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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

unsern Arbeitern der Geist willig, das Fleisch schwach ist. Dann muß aber auch zugegeben werden, daß wir Fabrikanten selbst noch lange nicht gethan haben, was geschehen müßte und muß. Haben wir doch z. B. erst jetzt die Volksbank zu gründen begonnen, nach dem uns Deutschland und sein Schulze-Delitzsch so lange mit gutem Exempel vorangegangen; die tausend Actien zu je hundert Franken sind erst in diesen Tagen gezeichnet worden.“

Wir widersprachen dieser Selbstunterschätzung und äußerten fast zugleich, daß doch nirgendwo etwas so Imposantes geschaffen worden sei, wie die Arbeiterstadt in Mülhausen.

„Nun, nun,“ suchte er unsere Bewunderung zu dämpfen, „auch da sind wir keineswegs die Ersten. Ich will nicht von der Wirksamkeit der 1849 gegründeten ‚gemeinnützigen Baugesellschaft‘ in Berlin reden, die nach dreißigjähriger Zahlung einer sechsprocentigen Miethe die Wohnung als Eigenthum in den Händen des Miethers läßt; die Frist kann zu lang, die Größe der Bauten und manches Andere verfehlt erscheinen. Auch nicht von den Arbeiterwohnungen in Flandern, die viel zu wünschen übrig lassen, oder in Böhmen, obgleich die der Lindheim’schen Hütten und der Kohlenwerke in Brandeisl vortrefflich sein sollen. Was Graf de Madre in Paris gethan, kann bei aller Preiswürdigkeit ebenfalls nicht in Betracht kommen, weil seine Häuser nur zu miethen, nicht zu kaufen sind. Aber unser Vorbild ist England, wo William Taylor vor fünfundzwanzig Jahren auf die kleinen Grundstücke, welche die Arbeiter vor den Thoren der Städte besaßen, kleine Wohnungen baute, die durch Abzahlung aus den Ersparnissen allmählich freies Eigenthum der Arbeiter werden sollten. In Leith, Birmingham, Nottingham geschah dasselbe, am Ende auch in London. Es bildete sich eine Gesellschaft, die Häuser mit zwei Zimmern, zwei Dachstuben, einer Küche und einem Waschkeller errichtete und für 90 Pfund Sterl. (2250 Franken) verkaufte; etwas größere für 120 bis 150 Pfund Sterl. (3000–3750 Franken). Dann ließ man seit 1848 die gemeinsame Beschaffung wohlfeiler Lebensmittel folgen – kurz, man bahnte dort den Weg, den wir nur nachzuwandeln brauchten. Und das haben wir ja nicht einmal allein gethan; Gebweiler hat seine vierzig bis fünfzig Arbeiterhäuser, in Beaucourt hat das Haus Japy deren gegründet, Lille ist seit Jahren bestrebt uns nachzuschreiten, und von allen Seiten bittet man uns um Aufschlüsse und Nachweisungen, weil man nicht zurückbleiben möchte.“

„Was eine Seelenfreude für Sie sein muß,“ fiel der Pfarrer dem bescheidenen Manne ins Wort.

„Für den Continent,“ setzte ich hinzu, „ist Ihre Anstalt jedenfalls das Muster aller Muster.

„Mag sein,“ erwiderte er, „daß wir den Grundgedanken consequenter durchgeführt haben, als Andere, was freilich auch nöthig war, um eine aus aller Herren Ländern zusammengeschneite Masse von Arbeitern, die sich oft kaum verstehen, langsam in eine geordnete Einheit zu bringen, bei der sich Jeder wohl fühlen kann. Ein solcher Zweck verdient schon, daß man ihm einige Opfer bringe.“

„Einige?“ fragte der Pfarrer gedehnt; „sagen Sie lieber riesenmäßige! Denn was Sie hingegeben haben und noch täglich hingeben müssen –“

„Nur keine Complimente,“ fiel unser Wirth ein. „Sie sehen,“ fuhr er lächelnd fort und füllte die Gläser auf’s Neue, „daß wir selbst noch ziemlich behaglich dabei leben. Auch bedarf es bei allen richtig angefaßten Unternehmungen gar keiner unmöglichen Selbstvergessenheit. Abgesehen davon, daß das eigene Gedeihen dem Menschen erst recht wohlthut, wenn es sich in seiner Umgebung spiegelt, kommt es uns selbst zu statten, wenn die Arbeiter treuer, rüstiger, freudiger schaffen, und dann ist sogar, rein kaufmännisch gesprochen, die Sache viel rentabler, als Sie glauben. Die englischen Arbeiterhäuser tragen vier und ein halb bis fünf, die des Herrn Hilliard sogar sechs Procent, und der Erbauer unserer Cité, Herr E. Möller, hat in einer lesenswerthen Schrift mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß, ganz ohne Rücksicht auf den philanthropischen Zweck, ein Capitalist, der sein Geld sicher anlegen wolle, kaum eine bessere Verwendung finden könne.“

Wir begriffen das nicht.

„Wie haben Sie denn die Sache nur angefangen und fortgeführt?“ fragte ich, und die Spannung, mit welcher der Pfarrer den Fabrikanten ansah, bewies mir, daß er dieselbe Frage auf den Lippen gehabt.

