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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Kotzebue selbst, später beim Kaiser in hoher Gunst stehend, legt das Geständniß ab, daß er sich „jeden Abend mit bangen Ahnungen zu Bett gelegt, zitternd auf jedes Geräusch der Straße, auf das Rollen jedes Wagens gehorcht habe, der in der Nähe seiner Wohnung gehalten habe. Zu neuen Sorgen,“ fährt er fort, „erwachte ich, wie ich diesen Tag ein Unglück vermeiden wolle; ängstlich fuhr ich durch die Straßen, um ja, wenn ich dem Kaiser begegnen sollte, zur rechten Zeit auszusteigen; mit peinlicher Sorgfalt wachte ich über jedes meiner Kleidungsstücke und über die Art, sie zu tragen; so oft meine Frau mit den Kindern spazieren fuhr und nur einige Minuten über die bestimmte Zeit ausblieb, zitterte ich, zu erfahren, daß sie nicht schnell genug ausgestiegen und deshalb, wie die Frau des Gastwirths Demuth, in’s Gefängniß geworfen worden sei. Nie konnte ich meinen Kummer in dem Busen eines Freundes ausschütten, denn alle Wände hatten Ohren, und der Bruder traute dem Bruder nicht! Der harmloseste Spaziergang gewährte keine Zerstreuung, denn täglich begegnete man Unglücklichen, die arretirt und zur Knute geführt wurden etc. etc.“

Welch ein Zustand! Welche Existenz! Und Kotzebue war feig genug, die Stellung zu ertragen, weil sie – einträglich war! Freilich brachte ihm dieselbe ungefähr zwanzigtausend Rubel jährlichen Einkommens, und damit glaubte der Herr Etatsrath seine „schreckensvollen Nächte“ und seine „qualerfüllten Tage“ wohl aufgewogen! Wie mögen die Bewohner Rußlands aufgeathmet haben bei der ersten Ukase des jungen Kaisers Alexander, die wir, durch den uns zugewiesenen Raum beschränkt, leider nur im beschränkten Auszug als ehrendes Document wahrhaft großer Gesinnung hier wiedergeben. In dieser Ukase befiehlt der Kaiser dem dirigirenden Senat, „mit aller Strenge der Gesetze und ohne Ansehen der Person alle diejenigen, welche sich des Mißbrauchs der Gewalt, der Spuren der Parteilichkeit schuldig gemacht, von ihren Posten zu entsetzen und zur Besetzung der Stellen, welche nur von seiner Bestätigung abhängen sollen, blos Candidaten vorzuschlagen, die den Staat mit würdigen Beamten besetzen.“

„Da der dirigirende Senat,“ heißt es ferner, „die ganze Wichtigkeit dieses Mißbrauches kennt und weiß, in was für einem Grade derselbe sogar den ersten Grundsätzen der Gerechtigkeit zuwiderlaufend und wie drückend er allen bürgerlichen Rechten ist, so können wir nicht unterlassen, überall im ganzen Reiche auf das Strengste zu bekräftigen, daß sich nirgend und auf keine Art weder in den höheren, noch niederen Regierungen und Gerichten jemand bei unvermeidlicher Bestrafung unterstehe, weder ein peinliches Verhör anzustellen, noch zuzulassen, noch zu vollziehen; daß alle Gerichtsbehörden, denen durch die Gesetze die Revision aller Criminalsachen vorbehalten ist, nur das persönliche Bekenntniß des Angeklagten vor dem Gerichte zur Grundlage ihres Urtheils nehmen dürfen, damit sie nicht im Laufe des Processes zu irgend einem parteiischen Verhöre hingerissen werden, und daß endlich selbst der Name ‚Folter‘, welcher der Menschheit Schande und Vorwürfe bringt, für immer aus dem Andenken des Volkes gelöscht werde.“

(Wird fortgesetzt.)




Die blaue Tiefe.
Von Karl Vogt.
I.
Die Eltern des Glaubens. – Der Bischof von Bergen. – Meermänner und Meerweibchen. – Der große Seekraken von einer Poststunde im Durchmesser. – Die Ausdünstungen des Krakens. – Die große Seeschlange. – Die Riesentintenfische.

