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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

haben und sich zur Ruhe setzen wollen, gegen runde Summen in klingender Münze verkauft.

Die patentirten Bettler kennen sich natürlich alle sehr genau, schließen untereinander Offensiv- und Defensiv-Bündnisse und stiften Vereine, welche die Ausbeutung mitleidiger Seelen auf Commandite betreiben. Auch verheirathen sie sich untereinander, und es dürfte sich vielleicht der Mühe lohnen, die verschiedenen Heirathscontracte näher zu untersuchen, die diesen sonderbaren Ehebündnissen in der Regel zu Grunde liegen. Die Heirathsansprüche eines patentirten Bettlers müssen sich nach seiner größeren oder geringeren körperlichen Verunstaltung richten; je entstellter und verstümmelter er ist, desto bereitwilliger und freundlicher werden ihm seine Genossinnen entgegenkommen. Hat er einen Buckel, so verleiht ihm diese holde Unzierde schon gewisse Rechte; ist er dazu vielleicht auch noch lahm, so wachsen seine Ansprüche bedeutend; ist er aber etwa gar noch einäugig oder ganz blind, dann hat sein Glück keine Grenzen mehr und die glänzendsten Heirathen werden ihm von allen Seiten angetragen werden, denn nur eine Bettlerin, die ebenfalls mindestens bucklig, lahm und blind ist, oder eine, die sich bereits ein anständiges Sümmchen erbettelt hat und deren Säckel gehörig gespickt ist, wird es wagen, ihre Hand in die seinige zu legen und, auf seinen Bettelstab gestützt, an seiner Seite weiter zu betteln.

Ich trat mit meinem Begleiter in die Kirche. Hier fanden wir bereits eine ziemlich zahlreiche Versammlung, in der ich auch sofort verschiedene bekannte Gesichter entdeckte, deren abstoßender und widerlicher Anblick mich schon öfters zur Verzwiflung gebracht hatte, und ich muß gestehen, daß ich am liebsten mich sofort wieder empfohlen hätte; aber ich überwand diese Schwäche, meine Neugierde gewann wieder die Oberhand, besonders da mein Begleiter mir zuflüsterte: „Ich will Ihnen vor allen Dingen die Braut vorstellen!“ Ich ließ mich also in Gottes Namen zur Braut führen und fand ein kleines, buckliges, schrecklich blatternarbiges Weibchen, das halb blind war und sich zur Noth auch ganz blind stellen konnte; Monsieur Aristide nannte ihr meinen Namen und fügte hinzu, daß ich mich für die schätzbare Zunft, deren schönste Zierde sie sei, sehr lebhaft interessire. Auf diese Versicherung hin geruhte sie mir sehr freundlich zuzulächeln, das heißt, sie schnitt ein Gesicht, das ein Faun beneidet haben würde, und machte mir eine sehr zierliche Verbeugung, die ich nach besten Kräften erwiderte. „Nun zum Bräutigam!“ raunte mir mein treuer Begleiter zu. Der Bräutigam saß mit übereinander gekreuzten Beinen, nach türkischer Manier, in einer Art von Rollsessel, in dem er fast ganz und gar verschwand; nachdem ich ihm vorgestellt war, erhob er sich halb und grüßte mich sehr höflich; nun erst bemerkte ich, daß er ein ganz verwachsener und auf die unglaublichste Weise verkrüppelter Zwerg war. Der Anblick dieses sonderbaren Brautpaares brachte mich auf die sehr nahe liegende Vermuthung, daß es sich hier doch wohl nur um eine Convenienzheirath handeln könne; mein trefflicher Freund bestärkte mich denn auch sofort in dieser Voraussetzung, indem er mir mittheilte, daß Braut und Bräutigam Sprößlinge der beiden berühmtesten Bettler-Dynastieen von Paris seien, die in auf- und absteigender Linie fortwährend die besten Bettelstellen der Hauptstadt inne gehabt hätten.

Zur Feier dieser bedeutungsvollen und wichtigen politischen Heirath war der gesammte Heerbann der Bettler-Aristokratie aufgeboten und versammelt worden: Lahme, Blinde, Bucklige – es war eine förmliche Musterkarte aller menschlichen Gebrechen. Die Trauung ging mit großem Anstande und vieler Würde vor sich; da aber, wie es scheint, die Herren Bettler auch unter sich von ihrem Handwerke nicht lassen können, so wurde noch während der gottesdienstlichen Handlung eine kleine Bettelei organisirt. Ein junger Bursche, berühmter Gesichterschneider seines Metiers, welcher auf den öffentlichen Plätzen bereits viel Anerkennung genoß, ging mit einem Teller herum, um, wie er laut rief, eine Collecte für die „Armen“ zu machen. Die Bettler, ziemlich erstaunt sich ihrerseits auch einmal angebettelt zu sehen, erwiesen sich jedoch sehr großmüthig und die Speculation des Gesichterschneiders gelang vollkommen.

