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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

„Keine Silbe mehr, oder – ich laufe zum Hause hinaus,“ ruft im höchsten Zorn der aufgebrachte Mann und achtet es selbst nicht, als seine Gattin laut schluchzend das Zimmer verläßt. Es ist, als ob sich der Groll der verflossenen zehn Jahre in ihm auf einmal Luft machen wollte. Erst nach geraumer Zeit findet er seine Ruhe und Fassung wieder und nimmt seinen gewohnten Platz am Kamine ein.

Die bekümmerte Gattin aber ist hinübergegangen in das Prunkzimmer und läßt dort ihren Thränen freien Lauf. Wie wenig entsprach der Erfolg der geringen Freude, die sie vom heutigen Abend gehofft hatte! Mit tiefbekümmertem Herzen nahm sie die für ihren Gatten so liebevoll gewählten Geschenke wieder von dem Tische und verbarg sie in dem untersten Winkel eines Schrankes, damit die zufällige, spätere Entdeckung der schönen Sachen durch ihren Gatten die Heftigkeit desselben nicht noch einmal wach rufe.

Während dieser traurigen Beschäftigung hat, unbemerkt von ihr und von dem mühsam beruhigten Manne, ein Wagen unten vor dem Hause gehalten, Thüren sind leise geöffnet worden, und bald darauf tritt Martin, der alte Diener, vorsichtig, aber mit freudig überraschten Blicken in das Prunkzimmer, wo die Matrone noch am Weihnachtstische beschäftigt ist. Es wären Fremde da, meldet mit leiser Stimme Martin und bittet die Herrin, sich nur auf wenige Augenblicke in das untere Stockwerk hinab zu bemühen. Verwundert folgt die Frau dieser Aufforderung, und nicht lange währt es, so hört man von unten herauf einen mühsam unterdrückten Ruf der Freude, dem ein langes, verhaltenes Schluchzen mehrerer Stimmen folgt.

Der alte Herr hat nichts von dem bemerkt, seine trüben Gedanken machen ihn unempfindlich für die Einwirkungen der Außenwelt, und dennoch scheint es zuweilen, als hätte er alle Kraft nöthig, um eine aufkeimende Rührung seinem Zorne unterzuordnen.

Eine halbe Stunde mag vergangen sein, da wird plötzlich leise die Thür seines Zimmers geöffnet und zwei liebliche Kinder, ein Knabe von neun Jahren und ein etwa siebenjähriges Mädchen, treten ebenso leise ein. Der alte Herr gewahrt sie anfangs gar nicht und fährt erschrocken zusammen, als sich der Knabe durch ein freundliches „guten Abend“ bemerkbar macht.

„Was wollt Ihr hier?!“ fährt der Ueberraschte auf.

Die Kinder erschrecken über diese barsche Frage und zumal das Mädchen will sogleich die Flucht ergreifen, allein der Knabe, dessen ganzes Wesen schon große Entschlossenheit zeigt, faßt seine Schwester beim Arm und hindert sie, davon zu laufen.

„Schämst Du Dich nicht?“ flüstert er ihr zu, „Mama hat Dir doch gesagt, daß Großpapa ein ganz guter Mann wäre. Habe nur keine Furcht und stocke nicht in Deinem Verschen.“

„Wer hat Euch hier eingelassen?“ fragt der alte Herr noch einmal ziemlich heftig. Anstatt aller Antwort schiebt der Knabe seine Schwester, die ein Blatt Papier in der Hand hält, jetzt noch weiter vor, und das kleine, liebe Mädchen spricht mit vor Angst zitternder, aber so recht zum Herzen dringender Stimme:

Vergieb, daß einst die Tochter Dir
So schweren Kummer zugefügt;
Ihr Kind ist’s, das zu Füßen hier,
Verzeihung flehend, vor Dir liegt.

Bei den letzten Worten knieet die Kleine nieder und will dem finstern Manne das Blatt überreichen. Auch der Knabe knieet jetzt neben der Schwester hin und hält ebenfalls ein Blatt empor.

„Was soll mir diese Komödie?“ ruft aufspringend und zornig der alte Herr. „Ich kenne Euch nicht und mag Euch nicht kennen; wehe Demjenigen, der Euch hier eingelassen hat!“

Das Mädchen bricht bei diesen harten Worten in Thränen aus, der Knabe aber verliert nicht so rasch seine Fassung. Mit einem Sprunge steht er wieder aufrecht da.

