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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

auf seinem Ruhebett. Ich fand auch an ihm nicht die geringste Veränderung; er schien um keinen Tag älter geworden zu sein. Ich meinte, er könne, er dürfe nicht anders werden; so mußte der Herr seinen Diener abrufen. Er reichte mir die Hand.

„Sie sind pünktlich. Es hat mich gefreut, aber auch – doch setzen Sie sich.“

Ich mußte einen Stuhl nehmen und mich ihm wieder gegenübersetzen. Er sah mich nicht wieder mit jener durchbohrenden Schärfe an, durch die er früher in meiner Seele hatte lesen wollen. Er kannte mein Inneres jetzt; das las ich in seinen Augen. Aber sein Blick war mild.

„Sie waren pünktlich,“ wiederholte er. „Ich erwartete es. Aber mit größerer Unruhe, als Genugthuung. Ich kenne jeden Tag Ihres Lebens, seitdem ich Sie hier sah. Auch Ihre Gedanken wurden mir daher offenbar. Sie drohten, eine gefährliche Richtung für Sie anzunehmen. Die Schuld war freilich zum Theil mein. Die Gefahr für Sie ist noch nicht ganz vorüber. Damit sie völlig schwinde – hier, dieser Zettel führt Sie zu der Frau, mit der seit einem Jahre Ihre Gedanken sich mehr beschäftigen, als es hätte sein sollen. Sie werden sie sehen. Sie wird Ihnen danken für die Rettung ihres Lebens. Ihr bester Dank wird die Heilung sein, die sie Ihnen geben wird, für Ihr ganzes Leben.“

Er übergab mir ein zusammengefaltetes Papier. Ich entfaltete es nicht. Mich beschäftigten seine Worte nach einer andern Richtung. Er kannte meine Gedanken, die ich keinem Menschen in der Welt verrathen hatte. Er konnte sie nur wissen durch die genaueste Kenntniß meines Lebens von jenem Tage an, da ich ihn zuerst gesehen hatte. So hatte er selbst gesagt. Er las meine Fragen in meinen Augen.

„Junger Bruder,“ sagte er, „Sie verfolgen einen Gedanken, der zu der erhabensten Aufgabe des Menschen führt. Unser heiliger Orden streitet und kämpft für sie. Wir streiten für die Religion Jesu, das heißt, für das Recht, für die Liebe, aber um Beider willen auch für den Glauben. Für die Macht der Kirche, sagt man gewöhnlich, sagen selbst manchmal unsere Freunde. Sie haben nicht Unrecht. Ja, wir streiten für die Macht unserer hohen Kirche, nur nicht für eine Gewalt. Und um für ihre Macht zu streiten, müssen wir eine Macht haben, eine Macht sein. Wir werden es wieder. Der neue Grund ist gelegt. Ich habe dafür gelebt, ihn zu legen, zu befestigen. Das Ziel ist erreicht. Der Herr kann mich jetzt jeden Tag zu sich rufen. Was Sie betrifft, mein junger Bruder, ich hatte daran gedacht, Sie zu einem der Unsrigen zu machen. Ich habe den Gedanken aufgegeben. Sie sind zu weich, und wir bedürfen eisenharter und eisenfester Streiter. Gehen Sie jetzt zu jener Frau, die Sie nur als eine Unglückliche gekannt haben, die Sie als eine Glückliche wiederfinden werden. Wenige Worte vorher über sie. Sie ist der Sprößling einer hohen, aber illegitimen Verbindung. Sie weiß es nicht; sie darf es nicht erfahren. Die Kirche hat ein Interesse daran, daß es unbekannt bleibt. Leben Sie wohl. Sie sehen mich nicht wieder.“

Er umarmte mich, mit Rührung fast, wie es mir schien.

„Meinen Segen jener Frau!“ sagte er noch.

Ein Wink seiner Hand entließ mich. Der Diener geleitete mich stumm aus dem Hause. Im Gasthofe entfaltete ich das Billet, das ich von dem Pater Canisius erhalten hatte. „Schwester Victoria im Kloster zu – wird den Ueberbringer dieser Zeilen empfangen.“ Das war der Inhalt des Zettels. An der Stelle der Unterschrift war ein einfaches Kreuz. Das Kloster, das benannt war, lag in Frankreich, unweit der niederländischen Grenze. Im Kloster also hatte die Unglückliche ihr Glück gefunden!

Schon am anderen Tage reiste ich nach dem Kloster. Es war ein großes, altes, reiches und doch finsteres Gebäude, das in einer einsamen, wilden und traurigen Gegend lag. Ich klopfte an seine Pforte. Die Pförtnerin öffnete mir, eine alte Nonne in der schwarzen Tracht des strengen Ordens der Franziskanerinnen.

„Was wünscht der Herr?“

„Ich wünsche die Schwester Victoria zu sprechen.“

Bei dem Namen wurde sie aufmerksamer; er mußte eine Bedeutung im Kloster haben. Sie sah mich aber zweifelhaft an.

„Ich komme im Auftrage des Paters Canisius zu Antwerpen,“ sagte ich.

„Warte der Herr ein paar Minuten.“

Ich wartete. Sie kam zurück.