Nachdem die Trauung vollzogen war, bestieg die ganze Hochzeitsgesellschaft sehr elegante Miethwagen, die in großer Anzahl vor der Kirche bereit standen, und man begab sich nach den Höhen des Montmartre, wo in einem gut renommirten Restaurant dieses Stadttheiles, dem sogenannten Elysée-Montmartre, ein stattliches Hochzeitsmahl hergerichtet war. Sofort wurde denn auch Platz genommen und während der ersten Gänge verhielt sich die Gesellschaft ziemlich ruhig und anständig; es wurde sehr wenig gesprochen, dagegen desto mehr gegessen, und ich hatte Gelegenheit zu bemerken, daß alle diese Herrschaften, wenig vertaut mit den Gebräuchen unserer modernen Civilisation, für Messer und Gabeln eine ganz entschiedene Verachtung an den Tag legten und sich, nach orientalischer Sitte, ihrer Finger häufiger bedienten, als dies nach unseren Anschauungen und Begriffen angemessen erscheint.

Sehr bald aber artete das Hochzeitsmahl in ein wüstes Gelage aus. Man schrie und tobte, schlug mit den Messern auf den Tisch, zertrümmerte Gläser, vergoß Saucen, brüllte nach frischem Wein, erzählte obscöne Geschichten. Endlich wurden die Kehlen gestimmt und es erschallten in möglichst falschen Tonarten möglichst unanständige Lieder; zum Schluß, nachdem der Nachtisch aufgetragen war, sprang der Gesichterschneider, den die glücklicke Collecte, die er in der Kirche unternommen, in die beste Laune versetzt hatte, auf eine Bank und kündigte eine Gratisvorstellung an. Dieses Anerbieten wurde von sämmtlichen Anwesenden mit Jubel aufgenommen und der Grimassier gab seine Fratzen zum Besten. Hierauf begann der Ball. Das Orchester war eigenthümlich zusammengestellt: ein blinder Leierkastenmann, eine lahme Flöte und ein verkrüppelter Geiger hatten sich erboten, ihren Genossen zum Tanze aufzuspielen. Welch eine Musik! Welche Tänzer! Die Buckligen, die Krüppel, sogar die Lahmen holten sich ihre Tänzerinnen und sprangen wie die Tollen im Saale herum. Das Toben, Schreien, Drängen, Stoßen wurde immer wilder. Es war, als ob alle diese Leute von der Tarantel gestochen worden wären; man sah nur noch verzerrte, grimassirende Gestalten, Arme, die in den Lüften fochten, und Beine, die sich in den verwegensten, unglaublichsten Entre-Chats versuchten. Ich hatte genug und flüchtete mich, so schnell ich konnte, aus diesem wirren, chaotischen Durcheinander, das immer bedenklichere Dimensionen anzunehmen schien. Monsieur Aristide, der treulich an meiner Seite geblieben war, zog sich enenfalls mit mir zurück.

Als ich am nächstfolgenden Tage in den Nachmittagsstunden zufällig an der Kirche von St. Sulpice vorüberging, gewahrte ich das junge Ehepaar auf dem gewohnten Bettelplatze sitzend und eifrig beschäftigt, mit anerkennenswerther Philosophie und sichtbar gutem Appetit die erste gemeinschaftliche Bettelsuppe zu verzehren.




Beitrag zu Schillers Charakteristik. In der dreiundvierzigsten Nummer des verflossenen Jahrgangs der Gartenlaube befindet sich eine Notiz mit obiger Ueberschrift, die eine irrige Ansicht von dem Charakter unseres edelsten Dichters enthält. Ich schmeichle mir daher mit der Hoffnung, daß mir eine, wenn auch etwas späte, Berichtigung gestattet werde. Wo es sich um die Ehrenrettung auch eines ganz gewöhnlichen Menschen handelt, darf eine Berichtigung nie als zu spät oder veraltet betrachtet werden. Um wie viel mehr ist dies aber der Fall, wenn ein Schatten auf die Lichtgestalt eines der edelsten geistigen Vertreter einer großen Nation geworfen wird.