„Wie? Du willst uns nicht kennen und doch bist Du unser Großpapa,“ spricht unerschrocken der Knabe. „Ich heiße Ferdinand Bernhard; die Mutter sagte mir immer, Du hießest auch Ferdinand und Dir zu Liebe wäre ich so genannt. Das hier ist meine Schwester, Marie Bernhard. Wir sind aus Amerika herübergekommen, weil die Mutter so große Sehnsucht nach Dir hat. Der kleine Vers, den Marie Dir gesagt, steht dort auf dem Blatt; Mama hat ihn gedichtet und meine Schwester hat ihn selbst geschrieben. Und hier auf meinem Blatte habe ich das Haus gezeichnet, worin wir in Amerika wohnten. Diese beiden Blätter sollen das Weihnachtsgeschenk sein, das wir Dir bringen. Da nimm, Großpapa!“

Dieser aber hat sich während der Erzählung des Knaben abgewandt. Kalt und unwillig kehrt er den beiden Kindern den Rücken zu. Nur einmal war es, als wolle ihn die Rührung übermannen und versöhnlichere Gedanken bei ihm einkehren; doch plötzlich fuhr er rasch mit der Hand über die Augen, stampfte heftig mit dem Fuße und rief, ohne sich umzusehen, den kleinen Geschwistern zu: „Fort von hier, ich will Euch nicht länger hören. Sagt nur Euerer Mutter, daß ich sie längst aus meinem Herzen und aus meinem Gedächtnisse verbannt habe. Jetzt, wo wahrscheinlich die verdiente Noth sie drückt, denkt sie wieder einmal an den reichen Vater. Das hätte Euere Mutter aber schon heut vor zehn Jahren thun sollen. Geht nur hin, sagt ihr das und – bettelt dann vor anderen Thüren!“

„Betteln? Wir brauchen nicht zu betteln,“ entgegnete stolz der kleine Ferdinand. „Wir haben in Amerika so schöne Zimmer gehabt, als dieses hier ist, und Papa hat selbst oft gesagt, daß er weit mehr Geld verdiene, als er brauche. Mama hat aber so lange geweint und gebeten, bis Papa sagte: ,Gut, wir wollen die Reise machen, Gott gebe ihr nur Erfolg!’ Und dann erst ist Mama wieder froh geworden und hat uns von Dir erzählt, daß Du ein guter lieber Mann wärest; aber Mama hat uns belogen; Du bist kein guter Mann!“

Dann ergreift der Knabe seine noch immer auf den Knieen liegende und heftig weinende Schwester und zieht sie sanft in die Höhe. „Komm, Marie,“ tröstet er sie, „weine nicht mehr. Mama hat uns ja gesagt, daß wir nach Amerika zurückfahren würden, wenn Großpapa noch immer böse sei. Komm, Schwester, Großpapa will uns ja nicht einmal ansehen; wir reisen wieder nach Amerika!“

Bei diesen Worten hat der kleine Ferdinand die weinende Schwester bis zur Thüre gezogen. Der Großvater ist aber in seinen Stuhl zurückgesunken und bedeckt im heftigen Gemüthskampfe sein Gesicht mit beiden Händen. Und schon sind die beiden Kinder an der Thür angekommen und die ängstliche Schwester greift nach der Thürklinke, da dreht sich der Junge noch einmal um nach dem Großvater. Er sieht den alten Mann, wie er in sich geknickt dasitzt, das Gesicht mit beiden Händen bedeckt – still weinend. Mit einem Sprunge ist er zurück und reißt die beiden Hände des Alten herunter. „Großvater!“ ruft er und hält die Hände des Greises gefaßt, „lieber, guter Großvater…“

Da endlich löst sich die eisige Rinde vom Herzen des strengen alten Vaters, stärker rollen die Thränen und vor Schluchzen bringt er kaum die Worte hervor: „Bleibt bei mir, Kinder! bleibt bei mir!“

Kaum aber ertönt diese Botschaft des Friedens, so öffnet sich die Thür, und die alte Mutter und Gertrud mit ihrem Gatten an der Hand treten herein und werfen sich um Verzeihung flehend zu den Füßen des Vaters nieder. Worte vermag der alte Herr nicht hervorzubringen, die Thränen hindern ihn daran, aber segnend legt er die Hände auf die Häupter der vor ihm Knieenden – der Vaterfluch ist vergessen, alles Unrecht verziehen.

Endlich nimmt die Matrone ihren Gatten bei der Hand. „Darf ich nun die Christbescheerung eröffnen?“ fragt sie schmeichelnd den Gatten.

„In Gottes Namen!“ antwortet dieser, unter Thränen lächelnd, indem er Kinder und Enkel freudig umfaßt.

Die Thüren des Prunkzimmers fliegen auf, und jetzt strömt von dort her auch der altgewohnte Lichterglanz. Neben den wieder ausgebreiteten Geschenken für den Großvater und dicht vor dem Lichterbaum sitzt aber auf dem Tische noch ein kleiner, prächtiger Knabe von vier Jahren, der aus voller Kehle ununterbrochen ruft: „Vivat Großvater und vivat Großmutter! Juchhe! Nun gehen wir nicht wieder nach Amerika!“

A. B. 
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 815. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_815.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)