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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

gewesen. Sie habe ihr erzählt, daß sie schon früher ein Kind in Pflege gehabt habe, welches aber im fünften Jahre gestorben sei, und daß sie dessen Kleider noch besitze. Die bisherige Kleidung des Wechsung’schen Kindes sei ihr zu schlecht gewesen, da sie „mit demselben habe Staat machen wollen“; sie habe der Angeklagten daher diese Kleidungsstücke zurückgegeben und diese habe noch an demselben Tage dem Kinde einen neuen Anzug von der Farbe des bisherigen gekauft. Obwohl die Frau Werther sich sogar bereit erklärt habe, das Kind ohne alle Entschädigung zu ihrem puren Vergnügen“ bei sich zu behalten, so sei doch schließlich verabredet worden, daß die Angeklagte ihr für’s erste Jahr zwanzig Thaler Ziehgeld geben solle, und Letztere habe sofort fünf Thaler abschläglich bezahlt. Dagegen habe sich die Frau Werther verpflichtet, sie regelmäßig am ersten Sonntage jeden Monats in Halle aufzusuchen und ihr das Kind zu zeigen; auch habe dieselbe die Angeklagte, welche noch an demselben Abende (11. Mai) um ein halb sechs Uhr nach Halle abreiste, bis zum Bahnhofe begleitet, ihr aber schon unter dem 21. oder 22. Mai, während die Wechsung bei der Frau Fuchs krank lag, brieflich gemeldet, daß das Kind an Krämpfen gestorben sei. Die Wechsung selbst bezweifelt die Richtigkeit dieser Meldung und spricht die Vermuthung aus, daß jene Frau Werther das Kind nur ganz in ihre Gewalt habe bekommen und ihr durch die Todesnachricht die Lust zu weiteren Nachforschungen habe benehmen wollen.

Existirt nun eine Frau der bezeichneten Art in der That? Heißt sie wirklich Werther? Lebt sie noch in Leipzig? Kennt sie die entsetzliche Lage der Angeklagten? Ist es ihr möglich, offen aufzutreten und die Unschuld derselben darzuthun?

Die Leipziger Polizei hat unter der Leitung des Actuar Richter die umfassendsten und sorgfältigsten Nachforschungen nach der Frau Werther angestellt; aber sie hat überall diesen, möglicherweise falschen Namen zu ihrer Richtschnur genommen. Die Seelenlisten Leipzigs weisen nur zwei Frauen mit Namen Werther auf; allein von diesen ist die eine schon ziemlich bejahrt, die andere ist eine junge Musiklehrerin, die Stellung Beider aber ist von einer Art, daß die Polizeibeamten es für unnöthig befunden haben, sie auch nur mit einem Worte nach dem Wechsung’schen Kinde zu befragen. Außerdem hat nach der Fremdenliste damals auch eine Schauspielerin Werther sich „zur Cur“ in Leipzig aufgehalten, über welche es an weiteren Nachrichten fehlt. Auch in den benachbarten Ortschaften hält sich keine Frau Werther auf und hier, wie in Leipzig, geben auch die Sterbelisten keine Nachricht über das Wechsung’sche Kind. Daß Gaukler oder Seiltänzer das Kind an sich genommen haben sollten, ist unwahrscheinlich, denn Leute dieser Art befassen sich nicht mit Kindern von so jugendlichem Alter.

Alle jene polizeilichen Nachforschungen jedoch gehen von der Voraussetzung aus, daß die angebliche Frau Werther in guter Absicht gehandelt habe und deshalb auch der Polizei gegenüber vollkommen gesetzmäßig verfahren sei. Wie nun aber, wenn es sich darum handelte, das Kind zu einem Verbrechen zu verwenden? Nicht blos in Romanen, sondern auch im wirklichen Leben verschwinden Kinder und tauchen in angesehenen Familien wieder auf. Man vergesse nicht, daß das verschwundene Kind ein Knabe war und daß bei vielen Familien Vermögen, Ansehen und häuslicher Friede von der Geburt eines Knaben abhängen; wie nun, wenn auch der Wechsung’sche Knabe das, was die Natur verweigerte, ersetzen, oder an die Stelle eines kurz nach der Geburt verschiedenen Kindes eintreten sollte, da, wo vielleicht keine Aussicht mehr auf einen gesetzlichen männlichen Erben vorhanden war? Würde dann wohl die angebliche Frau Werther, wenn sie, um einen solchen Betrug zu unterstützen, nach Leipzig kam, die geringe Geldstrafe gescheut haben, welche auf die unterbliebene Anmeldung bei dem Polizeiamt gesetzt ist? oder würde sie wohl der Angeklagten denselben Namen genannt haben, welcher in den polizeilichen Listen stand, um so den Nachforschungen mißtrauischer Verwandten Thor und Thür zu öffnen? War es dann nicht am Gerathensten, das Kind einer Person zu wählen, welche, nicht in Leipzig wohnhaft, nicht einmal mit den Straßen Leipzigs bekannt, schwerlich dorthin zurückkehrte, und diese Person dann durch die Meldung von dem Tode des Kindes von allen weiteren Nachfragen abzuhalten? Konnte sie eine solche Person wohl anderswo leichter finden, als in einer öffentlichen Entbindungsanstalt, deren Bewohnerinnen ihre Mutterschaft als ein Unglück zu betrachten pflegen? und sollte es ihr, einen solchen Zweck vor Augen, so ganz unmöglich gewesen sein, die Wachsamkeit des Thürhüters und des Dienstpersonals im Trier’schen Institute zu täuschen, um mit der Wechsung in Verkehr zu treten? Natürlich würde der weitere Verlauf des beabsichtigten Betruges schwerlich in Leipzigs unmittelbarer Nähe stattgefunden haben, und so ließe es sich wohl auch leicht erklären, daß die öffentlichen Aufrufe in den Leipziger Localblättern den Mitschuldigen des Betruges nicht zu Augen gekommen sind, selbst wenn dieselben geneigt sein sollten, sich selbst und die Ehre ihrer Familie der öffentlichen Schande preiszugeben, um eine unschuldig Angeklagte vom Tode zu erretten.