„Darüber haben,“ war die Antwort, „fast alle Pariser Journale mit mehr oder weniger Sachkenntniß geschrieben. Das Ding ist sehr einfach. Schon vor 1851 waren bei der Papierfabrik der Herren Zuber und Nieder einzelne Arbeiterwohnungen mit Gärtchen angelegt, die zu elf Franken monatlich vermiethet wurden. Da kam das Buch des Engländers Roberts „The dwelling of labouring classes“ (die Wohnungen der arbeitenden Classen) in unsere Hände, und auf seine Anregung hin stiftete der nachmalige Maire von Mülhausen, Herr Johann Dollfus, die Gesellschaft zur Gründung der Cité. Es wurden 60 vierprocentige Actien zu je 5000 Franken creirt, von denen der Gründer allein 35 behielt, während wir Uebrigen, elf an der Zahl, den Rest nahmen. Mit diesem Capital von Franken fingen wir im Juli 1853 zu bauen an und errichteten im ersten Jahre hundert Häuser. Auf diese Häuser liehen wir unter Bürgschaft des Herrn Joh. Dollfus von den Baseler Capitalisten drei Viertel ihres Werthes, erst zu fünf, später zu vier und ein halb Procent, und zwar unter der Bedingung, daß die geliehene Summe in den ersten fünf Jahren nur zu verzinsen, in den fünfzehn folgenden aber von den mittlerweile eingegangenen Verkaufspreisen nach und nach abzuzahlen sei. Dann traten noch sieben Theilnehmer mit elf Actien im Betrage von 55,000 Franken hinzu, der Crédit Foncier betheiligte sich mit einem Darlehen auf dreißig Jahre, und das Bauen ging so unaufhaltsam fort, daß schon vierhundert, zwei Jahre später sechshundert standen und in diesem Augenblick nahe an siebenhundert vollendet sind, die über zwei Millionen Franken kosten und ungefähr sechstausend Menschen beherbergen. Wie die Engländer könnten wir leicht höhere Zinsen ziehen, als unsere vier Procent, aber wir wollen nicht und verwenden jeden Ueberschuß auf Verbesserung und Verschönerung des Werkes.“

„Ehre, dem Ehre gebührt!“ sprach der Pfarrer und verbarg trinkend seine Ergriffenheit.

„Gewiß,“ stimmte ich bei. „und darum begreife ich nicht, warum die Herren, die doch so trefflich auf eigenen Füßen zu stehen wissen, durch die Benennungen Rue und Place Napoléon diese Ehre gleichsam der Regierung zuschreiben. Warum denn nicht Rue des Ouvriers, nicht Place Dollfus?“

„Auch das erklärt sich leicht,“ erwiderte unser Mentor. „Der Staat, der auch eine Hand im Spiele haben wollte, gewährte uns nicht nur für jedes neugebaute Haus eine dreijährige Grundsteuerfreiheit, sondern gab auch eine Summe von 300,000 Franken mit dem Beding, daß die Gesellschaft wenigstens das Dreifache verbaue, die Häuser zum Kostenpreise verkaufe und nicht höher als zu acht Procent desselben vermiethe. Wir verbauten, wie gesagt, mehr als das Sechsfache, vermietheten höchstens zu sieben Procent, wollten aber mit unserm Unternehmen wirklich ganz ‚auf eigenen Füßen stehen‘ und verwandten deshalb den Zuschuß der Regierung nicht zum Häuserbau, sondern lediglich zur Anlegung von Straßen und Plätzen, Bürgersteigen und Baumpflanzungen, Bädern und Waschküchen, zur Einrichtung der Gasbeleuchtung etc., kurz, zu Verschönerungen und Anlagen von allgemeinem Nutzen. So sind die Häuser selbst nicht vertheuert worden, und dafür danken, weil in unserm Staate doch einmal Alles vom Kaiser persönlich ausgeht, die Namen von Platz und Straße. Oder ist nicht jede Hülfleistung, wober sie auch komme, dankenswerth?“

Ich schämte mich meiner voreilig demokratischen Bemerkung und empfand dagegen einen gründlichen, fast scheuen Respect vor dem Geschäftsmanne.

„Ihr seid Helden.“ rief ich nach tiefem Zuge aus Cigarre und Champagnerglas; „wie muß Euch nicht zu Muthe werden, wenn Ihr heute auf den Zustand Eurer Arbeiter vor zehn Jahren zurückblickt! Damals in schlechten Löchern unsaubere, verkommene Familien, die ihre Kinder ohne Zucht und Lehre herumwühlen ließen, bis sie zur Arbeit, zum Verdienen tauglich wurden; abgeschnitten von der frischen Luft, vom Freien, das uns selbst befreit, ohne Besitz, ohne Zukunft, ohne Freudigkeit. Jetzt Menschen in frischen, sonnigen Wohnungen, in denen sie selber sonnig, frisch und heiter werden, ihre Kinder allmorgendlich in ordentlichem Anzuge zur Schule sendend. Die Beschäftigung im Garten, den sie in den Freistunden bebauen, verdrängt allen verderblichen Zeitvertreib und macht gesund, wie’s der Fisch ist im Wasser; die frische Luft dehnt aus, erfreut und stählt, und sinniger wird der Mensch, der so schalten und walten kann, er mag’s merken oder nicht. Und

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