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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

mit den andern Ausgeschlossener da. Mißtrauen, Beschimpfung folgten mir, wo ich ging und stand. Die einzige Erholung, die es für mich gab, nach ermüdender Arbeit an schönen Sommerabenden mich in freier, frischer Luft vor den Thoren zu ergehen, brachte mich in neue Conflicte mit der Polizei, da ich bei gelegentlichen Visitationen ein paar Mal nicht schlag neun Uhr zu Hause angetroffen wurde. Hierdurch verlor ich zwei Mal die besten Dienste; andere zu suchen und zu finden, wurde mir mehr und mehr Lust und Möglichkeit genommen. Ja, meine Herren Geschworenen,“ so schloß A., „die trostlose Lage des Bestraften nach seiner Entlassung aus dem Gefängnisse, das Auge der Polizei, das ihm auf Schritt und Tritt folgt, ihre Organe, die den Makel, der ihm anhaftet, bei den verschiedensten Gelegenheiten offenkundig machen, sie schneiden ihm die Möglichkeit ehrlichen Erwerbes ab, benehmen ihm Muth und Kraft, die guten Vorsätze auszuführen, und treiben ihn endlich der Verzweiflung und so auf’s Neue dem Verbrechen in die Arme. Das ist mein Schicksal gewesen, wie es das Schicksal so Vieler vor mir war. Nehmen Sie, meine Herren Geschworenen, mit Rücksicht auf so trostlose Zustände, für mich, einen Unglücklichen, der die ganze Schwere seiner Verbrechen reuig erkennt, mildernde Umstände an.“

Wenn ich erwähne, daß der Vorsitzende des Gerichtshofes in seinem Resumé den mächtigen Eindruck betonte, den des A. Rede gemacht, die ich natürlich hier nur in kurzen allgemeinen Zügen wieder gab; wenn er dessen ganzes Benehmen und Auftreten als ein ungewöhnliches, auf der Anklagebank dieses Saales wohl kaum vorgekommenes bezeichnete und es natürlich fand, wenn die Geschworenen dadurch für ihn eingenommen wären, so wird man es begreiflich finden, daß es uns allen sehr schwer wurde, unbedingt das „Schuldig“ zu sprechen. Wir konnten nach Lage der Sache nicht anders, aber ich bedauerte von Herzen den Armen, der bei besserer Einsicht, bei gutem Willen durch die Macht der Verhältnisse, nicht durch Lust am Bösen, auf’s Neue zum Verbrecher geworden und nun einer zwölfjährigen Zuchthausstrafe entgegenging. Es sollte diese Stimmung indeß nicht lange anhalten: nur zu bald sollte ich erfahren, daß A. uns eine wohl überlegte Komödie vorgespielt hatte, daß wir mit unsern Bedenken und Gewissensscrupeln die Betrogenen eines Gauners gewesen waren, der vielleicht unter den acht Angeklagten der geriebenste. Als die Drei, A., B., C., in das sichere Arrestzimmer abgeführt waren, konnte ich mir einen Blick durch das Loch in der Thür desselben nicht versagen. Da sah ich sie denn in tollster Aussgelassenheit singen, springen, sich umarmend, lachend über den Gang der Verhandlungen und auch der Geschworenen Gutmüthigkeit nicht schonend. Bald, so hofften alle Drei, würde ihnen der Ausbruch gelingen und nur das bedauerten sie, daß sie nicht in dieselbe Anstalt gebracht werden würden. Dagegen rechneten sie fest darauf, sich nach gelungener Flucht bald wieder zu gemeinsamer Thätigkeit zusammenzufinden. Mich meiner Leichtgläubigkeit schämend ging ich von dannen.