Freilich dürfen wir uns auch nicht das schwere Gewicht der Thatsachen verhehlen, welche gegen die Angeschuldigte sprechen. Sie hat in Leipzig gegen Niemand geäußert, daß sie ihr Kind dort zu lassen gedenke, sondern vielmehr erklärt, sie nehme dasselbe mit sich, um es ihrem Geliebten zu zeigen; aber mußte nicht gerade eine solche Erklärung den Absichten der geheimnißvollen Frau Werther entsprechen, welche ihr dieselbe vielleicht erst eingeflüstert hatte? Sie reiste am Abend des 11. Mai von Leipzig ab und behauptet, noch an demselben Abend bei den Bertram’schen Eheleuten in’s Zimmer getreten sein, um sich aus ihrem dorthin vorausgeschickten Koffer ein Nachtkleid zu holen; während Jene eidlich versichern, daß sie erst am 12. Mai früh um fünf Uhr bei ihnen sich eingestellt habe, zu einer Zeit, zu welcher noch kein Frühzug von Leipzig angekommen sein konnte. Nur in jener Nacht vom 11. zum 12. Mai kann sie ihr Kind getödtet haben, wenn sie es überhaupt getödtet hat, weil nur für diese Zeit es an einem Nachweis über ihren Aufenthalt fehlt und weil erst von da an ihr Kind verschwunden ist. Als sie bei Bertram’s eintrat, trug sie ein Bündel unter ihrem Arme und verschloß dasselbe in ihrem Koffer. Dieses Bündel enthielt bei späterer Prüfung die Kleider ihres Kindes in beschmutztem Zustande, als seien sie soeben erst einem Kinde vom Leibe genommen worden. Es waren die einzigen Kindersachen, welche die Hebamme Richter für sie angeschafft und welche sie im Trier’schen Institute überhaupt besessen hatte; aber stimmt dies nicht mit ihrer Angabe, daß die Frau Werther ihr die alten Kleider des Kindes zurückgegeben und nur den nach ihrer Entlassung aus dem Trier’schen Institute neu angeschafften Anzug behalten habe? Die Frau Fuchs bezeugt ferner, daß die Wechsung, während sie bei ihr krank gelegen, zwar mehrere Briefe erhalten habe, jedoch keinen aus Leipzig; reicht aber wohl diese Aussage hin, um zu bestreiten, daß jene Frau Werther existirt und der Angeschuldigten den Tod ihres Kindes gemeldet hat?

Die Angeklagte hat in Halle ihren Zustand und ihre erfolgte Niederkunft geleugnet; aber welchen Grund hätte sie auch dafür gehabt, jedem Unbetheiligten offen ihre Schande zu bekennen? Sie hat überhaupt mannigfach gelogen, selbst da, wo es durch ihre Vertheidigung nicht unbedingt geboten war, wie z. B. damals, als sie der Fuchs erzählte, sie sei erst am Abend des 14. Mai in Halle angekommen; allein hieraus geht nur hervor, daß sie eine gewohnheitsmäßige Lügnerin ist und nicht etwa erst zur Lüge ihre Zuflucht genommen hat, als es galt ein Verbrechen zu verheimlichen.

Das schwerste Moment, welches freilich die Angeklagte zu erdrücken droht, ist folgendes. Am 16. Mai 1864 wurde bei Halle unterhalb der Gasanstalt ein nackter Kindesleichnam männlichen Geschlechtes in der Saale gefunden. Die Länge dieses Leichnams stimmt annähernd mit dem Maße, welches im Trier’schen Institute von dem Wechsung’schen Kinde genommen wurde, überein, und die geringe Differenz sucht die Anklage mit der Schwierigkeit, welche die Messung eines lebenden Kindes darbietet, zu erklären. Die Kindesleiche wog fünfzehn Loth schwerer als das vermißte Kind, und auch dieser Umstand wird durch das eingedrungene Wasser zu erläutern gesucht; die Augen der Leiche waren weiter in der Verwesung vorgeschritten, als andere Körpertheile, und es wurde allerdings festgestellt, daß die Augen des Wechsung’schen Kindes geschwürig gewesen waren; die Haare der Leiche waren blond und spärlich, gerade wie beim Wechsung’schen Kinde, und die Physikatspersonen gaben ihr Gutachten dahin ab, daß das fragliche Kind bei seinem Tode ungefähr vierzehn Tage alt gewesen und durch Ertrinken um’s Leben gekommen sei. Von entfernteren Orten her konnte die Leiche auch nicht herbeigeschwommen sein, denn es war gerade niedriger Wasserstand, und ein Wehr, kurz über der Stelle, wo man die Leiche fand, würde dieselbe damals nicht durchgelassen haben. Das Kind mußte daher erst unterhalb des Wehres in das

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