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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

suchend, auf und ab. Da es jedoch den Anschein hatte, als ob sie sich in ihrer Verwirrung zwischen das sausende Erz stürzen wolle, so lief ein alter Mann hinzu, welcher sie am Arme faßte und, um das Glockengebraus zu übertönen, ihr heftig und laut in die Ohren schrie. Sie aber riß sich los und eilte mit Blitzesschnelle und abgewendetem Gesicht an dem Fremden vorüber, die Treppe hinab, wo sie alsbald in der unten herrschenden Dunkelheit verschwand.

Dies Alles war das Werk eines Augenblickes gewesen. Zugleich erschollen die letzten Glockenschläge mit fast betäubender Gewalt, um bald darauf hinzusterben in ein schwaches, unregelmäßiges Klingen, das zuletzt als wehmüthiges Tongeflüster in den Lüften verschwamm. Dann hingen sie still und dunkel da, die Glocken, mit gebundenen Schwingen den Klangreichthum in sich betrauernd, weil er schweigen muß nach dem Willen der kleinen Menschen da drunten. Aber noch lange nach ihrem Verklingen, selbst wenn der schwächste Ton ausgezittert hat, ist es, als entströme ihnen ein unsichtbares Leben, als zögen die Geister der abgeschiedenen Klänge leise dem Strome nach, der mächtig hinausfluthet und in Millionen Arme getheilt an die Menschenbrust schlägt; er rauscht an das verstockte Gemüth, das sich grimmig wehrt und windet unter der unabweisbaren Mahnung, und löst sich harmonisch auf in der spiegelklaren Fluth, die wir „eine reine Seele“ nennen.

Mehrere Männer, welche das Geläute besorgt hatten, waren indessen von den Balken herabgestiegen und gingen grüßend die Treppe hinab, indem sie ihre Röcke anzogen. Jener alte Mann aber, der mit dem Mädchen gesprochen hatte, zog höflich seine Mütze vor dem Fremden, wobei ein ehrwürdiger, schneeweißer Scheitel sichtbar wurde, und sagte mit einem eigenthümlich gutmüthigen Anflug in der Stimme:

„Was hat denn der Herr dem Lenchen gethan, daß sie so ganz außer Rand und Band war? Um ein Haar wär’ sie von den Glocken erschlagen worden.“

„Sehe ich denn aus wie ein Mädchenverfolger, alter Jacob?“ fragte lächelnd der junge Mann.

Der Alte blickte erstaunt auf. „Der Herr kennt mich?“ fragte er und sah dem Fremden forschend in’s Gesicht, während er die dicken, weißen Augenbrauen zusammenzog und die Hand schützend über die Augen hielt, um besser sehen zu können.

„Es scheint, ich habe ein treueres Gedächtniß für meine alten Freunde, als Ihr … Wie könnte ich wohl den Mann vergessen, der alle meine tollen Knabenstreiche unterstützte, der mir manchen Apfel vom Baume geschüttelt hat und mich gern als zweiten Reiter auf meines Vaters Braunem duldete, wenn er ihn nach der Schwemme ritt!“ erwiderte der Fremde und reichte dem Alten freundlich die Hand.

„Herr Jesus!“ rief der alte Mann. „Nein, wie kann man aber auch so blind werden! Ja, das Alter, das Alter … Na, das ist eine Freude! … Hätt’ nicht gemeint, den jungen Herrn Werner in meinen alten Tagen noch einmal zu sehen … Und wie groß und stattlich Sie geworden sind … Jetzt müßte die sel’ge Mutter kommen, die würde wohl Augen machen, wenn sie ihr Herzblut sähe! – Bleiben Sie denn nun aber auch bei uns?“

„Für’s Erste, ja … Nun sagt mir aber, wer ist denn das Mädchen, das hier im Fenster saß?“

„’s Lenchen, der Seejungfer ihr Schwesterkind.“

„Was, der Tater?“

„Ach, du meine Güte, das wissen Sie noch? … Ja, die bösen Kinder hatten sie so getauft; aber aus dem Tater ist ein schönes Mädchen geworden. Die Leute wissen’s nicht so, weil sie sich immer hinter den Mauern verkriecht, und in den armseligen Kleidern sieht man’s auch nicht gleich … Es giebt auch Dumme genug, die meinen, es sei nicht ganz richtig bei ihr, weil sie manchmal so absonderlich ist. Es ist wahr, sie führt freilich mitunter Reden, die Unsereiner nicht versteht, muß sie denn aber deshalb gerade verrückt sein? … Sehen Sie, Herr Werner,“ fuhr der Alte fort und strich mit der großen, schwieligen Hand über die Augen, „das ist immer gar ein armes Ding gewesen, so allein, keinen Vater und keine Mutter … Ich hatte sie im Anfang gar nicht weiter angesehen, wenn sie auf den Thurm kam, die Andern nannten sie mir die Unke, weil sie immer so still in ihr Winkelchen kroch, aber einmal, da sah ich sie, wie sie ihr Köpfchen in die eine Glocke legte, die gerade ausgeklungen hatte, und sie streichelte, als ob es ein lieber Mensch sei, das dauerte mich. Ich ging auf sie zu und redete sie an, da machte sie jedoch ganz erschrockene Augen und schoß die Treppe hinunter wie eine wilde Katze. Später hat sich’s aber doch noch gemacht. Wir wurden gute Freunde, und ich gewöhnte mich so an das närrische kleine Ding, daß mir nachher meine Frau jeden Sonntag mein Töpfchen Kaffee hierher auf den Thurm bringen mußte, weil ich ihn daheim immer kalt werden ließ; daß da die Kleine mittrank, können Sie sich denken.“

