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wußte“. Im Mai von 1799 sodann schrieb die Gräfin d’Adhémar, gewesene Palastdame der Königin Marie Antoinette, in das Buch ihrer „Souvenirs“, indem sie auf den Dauphin zu reden kam: „Unglückliches Kind, dessen Regierung in einem Kerker begonnen und beschlossen wurde, das aber doch nicht in diesem Kerker den Tod gefunden hat! Gewiß, ich meinerseits will in keiner Weise die Anhaltspunkte vermehren, welche Betrügern sich darbieten könnten; aber, indem ich dieses niederschreibe, bezeuge ich bei meiner Seele und bei meinem Gewissen: ich weiß bestimmt, daß Se. Majestät Ludwig der Siebzehnte nicht im Tempelkerker gestorben ist. Sagen zu können, wohin der Prinz gekommen und was aus ihm geworden, behaupte ich nicht; ich weiß es nicht. Nur Cambacérès, der Mann der Revolution, wäre im Stande, meine Angabe zu vervollständigen; denn er weiß hierüber viel mehr als ich…“ Da hätten wir ein recht förmliches und feierliches Zeugniß. Schade nur, daß dasselbe anfechtbar. Die „Erinnerungen“ der Gräfin d’Adhémar rühren nämlich großen Theils nicht von ihr selbst, sondern von dem Baron Lamothe-Langon her, auf welchem der wohlbegründete Verdacht ruht, Wahrheit und Dichtung häufig so vermischt zu haben, daß man Mühe hat, zu unterscheiden, wo jene aufhört und diese anfängt. Jedoch ist gerade in Betreff der angeführten Stelle wohl zu beachten, daß Lamothe-Langon einer der vertrautesten Hausfreunde von Cambacérès gewesen ist und demnach allerdings von der allfälligen Betheiligung des Letzteren an der Entführung des Dauphin, wenn nicht Alles, so doch Etwas wissen konnte. Die Vermuthung, daß Cambacérès wirklich bei der Sache betheiligt gewesen, gewinnt einigermaßen an Bestand dadurch, daß die Bourbons nach ihrer ersten Rückkehr (1814) und sogar nach ihrer zweiten (1815) dem Mann eine ganz merkwürdige, geradezu auffallende Schonung angedeihen ließen, dagegen mit ebenso auffallender Hast sofort nach seinem Tode seine Papiere versiegeln und mit Beschlag belegen ließen. Hatte man aus dem Munde des lebenden oder aus den Papieren des todten Cambacérès eine Enthüllung des Tempelgeheimnisses zu befürchten? Denn wir müssen uns stets gegenwärtig halten, daß es für Ludwig den Achtzehnten, wie für Carl den Zehnten, und auch nachmals für den Julikönig Louis Philipp von höchstem Interesse war, das Räthsel des Tempels ungelöst zu lassen und jeden neuauftauchenden Zweifel an dem angeblich im Tempel erfolgten Tod des Dauphin sofort niederzudrücken.

(Schluß folgt.)




Bilder aus dem Thiergarten.
Von Brehm.
5. Der König des Alpenwildes.

„Soeben,“ schreibt mir ein als Naturforscher berühmter Freund, „erhielt ich wieder einige Hefte des ‚Thierlebens‘ und will Ihnen meinen Dank für das Buch auch dadurch beweisen, daß ich Sie auf einen entschiedenen Irrthum aufmerksam mache, auf welchen ich soeben beim Durchblättern der Hefte stoße. Sie sagen nämlich: Der Steinbock, dem Aussterben nahe, findet sich nur noch auf den Hochgebirgen um den Monte Rosa herum. Dies ist nun entschieden unwahr. Der Steinbock ist auf den Gebirgen um den Monte Rosa herum längst ausgerottet und zwar vollständig. Die letzte und einzige Zufluchtsstätte dieses edeln Wildes ist jetzt das den grajischen Alpen angehörige Gletschergebiet des Val Cogne in Piemont, eine Alpenwelt im höchsten Style, deren prachtvolle Hochgipfel ich noch ganz kürzlich, auf einer Reise durch’s Aostathal und noch weit herrlicher vom Gipfel des neuntausend Fuß hohen Cramont zu bewundern Gelegenheit hatte. Also nochmals gesagt: es sind allein und ausschließlich die grajischen Alpen, deren allererhabenste Gletschergebiete der Steinbock noch bewohnt. Ich habe im vergangenen Sommer den Monte Rosa von allen Seiten kennen gelernt, also nicht nur die Schweizer Seite, die Jedermann kennt, sondern auch die piemontesische, die entlegenen Thäler Val Anzasca, Val de Lys, Val Sesia, deren obere Enden von Gletschern des Monte Rosa ausgefüllt werden. Dort überall kennt man den Steinbock gar nicht, und auch die prachtvolle Gehörnsammlung des Baron Beck in Gressonay, St. Jean im Val de Lys, stammt von Steinböcken her, welche im Cognethal erlegt wurden.

