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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

„Amerika“ auf zwölf Uhr angesetzt, wartet noch eine unabsehbare Masse Kisten und Koffer des Tauhakens, an dem die mit Dampf getriebenen Flaschenzüge sie in den Raum des Schiffes befördern. Doch König Dampf ist ein enorm schneller Arbeiter, gleichviel in welchem Fache er arbeitet, und gegen ein Uhr – Dampfschiffe sind ihrem Wesen nach nie so präcis wie Eisenbahnzüge – fliegt die letzte Kiste in den geräumigen Bauch des Schiffes hinab.

Mittlerweile haben sich Hunderte von Menschen am Dock gesammelt, welche dem Abgang des deutschen Dampfschiffes beiwohnen wollen. Verkäufer von Apfelsinen machen glänzende Geschäfte, ebenso fliegende Zeitungshändler, welche die noch feuchte letzte Wochennummer der New-Yorker Illustrated News in englischer wie in deutscher Sprache den Passagieren als Reiselectüre anbieten.

Die Schiffsglocke hat bereits verschiedene Mal die Verwandten und Bekannten der Passagiere ermahnt, sich an’s Land zu begeben, und die Unterhaltung zwischen den Scheidenden geschieht par distance. Auf dem Verdeck halten die Mütter ihre Kinder empor, um noch einmal der Tante oder Großmutter zuzulächeln, die auf dem Dock thränenden Auges steht; mit kalter Höflichkeit empfiehlt sich der geehrte New-Yorker Correspondent dem Repräsentanten der westindischen oder mexicanischen Firma, welcher mit seiner Familie den alten Hansestädten zueilt, die er vor Jahren als einfacher Commis verlassen, um in der dollarreicheren Ferne sein Glück zu suchen und zu finden, oder auch ein frühes Grab durch Krankheit des Klimas.

Im Ganzen jedoch giebt sich unter der Menge auf dem Dock, wie auf dem Verdeck, eine gehobene Stimmung kund. Gold steht 130 und Jefferson Davis ist auf dem Wege hinter die Gitter des Washington-Arsenals. Beide Nachrichten werden Europa zugleich erreichen und beide den Cours der Vereinigten-Staaten-Papiere wie der Vereinigten-Staaten-Bürger drüben steigen machen. Kein Wunder, daß ein deutscher Abolitionist aus dem schlotreichen Pittsburg, dem Birmingham der Vereinigten Staaten, sich eigens ein Sternenbanner gekauft hat, um dessen Glanz bei der Abfahrt zu entfalten. Auf dem höchsten Punkte des Verdeckes postirt, setzt er die Flagge in dem Augenblick der Brise aus, wo die Schiffskanone das letzte Signal giebt und die Schraube am Hintertheil zuerst den ruhigen Wasserspiegel in wilden Schaum verwandelt. Ein dreifaches Hurrah für die Vereinigten Staaten ertönt unwillkürlich aus allen Kehlen der am Vorderende des Docks jetzt gedrängt stehenden Massen, die mit dem Schiff sechshundert amerikanische Bürger als Apostel eines neubekräftigten Evangeliums mit freudigem Stolze zu entsenden glauben. Die Sechshundert scheinen für den Augenblick diese Missionsstimmung zu theilen, und selbst die Gesichter einiger conföderirten Soldaten und südlichen Damen blicken nur versteckt Dolche bei dieser Verherrlichung ihres triumphirenden, wenn auch von ihnen noch thöricht gehaßten, großen Vaterlandes. Einige Minuten später und das Schiff fliegt den Strom hinab, das Dock verwandelt sich in weiße Wimpel, d. h. Abschied wehende Taschentücher, und bald verschwinden auch diese den spähenden Blicken der über die Eisendrahtbekleidung des Verdeckes sich hinauslehnenden Passagiere. Sie kehren der Vergangenheit den Rücken und blicken freudig in die vor ihnen liegende Zukunft und Gegenwart.

Die großartig prächtige Bai entrollt sich vor den erstaunten Augen; wir passiren Fort Lafayette, aus dem soeben die Gnade der Republik die letzten hundert Spitzbuben entlassen, welche sich wiederholt in die Armee für fünfhundert Dollars anwerben ließen, um eben so oft zu desertiren und die Vereinigten Staaten um Soldaten, die Stadt um Stellvertreter und Geld zu betrügen. Ein Vereinigtes-Staaten-Panzerschiff wird freudig begrüßt, es scheint den Passagieren die Versicherung zu geben, daß auch in der Ferne eine Macht walten wird, die nicht duldet, daß man ihnen ein Haar auf dem Haupte krümmt. Staten-Island mit seinen reizenden Villen, die aus reichen Gärten auf sanften Hügeln herabschauen, begleitet uns bis an die Mündung der Bucht und überläßt uns den Lootsen, um uns durch dieselbe auf hohe See zu führen. Zum letzten Mal blicken wir nach New-York, das im Widerschein der Sonne, ein ungeheures Amphitheater, am Horizonte sich erstreckt, dann kehren wir unsere Aufmerksamkeit ausschließlich dem Meere und den Personen auf dem Deck zu, die für die nächsten zwölf bis dreizehn Tage unsere Welt sein werden.

