluß) werden. Blos der Süden und Südwesten Londons ist noch auf das Themsewasser angewiesen, doch darf seit einem Parlamentsbeschlusse von 1855 keine Compagnie mehr dem eigentlichen Stadtgebiete des Stromes ihr Wasser entpumpen, sondern nur meilenweit oberhalb, wo jener noch ein klarer, lieblicher Landfluß ist. London verbraucht Tags im Durchschnitt 46 Millionen Gallonen (die Gallone = etwa 4 Berliner Quart) Wasser, davon wird aus der Themse blos die kleine Hälfte, noch nicht 20 Millionen, geschöpft. Allerdings muß der Londoner dafür den betreffenden Gesellschaften, die selbstverständlich nicht umsonst arbeiten mögen, eine „Wassertaxe“ entrichten; allein die Steuer ist verhältnißmäßig gering, und die Wasserleitungen treiben das unersetzliche Element allenfalls bis auf die obersten Dachfirsten hinauf, wenn man etwa Lust verspürt, sich im Schatten der windbewegten Schornsteinungethüme eine kleine Lustfontaine zu etabliren. Zu dieser unschätzbaren Annehmlichkeit gesellt sich die weitere, daß ventilartige Aufgänge von den Röhren bis zum Niveau des Straßenpflasters im Falle von Feuersgefahr sofort und ohne die mindesten Umstände jede beliebige Quantität Wasser den Spritzen in allen Bezirken der Stadt zuführen. Eigens von der Compagnie besoldeten Leuten ist die Oeffnung und Handhabung dieser zahlreich vertheilten Ventile anvertraut, die man an einer in das Pflaster eingelassenen Eisenröhre erkennt, derselben Eisenröhre, welche zur Wasserspeisung der Häuser dient. –

Eine Etage tiefer fällt uns ein dritter Röhrengang auf, der in ausgemauertem Schachte vom Straßenboden durch Gas- und Wassercanäle hindurch zur Tiefe hinabsteigt – ein C soll ihn unterscheiden. Das ist ein etwas minder appetitliches Institut, als seine obern Cameraden, ein Institut, das nichts zu-, wohl aber sehr Vieles abführen soll, die Excremente von drei Millionen Menschen und Hunderttausenden von allerhand großem und kleinem Hausvieh dazu. Man nennt es „Sewage“ oder „Hauptdrainage“ und hat es seit dem Jahre 1859 anzulegen begonnen, nachdem das frühere Cloakensystem sich als höchst mangelhaft, luft- und wasserverpestend erwiesen und während des Sommers namentlich ein stereotypes Angriffsziel der englischen Presse hatte abgeben müssen. An den verschiedensten Stellen und Plätzen der Stadt und Umgebung nimmt nunmehr eine Reihe langer Canäle den Koth und Unrath auf und entleert ihn, nicht wie sonst, noch im Stadtbezirke selbst, sondern weit unterhalb, auf rechtem und linkem Ufer, in die Themse.

Rümpfen Sie nicht das Näschen, Verehrteste. Der Gegenstand ist freilich nicht salonfähig, nicht einmal ästhetisch, dafür aber desto wichtiger, wichtig in baulicher, volkswirthschaftlicher und hygienischer Beziehung. Stellen Sie sich vor, daß die Einrichtung, wenn sie einmal vollendet sein wird, was noch nicht der Fall, anschlagsmäßig ein Capital von mehr als zwanzig Millionen Thaler erfordert, daß ihre Canäle allein in der City, einem räumlich verschwindend kleinen Bruchtheile der Metropole, kreuz und quer nicht weniger als zehn deutsche Meilen durchlaufen werden und daß die Ausflüsse, die London tagtäglich der Themse zuführt, Millionen Kubikfuß betragen, ein Quantum, das ungefähr einer sechs Fuß tiefen Erdschicht von 36 preußischen Morgen Flächenraum gleichkommt! Sind das nicht auch interessante Zahlen?