So weit für dieses Mal. Ihr Buch ist zu gut, als daß grobe Fehler über europäische Thiere darin vorkommen dürfen.“

Also wiederum weiter zurückgedrängt, auf ein noch kleineres Gebiet beschränkt, der Vernichtung noch näher gebracht – so dachte ich, als ich diese Zeilen las. Die Stelle meines Buches, welche von meinem Freund berichtigt wurde, hatte ich aus Tschudi’s allbekanntem „Thierleben der Alpenwelt“ entnommen und zwar aus der vor zehn Jahren erschienenen zweiten Auflage. Ich durfte also mit Sicherheit annehmen, daß zu jener Zeit die Steinböcke noch um den Monte Rosa herum vorgekommen waren. Wenige Tage später sandte mir Tschudi die siebente Auflage seines Werkes, welche die Jahreszahl 1865 trägt. Ich war begierig, zu erfahren, ob der Schweizer Naturforscher von dem Verschwinden des Steinwildes am Monte Rosa Kunde erhalten habe, fand jedoch, daß das nicht der Fall war. „Es war um so erfreulicher,“ sagt Tschudi, „daß seit etlichen Jahren diese stolzen Thiere plötzlich ziemlich zahlreich am Monte Rosa erschienen, wo man zum letzten Male in den siebenziger Jahren des vorigen Jahrhunderts etwa vierzig Stück beisammen, dann aber mehr als fünfzig Jahre lang kein Exemplar mehr gesehen hatte. An den Aiguilles rouges und den Dents bouquetins in der Nähe der Dents blanches schoß man dann vor dreißig Jahren, wie man glaubte, die letzten Steinböcke, und als man einige Jahre später auf der Seite gegen Arolla sieben solcher Thiere durch eine Lauine verschüttet fand, hielt man sie für nun völlig ausgerottet. Wirklich bemerkte man auch zwölf Jahre lang keine weiteren Spuren. Heute sieht man, ohne Zweifel in Folge des in Piemont sechszehn Jahre lang streng eingehaltenen Jagdverbotes, im südlichen Monterosagebirge und in dessen Verzweigungen als Seltenheit wieder Familien von zehn bis achtzehn Stück beieinander, doch kaum auf Schweizergebiet.“ Tschudi’s Angabe stützt sich, wie er weiter unten sagt, auf ganz bestimmte Thatsachen. „Der Naturforscher Nager in Andermatt hat in den letzten Jahren an vierzig Steinböcke vom Monterosa erhalten,“ und Tschudi selbst wurden drei ausgezeichnet schöne Steinböcke, welche im November und December 1853 am Monte Rosa geschossen worden waren, zur Messung und Beschreibung zugesandt. Meines Freundes Behauptung also kann sich nur auf die allerletzte Zeit beziehen.

Ich beabsichtige nicht, eine ausführliche Beschreibung des Steinbocks und seines Freilebens zu geben, da ich annehme, daß Tschudi’s mustergültiges Werk dem größten Theile der Leser dieses Blattes bekannt sein dürfte oder bekannt sein sollte. Auch habe ich selbst den Gegenstand erst vor Kurzem des Breiteren behandelt. Es mag daher genügen, wenn ich hier hervorhebe, daß der sogenannte europäische Steinbock (Capra Ibex) ausschließlich noch in dem gedachten sehr beschränkten Alpengebiete vorkommt, daß er aber keineswegs allein der europäische Steinbock ist; denn auch die Pyrenäen und ihre Verzweigungen, die mittel- und südspanischen Gebirge, der Kaukasus, der Altai, die Insel Kreta und einige Cykladen beherbergen Steinböcke, über deren Artselbstständigkeit oder, was dasselbe sagen will, Verschiedenheit von dem Alpensteinbock kaum Zweifel herrschen können, obwohl einige Forscher solche hervorgerufen haben. Gewiß ist, daß alle bekannten Steinböcke sich ebenso sehr hinsichtlich ihrer Gestalt ähneln, wie bezüglich ihres Lebens und Wesens. Ich will hier nur im Auszuge die Beschreibung wiedergeben, welche der alte Geßner vor nunmehr fast dreihundert Jahren von dem theilnahmswerthen Thiere entworfen, und Dr. C. Forer in’s Deutsche übersetzt hat.

„Vnder die wilden Geissen wirdt auch der Steinbock gezelt, ein wunderbarlich geschwind thier: wonet in den höchsten plätze vn orte der Teütschen Alpen, felsen, schraafen, vnd wo es alles gefroren, yß vnd schnee ist; denn von seinen natur har erforderet er kelte, sunst wurde er erblinde …

,Die Jeger,’ spricht Johannes Stumpffius in seiner Chronica,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 219. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_219.jpg&oldid=- (Version vom 7.4.2022)