„Dann habe ich Euch heute um Euer Kaffeestündchen gebracht, denn es scheint, das Mädchen kommt nicht wieder,“ sagte Werner und bog sich aus dem Thurmfenster. Tief unten lag das Mauergärtchen, aber es herrschte dort sowohl, wie in der kleinen Gasse eine Todtenstille. Die Sonne lag brütend auf der engen Ecke, und Alles, was lebte, hatte sich hinter die kühlen Mauern geflüchtet.

„Ja, ich glaub’s auch,“ entgegnete der Alte, „heute kommt sie nicht mehr, sie hat sich zu sehr erschreckt; möchte nur wissen, warum. Sie geht freilich allen Menschen aus dem Wege, aber das thut sie gewöhnlich still, ohne daß es die Andern groß merken … Ich weiß nicht, was heute in sie gefahren ist, Sie sehen doch wahrhaftig nicht so aus, daß man sich fürchten müßte, Herr Werner!“

Der Blick des Alten glitt bei diesen Worten wohlgefällig über die auffallend schöne, imposante Gestalt des jungen Mannes; der aber zog seine Brieftasche hervor und zeigte Jacob die gefundene Bleistiftzeichnung.

„Ach, das ist Lenchen ihre sel’ge Mutter!“ sagte dieser, „das Bildchen hat die Kleine selbst aus dem Gedächtniß gemacht.“

„Wie,“ rief Werner erstaunt, „das junge Mädchen?“

„Ja wohl, die malt, wie irgend Einer. ‚Setze Dich hierher, Jacob,‘ sagt sie manchmal, wenn wir hier oben zusammensitzen. ‚Siehst Du, da kommt ein heller Sonnenstrahl, der fällt gerade auf Deinen Kopf, so muß ich Dich zeichnen‘ … und da dauert’s keine Viertelstunde, da steh’ ich alter Kerl da auf dem Papier, daß die Leute hell auflachen, so ähnlich ist’s. … Da wohnte lange Jahre ein alter Maler im Kloster. Er soll seine Sache recht gut verstanden haben, allein er war aus der Mode gekommen, die vornehmen Leute sagten, er lege nicht den rechten Verstand in die Gesichter … du lieber Gott, da mag auch manchmal guter Rath theuer gewesen sein, denn Etwas malen, was nicht da ist, dazu gehört wohl ebensoviel Kunst, als wenn man Glocken läuten will, die keinen Klöppel haben. … Nun, der alte Mann hat gemerkt, daß in dem Lenchen was steckt; er hat sie hergenommen und hat ihr gezeigt, wie man die Bilder macht, und bald hat sie ihm geholfen an den Carmen und Pathenbriefen, welche die gemeinen Leute gern schön gemalt haben. Der Alte ist nun vor ein paar Jahren gestorben und Lenchen hat seine Kundschaft gekriegt, sie verdient manchen Groschen damit.“

(Fortsetzung folgt.)




Die Judengasse in Frankfurt a. M. und die Familie Rothschild.
Von G. L. Kriegk.[WS 1]

Bis gegen den Schluß des Mittelalters befanden sich die Frankfurter Juden in einer besseren Lage, als in der neueren Zeit. Sie lebten bis 1349, wo die christliche Bürgerschaft sich das Eigenthumsrecht über sie erkaufte, als Kammerknechte des Kaisers, d. h. als Zinsgehörige und Schützlinge desselben, und hatten nicht nur ihren eigenen Gerichtsstand, sondern auch ihre eigene Gemeindeverwaltung. Auch nachdem sie Eigenthum der Frankfurter Bürgerschaft geworden waren, verwalteten sie noch lange ihre religiösen und Gemeinde-Angelegenheiten ganz selbstständig, waren und hießen Bürger der Stadt und unterschieden sich rechtlich von den christlichen Bürgern nur dadurch, daß sie der höheren politischen Rechte entbehrten und nicht, wie diese, die nach dem jedesmaligen Stande des Vermögens berechnete Beede oder Schatzung, sondern eine für jeden Juden im Voraus festgesetzte jährliche Abgabe entrichteten.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage : H. L. Kriegk
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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 564. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_564.jpg&oldid=- (Version vom 17.9.2021)