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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

der Republik nach Ostindien verschickt. Das Geheimniß sollte also nicht aufgeklärt werden?

Zu Anfang des Mai 1795 verschlimmerte sich der Zustand des jungen Tempelgefangenen so auffallend, daß man ihm ärztliche Behandlung zu Theil werden lassen mußte, falls man der Behauptung, mit dem 9. Thermidor sei ein menschlicheres Regiment eingetreten, nicht ins Gesicht schlagen wollte. Angenommen nun, der erkrankte Knabe sei nicht der Dauphin gewesen, so begingen Diejenigen, welche wissen mußten, daß er es nicht sei, eine grobe Unvorsichtigkeit, indem sie zuließen, daß ein Arzt, welcher den Dauphin früher gekannt hatte, zu dem Kranken geschickt wurde. Es war dieser Arzt der berühmte Desault vom Hôtel-Dieu, doch sollte er, so bestimmte der Sicherheitsausschuß, den Patienten nur in Gegenwart der Wächter sprechen und untersuchen dürfen. Zur gleichen Zeit beschied der Ausschuß ein Gesuch des Monsieur Hue, ehemaligen Kammerdieners Ludwig’s des Sechszehnten, abschlägig, das Gesuch, den erkrankten Prinzen pflegen zu dürfen. Scheuten sich die „menschlichen“ Herren vom Thermidor, einen Mann wie Hue, welcher natürlich den Dauphin genau gekannt hatte, zu dem Tempelgefangenen zu lassen?

Am 6. Mai besuchte Desault den kranken Knaben zum ersten Mal. Er konnte denselben nicht zum Sprechen bringen. Allerdings versichern gewisse realistische Autoren, welche die Aufgabe hatten, um jeden Preis den Dauphin im Tempel gestorben sein zu lassen, Desault habe mittelst seiner Güte den stummen Patienten schließlich doch zum Sprechen gebracht; aber sie wollen das von Lasne gehört haben, dessen Zeugniß, wie oben nachgewiesen worden, als gänzlich unzulässig betrachtet werden muß. In der Nacht vom 29. auf den 30. Mai wurde Desault, nachdem er bei Herren von der Regierung zu Abend gespeist hatte, plötzlich todtkrank. Am l. Juni starb er. War da etwa ein „nützliches“ Verbrechen begangen worden? Man munkelte in Paris, Desault sei vergiftet worden, weil er sich nicht dazu habe gebrauchen lassen wollen, den kleinen Tempelgefangenen zu vergiften – ein ganz grundloses, dummes Geträtsche. Anders freilich stellt sich die Sache, wenn man, wie ebenfalls behauptet wurde, annimmt, Desault sei auf Anstiften Derer, welche den Schlüssel des Tempelräthsels besaßen, beseitigt worden, weil er bemerkt und zu bemerken gegeben habe, daß der rhachitische und stumme Knabe im Tempelthurm nicht der wahre Dauphin, den er ja gut gekannt hatte, sein könne, sondern ein untergeschobener sein müsse.

Dieser Verlauf der Sache ist nun keineswegs ein blos muthmaßlicher, sondern ein wohlbezeugter. Ein Schüler von Desault, Monsieur Abeillé, hat sein Leben lang standhaft behauptet, sein Lehrer sei vergiftet worden in Folge seines an den Sicherheitsausschuß erstatteten Rapports, daß er in dem jungen Tempelgefangenen den Dauphin nicht erkannt habe. Jules Favre sodann hat in seinem Plaidoyer vom Jahre 1851 das Zeugniß eines andern Schülers und Freundes von Desault citirt, welcher ihm, Favre, zu Perigueux die Angaben Abeillé’s bestimmt bestätigte. Noch gewichtiger ist die nachstehende, aus der Familie Desault’s herrührende und in aller Form ausgestellte Bezeugung.

„Ich Unterzeichnete, Agathe Calmet, Wittwe des Pierre Alexis Thouvenin, wohnhaft in Paris, Platz de l’Estrapade Nr. 34, bezeuge, daß bei Lebzeiten meines Mannes Thouvenin, eines Neffen des Doctor Desault, ich meine Tante, Frau Desault, häufig habe erzählen hören, daß der Doctor Desault, Hauptarzt am Hôtel-Dien, gerufen wurde, um den Knaben Capet, welcher damals im Tempel gefangen saß, zu besuchen – so lautete der dem Doctor Desault von Seiten des Sicherheitsausschusses schriftlich zugefertigte Befehl. Im Tempel wies man ihm ein Kind, welches nicht der Dauphin war, den Herr Desault vor der Gefangensetzung der königlichen Familie mehrmals gesehen hatte. Nachdem der Doctor einige Nachforschungen angestellt, um zu erfahren, wohin doch wohl der Sohn Ludwig’s des Sechszehnten, an dessen Statt man ihm ein anderes Kind gezeigt hatte, gekommen sein möge, stattete er seinen Rapport ab und an demselben Tage erhielt und befolgte er die Einladung einiger Conventsmitglieder zum Diner. Von diesem Mahle weg nach Hunse gegangen, wurde er von entsetzlichen Erbrechungen befallen. Er starb daran, und dies ließ glauben, daß er vergiftet worden sei. Agathe Calmet. Paris, 5. Mai 1845“… Wäre nur die Vergiftung Desault’s gerichtsärztlich festgestellt! Es scheint aber gar keine Untersuchung dieses plötzlichen und auffallenden Todesfalls angestellt worden zu sein. Jedoch machte das Ereigniß Lärm, und Frau Desault erklärte ganz laut, ihr Mann sei vergiftet worden. Sollte ihr etwa dadurch der Mund gestopft werden, daß ihr der Convent eine Pension von zweitausend Livres bewilligte? Seltsam ist auch, daß, ganz entgegen dem herrschenden Brauch, der Rapport Desault’s nicht veröffentlicht wurde. Die Inhaltsangabe der Nummer 263 des Moniteur von 1795 führt den Bericht des Arztes als in derselben Nummer enthalten auf; aber diese Angabe lügt, denn der Rapport fehlt und ist überhaupt nie veröffentlicht worden. Sechs Tage nach Desault’s Tod starb auch sein vertrauter Freund, der Apotheker Choppart, plötzlich. Er hatte für den jungen Patienten im Tempel die Arzeneien geliefert.