Furcht und Wundersucht sind die beiden Eltern des Glaubens. Der Mensch fürchtet sich vor dem Unbekannten, was sein Verstand unmittelbar nicht fassen, seine Sinne nur unvollständig zu entdecken vermögen; er glaubt in Erscheinungen, deren thatsächlicher Grund ihm nicht in die Augen springt, Aeußerungen übernatürlicher Kräfte zu sehen, deren Wirkungen er nicht berechnen kann, und sucht dann hinter diesen Erscheinungen Wesen als Ursachen, denen er ganz besondere Macht und besondere Eigenschaften beilegt. Hat ihn einmal die Furcht vor solchen übernatürlichen, geheimnißvollen Wesen erfaßt und durchdrungen, glaubt er einmal, sei es nun an Hexen oder Gespenster, an Teufel oder Götter, so sucht er auch die Aeußerungen solcher geheimnißvoller Wesen in allen gewöhnlichen, streng gesetzmäßig sich abspinnenden Naturerscheinungen und stellt hinter jede keimende Pflanze ein wunderbares Wesen, das sie treibt, hinter jeden Menschen einen guten Genius, der ihn inspirirt, und einen bösen, der ihn verführt. So sieht man denn bald ein Wunder in jedem Sonnenaufgang, ein Wunder in jeder Blüthe, und je unreifer die Naturauffassung, je geringer die Kenntniß der Weltgesetze, desto üppiger sproßt dieser Glaube an wunderthätige Wesen und Wunderwirkungen, der sich an die gewöhnlichen Vorgänge jedes Tages knüpft. Die unzugänglichen Orte, wo kein Fuß hinkommen, kein Auge hinsehen kann, werden dann mit solchen Wesen und ihren Geschöpfen bevölkert, und je unerreichbarer die Wohnorte, desto lebhafter bemüht sich die Phantasie, diese nach Carrière „unmittelbar vom Himmel ausströmende Gabe“, dem Leeren einen Inhalt zu schaffen. So bevölkert der Bergbewohner die unnahbaren Gipfel mit „Berges-Alten“ und ähnlichen „Gratthier-Beschützern“, bis irgend ein Alpenclub sich bildet, der mit Leitern und Seilen dem Phantom zu Leibe rückt; so versetzt der Wüstensohn in die gaukelnden Spiele des glühenden Horizontes die Fee Morgana, welche der Huf seines Rosses niemals erreichen kann; so läßt der Bergmann in dunkeln Tiefen die Gnomen und Kobolde hausen und sich mit Einstürzen und schlagenden Wettern so lange gegen den Eindringling wehren, bis Verschalungen und Sicherheitslampen die neidischen Geister ihrer Waffen berauben; so sieht der Fischer und Seemann in den Abgründen der Wellen neben Nixen und Meerweibchen räthselhafte Ungethüme ihr Wesen treiben und unendliche Schätze von Korallen und Perlen von Kraken und Seeschlangen bewacht werden, gegen welche der Walfisch nur ein Zwerg an Größe und der Hai ein Muster von Sanftmuth ist.

Ich lese in „Erich Pontoppidan’s, Bischofs über das Stift Bergen in Norwegen, Versuch einer natürlichen Historie von Norwegen, Worinnen die Luft, Grund und Boden, Gewässer, Gewächse, Metalle, Mineralien, Steinarten, Thiere, Vögel, Fische und endlich das Natural, wie auch die Lebensarten und Gewohnheiten der Einwohner dieses Königreiches beschrieben werden,“ (Kopenhagen 1753) in der Vorrede, des zweiten Theiles: „Ich hoffe, daß diejenigen, die sich an der Betrachtung der herrlichen Haushaltung des großen Schöpfers mit unvernünftigen Thieren belustigen, manche Spuren seines weisen Rathes, seiner liebreichen Absicht und seiner allmächtigen Hand darin finden und dadurch aufgemuntert werden können, mit Sirach, Cap. 43. V. 5 zu denken: das muß ein großer Herr sein, der sie gemacht hat.

Das achte Capitel, welches von den nordischen Seeungeheuern oder von den Wunderthieren in der See handelt, dürfte wohl ebensoviel hierzu beitragen, als eines derer vorhergehenden. Da man in unseren Zeiten weit mehr als vor Zeiten eine kindische Leichtgläubigkeit scheuet und aus der Ursache seinen Beifall fast allzulange zurückhält, als zu frühzeitig damit herausrucket: so sehe ich voraus, daß derjenige, welcher blos den Inhalt des bemeldeten achten Capitels lieset, und darinnen die Meermänner, die großen Seeschlangen von etlichen hundert Elen und den noch weit größeren Seekraken, Kraxen oder Horven findet, mich der vorbemeldten Leichtgläubigkeit in diesen Materien beschuldigen wird, und dieses muß ich so lange erdulden, bis er das Capitel durchgelesen hat. Alsdann aber werde ich keiner Entschuldigung bedürfen.“

Eine gute Dosis von Leichtgläubigkeit gehört nun zwar zu dem Geschäfte eines Bischofs, und ohne dieselbe könnte Einer wohl nicht dazu kommen, Bischof zu werden und zu bleiben – aber so viel wie der gute Pontoppidan in seinem achten Capitel entwickelt, dürfte für natürliche Dinge doch wohl zu viel sein. Da kommen nun zuerst die Nachrichten von Meermännchen und Meerweibchen, die begreiflicher Weise auch Kinder haben, dänisch sprechen, Königen Lieder vorsingen, und wenn auch der gute Bischof letzteres für Märchen hält, die geeignet seien zu bewirken, „daß auch nur mäßig verständige Leute den Geschichten ihren Beifall versagen und zugleich ein Mißtrauen in die Richtigkeit des ganzen Wesens und Wirklichkeit setzen, so hat man doch inzwischen keineswegs Grund oder Fug, dieses Letzte zu thun, insofern die Sache nicht an sich selbst ungereimt, geschweige unmöglich ist, oder auch wenn ihr nicht die Bekräftigung vieler unverwerflicher Augenzeugen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 571. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_571.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)