Eine Scene von drastischer Wirkung brachte uns die Verhandlung einer jener betrüglichen Wechselreitereien, wie sie gegenwärtig so häufig Gegenstand gerichtlicher Untersuchung werden. Der Angeklagte war in diesem Falle ein sogenannter Winkel-Advocat und hatte in den verschiedensten unsauberen Geschäften die – um das Wort zu mißbrauchen – juristische Vermittelung übernommen. Es handelte sich nun um die Frage, in wie weit er hierbei auch seinen eigenen Vortheil wahrgenommen und somit die Früchte der Betrügerei mit den Uebrigen getheilt habe. Uebrigens ist es, um das nebenher zu erwähnen, unglaublich, wie viele solcher Pseudo-Advocaten, meistens ehemalige Schreiber bei Rechtsanwalten, in großen Städten sich umhertreiben und – Beschäftigung, oft in großartigsten, und lohnendstem Maße, finden. Unser Mann bot in seinem ganzen Erscheinen, der gekiffenen Physiognomie, den versteckt liegenden Augen, dem magern, schmiegsamen Körper mit langgestreckten Armen, die in schmale, wie abgeschriebene Finger ausliefen, an denen man nur den bekannten Federeindruck des mittleren wegen der Ruhe in der Haft vermißte, ein höchst charakteristisches Bild des Genus Schreiber und hätte sich sofort für die Illustration eines Boz’schen Romanes verwenden lassen. Der Proceß bot an sich nicht viel Bemerkenswerthes und gewann erst Leben, als der Vertheidiger des Winkelschreibers in folgender Art das Wort ergriff: „Ich bitte Sie, meine Herren Geschworenen, werfen Sie vor allen Dingen einen Blick auf meinen Clienten. Ist Ihnen je eine dümmere, nichtssagendere Physiognomie vorgekommen, als diese? Halten Sie es für möglich, daß sich an einen Menschen von so augenfälliger Einfalt, wenn es sich um die Ausführung irgend verwickelter, mißlicher, zweideutiger Geschäfte handelt, wirklich jemand um Hülfe wendet, und glauben Sie, daß er der Mann wäre, dieselben mit auch nur einigem Geschick zu führen? Ich gestehe Ihnen offen, ich kann nicht begreifen, daß er, wie doch aus den Acten hervorgebt, auch nur gewöhnliche Schreiberdienste bei einem Advocaten ordentlich verrichten konnte.“ – Daß meine Augen während der für den Angeklagten wenig schmeichelhaften Einleitung auf ihm ruhten, versteht sich von selbst, und da entging es mir denn nicht, wie er sich unter dieser Schilderung seines Ich’s, die so weit abwich von seinen eigenen Vorstellungen, von der eigenen Werthschätzung, förmlich wand und krümmte vor innerlichem Verdruß; wie er am liebsten laut Protest erboben hätte und doch wieder dankbar schweigen mußte im Hinblick auf den vielleicht guten Eindruck der Rede und die dann erfolgende Freisprechung. Später hörte ich, daß der gute Winkeladvocat – der übrigens, nach kurzer Zeit einer gleichen Schuld angeklagt, seinem Schicksal nicht entging – dem Defensor bittere Vorwürfe ob der Rede gemacht habe, die seinen geschäftlichen Ruf und somit seinen Erwerb arg hätte erschüttern können.

Von den übrigen Fällen, die während dieser Schwurgerichtsperiode zur Verhandlung und Aburtheilung kamen, erregte nur noch ein Meineidsproceß, an sich traurig genug, durch ein komisches Intermezzo Interesse, das nach dem gefällten Spruche den Zuhörerraum in ziemlich laute Heiterkeit versetzte. Die eigentliche Urheberin des Meineids, eine äußerst verschmitzte Berlinerin in höheren Jahren, die ihr unerfahrenes junges Dienstmädchen vom Lande zu dem genannten Verbrechen zu veranlassen gewußt hatte, war, der juristischen Auffassung nach, als „nicht schuldig“ erklärt, das arme Dienstmädchen dagegen verurtheilt worden; da wurde im Auditorium eine tiefe Stimme laut: „Herr Jott, wieder nich in’s Loch, und ich dachte’s doch diesmal ganz sicher!“ Es war die des zärtlichen Ehemanns, der fest darauf gerechnet hatte, auf zwei Jahre seine böse Sieben los zu sein.




Der einäugige Erzengel der Cultur.
Deutsches Industriebild.

„Es ist schwerer, daß ein Kameel durch ein Nadelöhr gehe, als daß ein Reicher in’s Himmelreich komme,“ heißt es schon in der Bibel, im neuen Testamente. Demnach hat es schon vor zwei Jahrtausenden Nadeln gegeben. Da aber schon Adam und Eva, nachdem sie in den verbotenen Apfel gebissen, es etwas kühl im Paradiese fanden und das Eva-Costüm zu leicht, so daß sie sich Kleider machten, sind wahrscheinlich auch schon die ersten Menschen die ersten Nadler geworden. Ich vermuthe, daß Eva, welcher jedenfalls die meiste Arbeit bei Anschaffung der ersten Kleider zufiel, auch die ersten Nadeln erfand. Ihre Nadel mag freilich weder eine englische, noch eine Aachener gewesen sein. In der That ist die Nähnadel, obgleich unstreitig eines der ersten und unentbehrlichsten Werkzeuge in Menschenhand, dennoch als vollkommener Fabrikationsartikel einer der neuesten. Bis vor etwa fünfzig Jahren wurden die Nähnadeln mühselig und theuer und verhältnißmäßig unvollkommen vom Handwerker, vom zunftmäßigen Nadler, gemacht. Erst seit jener Zeit bemächtigte sich allmählich das zauberhafte Rad der Maschine und die allmächtige Triebkraft des Dampfes dieses kleinen, glatten, spitzigen, einäugigen Erzengels aller Cultur.

Die Fortschrittsbahnen der Menschheit sind spärlich mit Rosen, sehr zahlreich mit zerbrochenen und zerschossenen Waffen und Menschengliedern, am dichtesten aber mit zerbrochenen Näh- und verbogenen oder kopflosen Stecknadeln bestreut. Je mehr von letzteren Helden fallen, desto steigender und rascher die Civilisation. Sie fallen meist blos als Opfer ihrer Dienste, obgleich auch viele von Busen und Aermeln der manchmal dicht damit besteckten

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 42. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_042.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)