Doch pst! Da schnaubt das Wunder der Wunder heran, aus der geräumigsten untersten Canalschicht, dem weiten Tunnelgewölbe heraus: der Wagenzug der unterirdischen Eisenbahn mit seinen beiden purpurglühenden Augen, das Ganze ein completes Rembrandt’sches Nachtstück mit prächtigen Licht- und Schatteneffecten. Im oberirdischen London war der Verkehr zu bedrohlichen Dimensionen angewachsen und wuchs und wuchs Tag für Tag in’s Riesigere hinaus, und Niemand sah ein Ende des Anschwellens ab. Immer häufiger wurden die Stauungen der Verkehrsfluth auf den Straßen, immer lebensgefährlicher die Bewegung für Mensch und Thier, und die völlige Stagnation der Circulation stand, zumal in einzelnen Gegenden der City, bevor. Dem mußte Abhülfe gebracht, es mußte auf Ableitung dieses Stroms gesonnen, Raum geschafft werden für Rühren und Regen.

Das Kind dieses dringenden Bedürfnisses wurde bekanntlich unsere unterirdische Eisenbahn, der Metropolitan oder Underground Railway, wie sie officiell getauft worden ist. Der Gedanke war kühn, die Ausführung rasch und energisch, mit jener dem stiernackigen Engländer im Guten wie im Schlimmen eigenen Ausdauer in’s Werk gerichtet, die vor keinem Hindernisse zurückschreckt. Noch sind es kaum zwei Jahre, daß der erste Spatenstich des Baues geschah, und jetzt donnern von Viertelstunde zu Viertelstunde, täglich 164 Mal, darunter mehrmals ausschließlich für den zu und von seiner Tagesaufgabe eilenden Arbeiter, die Locomotiven fast unter jedem Zoll des Bodens, welchen wir heute zusammen überschritten haben.

Ihren Ausgang nimmt die Bahn ganz in der Nachbarschaft des uns bekannten Weststationshofes, läuft lang unter dem Mary-le-bone-road hin, schneidet wenige Schritte von unserm augenblicklichen Observationspunkte den Euston Square und berührt das wichtige Verkehrscentrum von Kings Croß. Von hier hört sie auf, unterirdisch im eigentlichen Sinne des Wortes zu sein. Mit Ausnahme eines nur kurzen Tunnels, auf dessen Decke das große Straf- und Besserungshaus der Coldbathfields sich erhebt, läuft sie nun in offenem Durchstich durch mehrere obscure Straßen und Plätze südostwärts der City zu. Dort findet sie in Farringdonstreet, jener langen und breiten nordsüdlich bis zur Blackfriarsbrücke streichenden Communicationsader, die Alles passiren muß, was vom Westen in’s Herz der Allstadt will, ihr vorläufiges Ziel, um später bis zur Stelle des ehemaligen Fleetkerkers Pickwick’schen Angedenkens fortgesetzt zu werden und hier in die Chatham- und Doverbahn zu münden.

Nennen wir ihn immerhin ein Wunder, diesen unterweltlichen Schienenweg. Ein Riesenunternehmen ist er gewiß, wie er mit seinem doppelgleisigen Strange in einem siebzehn, hie und da neunzehn Fuß hohen und 281/2 Fuß weiten, aus sechs Rollschichten ausgemauerten elliptischen Gewölbe, von Gas erhellt, das aus eigenen den Zügen beigegebenen Gasometern mittels Kautschukröhren in die Lampenreihen überströmt, bereits in der Ausdehnung von etwa 4/5 einer deutschen Meile London untertunnelt. Was gab es da für Schwierigkeiten zu überwinden, materielle und technische! Wie oft hat nicht die Katastrophe einer Minute die Arbeit von Monaten zerstört! Unter das tiefste Geäder des Wasser- und Schleußensystems muß hinabgestiegen, die untersten Cloaken müssen umgangen oder gar verlegt werden. Eine der Hauptschleußen bricht während des Baues durch die Wände und ergießt ihre Kothfluth über die Arbeiter. Kaum ist sie gehemmt, so sprudelt plötzlich ein Quell auf und setzt Alles unter Wasser. Während man noch unten mit diesen Hindernissen kämpft, weichen oben die unterminirten Häuser; viele davon müssen eilig gestützt, andere abgebrochen und später wieder aufgebaut werden. Und schließlich doch Alles überkommen, Alles bezwungen, Alles besiegt! Betrachten Sie diese kühnen Constructionen, diese Bogen und Wölbungen, die Vorrichtung zu Erneuerung und Reinigung der Luft, den sinnreich erdachten

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 616. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_616.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)