Am 5. Juni gab der Sicherheitsausschuß dem kranken Knaben einen neuen Arzt in der Person des Doctor Pelletau, welcher bat, sich den Doctor Dumangin zugesellen zu dürfen, sowie später auch noch die Doctoren Lassus und Jeanroy. Man möchte glauben, Herr Pelletau habe sich nicht allein in eine Gefahr begeben wollen, in welcher sein College Desault umgekommen war. Im Uebrigen hatte keiner der vier genannten Aerzte den Dauphin, nämlich den echten, gekannt. Pelletau und Dumangin wurden von den Wächtern im Tempel unterrichtet, daß der Patient nicht spräche, und da sie auf ihre an den Knaben gerichteten Fragen keine Antwort erhielten, ließen sie ab, weiter in ihn zu dringen. Freilich haben Solche, welche den Wächter Lasne als Zeugen gelten zu lassen ein leicht begreifliches Interesse hatten, das Gegentheil behauptet; allein die Worte, welche sie bei dieser Gelegenheit dem Knaben in den Mund legen, tragen das Gepräge der Unwahrscheinlichkeit, ja der Unmöglichkeit so deutlich, daß sie sofort als schlecht erfunden sich herausstellen.

Am 8. Juni starb das kranke Kind im Tempelthurm.

Hätte man nun nicht erwarten sollen, daß, falls der todte Knabe der echte Dauphin, die Behörden die minutiöseste Sorgfalt aufwenden mußten, um alle Umstände dieses Ereignisses unanfechtbar genau festzustellen? Es geschah aber durchaus das Gegentheil. Alles wurde lässig und schluderig abgemacht. Am 9. Juni machte Bürger Sevestre im Namen des Sicherheitsausschusses dem Convent kurz und trocken die Anzeige, daß der „Sohn des Capet“ im Tempel gestorben sei. An demselben Tage nahmen der Doctor Pelletau und seine drei genannten Collegen über den Leichenbefund ein Protokoll auf, in welchem es wörtlich heißt: „Um 11 Uhr Morgens an der Außenpforte des Tempels angekommen, wurden wir durch die Commissäre empfangen und in den Thurm geführt. Im zweiten Stockwerk desselben fanden wir in einem Zimmer auf einem Bette den Leichnam eines Kindes, welches uns ungefähr zehnjährig schien. Dieser Leichnam, sagten uns die Commissäre, sei der des Sohnes des verstorbenen Ludwig Capet, und zwei von uns haben in demselben das Kind wieder erkannt, welches sie seit einigen Tagen ärztlich behandelt hatten.“ Dies ist doch fürwahr entfernt kein Beweis für die Identität des todten Knaben mit dem Sohne Ludwig’s des Sechszehnten! Sehr bemerkenswerth ist aber ein Umstand, welchen demselben Protokoll zufolge die Section des Leichnams herausstellte. Das Gehirn des todlen Kindes wurde nämlich in völlig normalem und gesundem Zustande vorgefunden. Dies hätte aber schwerlich oder vielmehr geradezu unmöglich der Fall sein können, wenn der Todte wirklich der Dauphin gewesen wäre, welchen ja der allgemeinen und unbestrittenen Annahme zufolge der schändliche Simon und dessen Frau durch Verleitung zu in einem so unreifen Alter doppelt schädlichen Ausschweifungen in einen Zustand des Blödsinns herabgebracht hatten, welcher eine Desorganisation des Gehirns zur unumgänglichen Voraussetzung haben mußte. Am Abend des 10. Juni wurde der Leichnam des jungen Tempelgefangenen ohne irgendwelche Ceremonie auf dem Kirchhof von Sainte-Marguerite bestattet. Erst zwei Tage nach der Bestattung und demnach vier Tage nach dem Ableben des Kindes wurde der Todesschein ausgestellt und zwar in so gesetz- und formloser Weise, daß diesem Actenstück eine gesetzliche Beweiskraft gar nicht zukommt.

Aber für die Familie Bourbon war Ludwig der Siebzehnte in aller Form gestorben und todt. Stets hat sie sich, die Schwester des Prinzen einbegriffen, gegen jeden Versuch, darzuthun, daß nicht der echte, sondern ein falscher Dauphin im Tempel gestorben sei, nicht nur abwehrend, sondern auch hindernd und hintertreibend verhalten. Als im Jahre 1820 ein gewisser Carou, welcher nach der Gefangensetzung der Familie Ludwig’s des Sechszehnten Zutritt

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 232. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_232.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)