In der betreffenden Notitz heißt es, daß Schiller in den „Räubern“ aus persönlichem Groll gegen zwei Schweizer Junker den Canton Graubünden als „das Athen der Räuber und Diebe“ bezeichnet und daß er sogar den Namen des einen der beiden unliebsamen Junker, die seine Mitschüler Waren – des Herrn von Pestalozzi nämlich – aus gleichem Grunde in eine Mordscene in „Wallenstein’s Tod“ verflochten habe.

Der Schreiber jener Notiz meint in Bezug auf Graubünden, „gerade jene Gegenden hätten sich von jeher der tiefsten Sicherheit und Ruhe erfreut“. Nun, so ganz richtig ist diese Behauptung eben nicht. Man denke nur an die grausamen und räuberischen Vorfälle, die der religiöse Fanatismus zur Zeit des dreißigjährigen Krieges in der unmittelbaren Nachbarschaft von Graubünden hervorgerufen.

Die zweite Beschuldigung sind wir im Stande noch bestimmter zu widerlegen. Der Schreiber der erwähnten Notiz führt nämlich an, Schiller habe, um sich an Herrn von Pestalozzi zu rächen, dem schottischen Mörder Buttler in dem zweiten Auftritt des fünften Actes von „Wallenstein’s Tod“ folgende Worte in den Mund gelegt:

„Nun denn, so geht und schickt mir Pestalutzen,
Wenn ihr’s verschmäht, es finden sich genug.“

und abermals weiter unten, wo von Terzky’s und Illo’s Ermordung die Rede ist:

– – – – – – „Dort wird man sie
Bei Tafel überfallen, niederstoßen;
Der Pestalutz, der Lesly sind dabei.“

Der Verfasser sagt: „Pestalutz, wie der Name von Schiller’s Quälgeist in der schweizerischen Depravation lautet, ist auch hier gewiß nicht ohne Absicht gesetzt“ u. s. w. Hierin hat man wohl Recht, aber die Absicht ist eine wohlbegründete, historische, wie überhaupt viel mehr historisches Detail in Schillers Wallenstein enthalten ist, als die Welt noch zu ahnen scheint. Pestalutz ist nämlich kein aus Neckerei boshaft eingeschalteter Name, sondern ein wirklicher, dessen Träger in der blutigen Katastrophe von Eger ebenfalls eine Rolle spielte. Es gab im Terzky’schen Regiment einen Hauptmann Pestalutz, der sammt andern Officieren von Buttler in die Verschwörung gegen Wallenstein gezogen wurde. Als Beleg für unsere Angabe verweisen wir – anstatt auf die ursprünglichen nicht leicht zugänglichen Quellen – auf eine Stelle in einem neuern Werke, in Försters „Wallenstein’s Proceß“,[1] wo Seite 158 der Hauptmann Pestalutz unter den Mitverschworenen angeführt ist.

Der Dichter hatte die anderen höheren Officiere, die in die Verschwörung verflochten waren, in seinem dramatischen Meisterwerke entweder persönlich vorgeführt, oder doch erwähnt, mit Ausnahme der englischen Officiere Birch und Brown, deren Namen zu unpoetisch geklungen haben würden. Pestalutz aber klingt nicht so prosaisch und paßte wohl in’s Metrum; es war daher natürlich, daß der Dichter diesen Namen von Buttler gebrauchen ließ, um den unentschlossenen Mördern mit seiner Concurrenz zu drohen.

Schließlich sei mir noch die Bemerkung gestattet, daß, wenn ich diesen Gegenstand ausführlicher besprochen habe, als Manchem gerate nöthig scheinen dürfte, dies vorzüglich geschah, um die Berichtigung so nachdrücklich wie möglich zu machen. Wenn ich bedenke, wie enorm groß die Anzahl der Leser ist, durch deren Hände die „Gartenlaube“ geht, so scheint mir die Befürchtung nicht ungegründet, daß wir in irgend einer nächstens erscheinenden deutschen Literaturgeschichte die angeführten Punkte als Beweise für Schiller’s Unversöhnlichkeit und rachsüchtiges Temperament finden dürften. Die Herren Doctoren Janssen und Klopp, die leider bereits so viel dazu beigetragen haben, den Namen unseres Schiller auch im Auslande zu verunglimpfen, wären wohl nicht die Letzten, von einer solchen Anklage Gebrauch zu machen. Der Schreiber der Notiz scheint freilich den gehässigen Charakterzug beschönigen zu wollen, Andere, wir möchten fast sagen deutschfeindliche Deutsche, würden aber der Sache eine ganz andere Färbung geben.

London, Januar 1865.

Prof. Dr. Buchheim.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 128. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_128.jpg&oldid=- (Version vom 11.3.2022)
  1. Leipzig, 1844.