„Folge der Herr mir.“

Sie ließ mich durch die Thür treten, und ich stand am Eingange eines langen, weiten, hellen Ganges. An der einen Seite waren Thüren, an der anderen hohe Fenster. Sie führte mich zu der zweiten Thür und schloß dieselbe auf. Ich trat in ein hohes, helles Gemach. Aber es war leer, bis auf eine einzige hölzerne Bank, die an der Wand stand. Die weiß angestrichenen Wände waren völlig nackt und kahl. Die eine Seitenwand enthielt ein weites Gitter von starkem, engem Drahtgeflecht. Ich befand mich in dem Sprechzimmer des Klosters. An der anderen Seite des Gitters stand eine Nonne. Sie nahte sich dem Gitter. Es war eine alte Frau mit feinen Zügen. Sie trug auf der Brust ein schwarzes Kreuz. Es war die Vorsteherin des Klosters.

„Ich möchte die Schwester Victoria sprechen,“ begann ich, nachdem ich die Nonne ehrerbietig begrüßt hatte. „Wünschen Sie meine Legitimation zu sehen?“

„Ich bitte darum. Die Regel des Klosters erfordert es.“

Ich reichte ihr den Zettel durch eine kleine Klappe in dem Drahtgeflecht des Gitters, die sie geöffnet hatte. Sie las den Zettel. Dann sagte sie: „Ich darf doch der Schwester Victoria das Billet überreichen? Sie werden sie sehen, mein Herr, die frömmste Dame, welche in einem Kloster der Welt lebt.“

Sie ging und verschwand durch eine Thür, die dem Gitter gegenüber war. Nach kurzer Zeit öffnete die Thür sich wieder. Eine andere Nonne trat ein. Das Herz klopfte mir. Es war die hohe, schöne, edle Gestalt, die ich in meinen Armen, an meinem Herzen getragen, die seitdem meine Gedanken erfüllt hatte. Selbst das grobe, harte, unschöne schwarze Gewand, das sie trug, konnte die edlen, vollendeten Formen nicht verbergen. Das weiße Kopftuch der Nonnentracht bedeckte fast zur Hälfte das Gesicht, aber was frei blieb, zeigte sich in um so wunderbarerer Schönheit und Anmuth. Auch die Frische und Feinheit der durchsichtigen Haut hatte die Luft der Klostermauern ihr nicht rauben können. Einen neuen Zauber hatte sie dagegen zwischen diesen Mauern gewonnen: den des zufriedenen Glücks, des inneren Friedens der Seele. Sie trat zu mir an das Gitter. Sie hielt den Zettel des Pater Canisius in der Hand.

„Ein edler Mann sendet Sie zu mir,“ sagte sie. „Ich verdanke ihm Alles, was ich bin – in diesem Augenblicke das Glück, dem Retter meines Lebens und meiner Seele meinen Dank aussprechen zu können. Ich habe mich lange danach gesehnt, mein Herr.“

„Der Pater Canisius,“ erwiderte ich ihr, „hat mir gesagt, daß Sie glücklich seien –“

„Ich bin es, mein Herr.“

„Und daß Sie hier das Glück gefunden haben.“

„In diesen Mauern, in meinem heiligen Berufe hier,“ setzte sie hinzu. Dann fuhr sie fort: „Der Pater Canisius hat mir auch von Ihnen gesagt, mein Herr, daß das wahre Glück in Ihrem Innern sich noch nicht befestigen wolle, und er hat mir aufgetragen, Ihnen meine Geschichte zu erzählen; es werde Sie stärken. Darf ich in wenigem Zügen Ihnen meine Schicksale mittheilen?“

„Ich bitte Sie darum.“

Sie erzählte mir: „Ich genoß eine ausgezeichnete Erziehung; sie war zumeist auf die Ausbildung meines Innern gerichtet, und dies, weil ich, für das Kloster bestimmt, in der Einsamkeit der Klostermauern das Glück und den Frieden meines Herzens in der Ausbildung meines Geistes solle suchen können. Warum man mich für das Kloster bestimmt hatte, ich habe es nicht erfahren. Ich fragte nicht danach; der Gedanke daran machte mich nicht unglücklich. Als ich fünfzehn Jahre alt war, wurde ich dem Kloster übergeben, diesem nämlichen Kloster, in dem Sie mich hier sehen. Ich wurde Novize. Die würdige Mutter, die Schwestern, Alle kamen mir mit Liebe entgegen. Ich wurde sogar vor Anderen ausgezeichnet; es entging mir nicht. Ich verdanke es dem Pater Canisius, wurde mir gesagt, unter dessen besonderem Schutze ich stehe, der mich dem Kloster empfohlen habe. Nach zwei Jahren wurde ich als Schwester eingesegnet. Ich blieb zufrieden. Da sah ich eines Tages – ich hatte acht Tage, gerade acht Tage vorher das Gelübde abgelegt – in der Kirche während der Frühmette einen Fremden, und es war um meine Ruhe und mein Glück geschehen. Dem Chore der Nonnen gegenüber war in der Höhe eine Tribüne, mit einem dichten, hölzernen Gitter versehen. Hinter dem Gitter wohnten an Sonntagen die Dienerinnen des Klosters dem Gottesdienste bei. Dort hinten sah ich an jenem frühen Morgen plötzlich

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