Eine ungewöhnliche Lebhaftigkeit ist unter Passagieren in den ersten Tagen einer Seereise stets bemerkbar, namentlich wenn das Meer sich freundlich beträgt und man mit Interesse die vier Mahlzeiten genießt, die allemal vier Stunden voneinander entfernt die erfreulichsten Cäsuren im Schiffseposversmaß bilden. Später, wenn die durch stürmisches Wetter hervorgerufene Seekrankheit ein Drittel oder die Hälfte der Passagiere in der Unterwelt festhält und selbst die Oberwelt des Deckes, von einer Seite zur andern schwankend, nicht mehr mit reiner Freude beschritten wird, folgt dem angespannten Wesen der ersten Sonnentage eine Reaction und eine größere Anzahl Cigarren bildet zur düsteren Stimmung sowohl den Hintergrund, wie das Resignations-Antidot. Der erste sonnige Tag ruft jedoch Alle in das andere Extrem, und nirgends wird die Frage: „Sind wir ein Spiel von jedem Druck der Luft?“ so leicht bejahend beantwortet wie auf einem Schiff. Nirgends herrscht solche kindliche Leichtgläubigkeit und selbst die stärksten Geister können sich ihr nicht entziehen. Geht z. B. das Schiff ruhig, so zweifelt Niemand, daß diese Ruhe bis zu Ende der Reise anhalten werde, und Alles wundert sich, daß die Aufwärter die hölzernen Vierecke nicht wieder von den Tischen entfernen, welche sie zur Zeit des stärkeren Schaukelns zur Sicherung des Speisegeschirrs vor Purzelbäumen festgeschraubt haben. Die oben erwähnte Lebhaftigkeit hat im Anfang einen isolirenden Charakter, Alles gruppirt sich in verwandten oder wahlverwandten Gesellschaften wie auf dem Blocksberge im ersten Theile des Faust, es fehlt ein gemeinsames, belebendes Centrum, die Genies des socialen Wesens wandeln noch unerkannt oder gar verkannt umher. Zu diesem Stadium ist die Anwesenheit einer lieben Frau und Kinder ein glücklicher Umstand, so lästig diese Schätze auch wenige Tage darauf werden. Wehe dem Unglücklichen, der

„Auch nicht eine Seele
Sein nennt auf dem Erdenrund.“

Für ihn bleibt nichts übrig, als das um diese Zeit noch einsame Rauchzimmer oder ein Sitz hinter dem Steuerhaus, wo Niemand seinen verlassenen Zustand bemerken und durch mitleidig-stolze Blicke vertiefen und noch verlassener machen kann.

Betrachten wir uns zunächst einige jener Wahlverwandtschaftsgruppen in der Nähe. Eine gewisse „Familienähnlichkeit“ herrscht unter den verschiedenen Großhändlern und Importeuren, welche Deutschland in seiner vielstaatlichen Verkleidung als Consuln oder Privatleute in ausländischen Häfen und Hauptplätzen vertreten. Die meisten dieser Herren haben etwas Zugeknöpftes, Nüchternes, Kaltes an sich. Vielleicht ist ihnen die Sonne des neunundvierzigsten Breitengrades (auf welchem die Oceandampfschiffe sich meistens halten) zu frostig gegen die tropische Hitze, deren Einfluß selbst den Madeira verbessert und noch feuriger macht. Vielleicht grämen sie sich über den Schutzzolltarif der Vereinigten Staaten, welcher die Einfuhr ausländischer Waaren erschwert und den daran zu machenden Profit den Importeuren zu verringern droht. Einige dieser Herren, welche in New-Orleans und Savannah ihre Handelsbureaux gehabt, tragen in ihrem Gesicht eine Art Halbtrauer für die dahingeschiedene südliche Conföderation zur Schau. Sie sind eine besondere Species Halbsecessionisten, moderne Romantiker, welche der verschwundenen Glorie der „alten guten Zeit“ melancholisch nachblicken, in der Baumwolle und Geld in südlichen Plätzen in Menge zu machen stand. Sie treten indeß äußerst leise und vorsichtig auf und lassen den Pferdefuß nur blitzweise sehen.

Die Anhänger der Union sind zu zahlreich auf dem Schiffe, und auf ihm befinden sich zur Ehre des deutschen Namens nur zwei Deutsche, welche die Waffen für die Rebellen gegen die große Republik getragen. Die, wie man in stagnationssüchtigen deutschen Cirkeln sagt, leidige Politik theilt selbst zuletzt die deutschen Importeure und Großhändler in zwei feindliche Lager: eine Debatte beginnt, die bis zum letzten Tage der Fahrt dauert. Auf der einen Seite standen die erwähnten Halbsecessionisten, unterstützt von Deutschen aus Venezuela, MacClellan-Anbetern aus New-York und Baltimore-Banquiers: auf der andern einige New-Yorker Großhändler von Broadway und selbst Wallstraße, sowie die Vertreter des amerikanischen Westens, welche alle Maßregeln der Bundesregierung vertheidigten und das Unhaltbare der Positionen der Gegner nach harten Kämpfen siegreich nachwiesen.

Eine mehr neutrale Stellung nahm ein deutscher, d. h. österreichisch-oldenburgisch-hannöverscher, Consul von einer der wichtigeren westindischen Inseln ein, welcher theoretisch die Sache der

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 537. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_537.jpg&oldid=- (Version vom 7.9.2022)