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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

frei, wenn nicht die Witterung ihre Kräfte in Anspruch nimmt. Der Vormittag wird nach einem besonderen Stundenplane mit Uebungen hingebracht. Theils manövrirt das Schiffsvolk oder wird instruirt, auch übt der Commandeur fleißig die Löschmannschaft und es ist ein besonderer Unterricht für das Verhalten eingerichtet, wenn das Signal gegeben wird: „Feuer im Schiff!“

Die Mannschaft hängt mit großer Zuneigung dem trefflichen Commandeur an, welcher seiner Seits wieder den Leuten das beste Lob ihrer Tüchtigkeit, Willigkeit und Ordnungsliebe wegen ertheilt; auch ist der Gesundheitszustand höchst befriedigend. Von der gesammten Equipage war nur ein Unterofficier an Gelenkrheumatismus während des Aufenthaltes bei List erkrankt, obgleich die starke Hitze allerlei Befürchtungen erweckt hatte.

Die Entermesser, Hacken und Spieße, sowie die gefürchteten Zündnadelgewehre, liegen in bester Ordnung in Säcken wohl verwahrt und doch gleich zur Hand für etwaigen Gebrauch. Hunde verschiedener Gattung liefen im Schiffe umher und wurden sehr gehätschelt. Man läßt den Leuten gern diese treuen Gefährten und nur bei allzu zahlreichem Erscheinen von Nachkommenschaft werden einige Sprößlinge über Bord befördert.

Durch mehrere offenstehende Luken gewahrten wir in den Zimmern der Ingenieure und Steuerleute oder Unterofficiere verschiedene weibliche Photographien. Hinter einigen war eine kleine welke Blume, ein Blättchen oder eine Schleife befestigt. Es waren wohl Andenken der fernen Lieben, Erinnerungen an eine traurig-süße Abschiedsstunde, in der jene kleinen Blumen und Blätter gebrochen waren, stumme Mahnungen der Heimath zu gedenken und zuweilen eine Unterschrift: „Komm gesund wieder.“ Ja, das ist nun nicht anders. „Werden wir uns wiedersehen?“ diese Frage muß der Seemann jedes Mal leise vor sich hin thun, wenn er, auf dem treulosen Elemente schwimmend, des Abends solch ein liebes Bild betrachtet!

„Boot herab!“ scholl das Commando, und wir saßen bald wieder in dem kleinen Fahrzeuge. „Auf Wiedersehen nach Tische!“ damit verabschiedeten wir uns von den Leuten und gingen, vom Commandeur geführt, in den naheliegenden Gasthof, sobald wir an’s Land gestiegen waren. Der Wirth des Gasthauses zu List ist ein Stockdäne. Er ließ sich nur wenig sehen. Die Leute erzählten, er sei auf Capitain Hammer’s Flotille gewesen. Indessen machte er sein mürrisches Betragen durch trefflichen Hammelbraten, guten Salat und eine Nationalspeise: Grütze mit Weinsauce – Alles äußerst wohl zubereitet und von der bildhübschen Tochter servirt – vergessen.

Nach Tische stellte der Commandeur uns dem Strandvoigt von List vor, der, Anfangs scheu, durch des preußischen Seeofficiers liebenswürdiges Betragen bald ganz umgewandelt worden ist. Ich glaube, der Voigt heißt Hansen. Ich glaube, denn obwohl ich mich eines guten Gedächtnisses erfreue, kann es doch dem besten Gedächtnißkünstler passiren, auf Sylt Namen zu vergessen, weil man in einem wahren Meere von Hansen, Petersen, Johannsen, Boysen, Boësen und Jensen umherrudert. Es giebt Stellen, wo man wirklich die Leute numeriren müßte. Vor der Wohnung des Voigtes ist eine Menge Schiffsholz aufgehäuft, Spieren, Balken, Planken, Maststücke, Eisenwerk. Die See hat das Alles an den Strand getrieben, es wird verkauft, zerschnitten, verbrannt. Diese Schiffstrümmer geben ein sehr ernstes, melancholisches Bild. Woher kommen sie? Welche Hoffnungen sind zu Grabe gezogen, als diese Holzstücke in die wüthenden Fluthen sanken? Wie viele Hände haben vielleicht jenen großen Balken als letzten Versuch zur Rettung umklammert und sind dann matt, kraftlos abgeglitten! Das Holz an das Ufer, die Menschen in die See – tief, tief hinunter, – hinweggerissen von dem helfenden Brete und doch ist auf demselben noch zu lesen: „––tuna.“ Armer Seemann! Er hatte die Fortuna umklammert! Man sieht an vielen Häusern Sylts solche Schiffsnamen, welche die See an den Strand warf. Die meisten sind fast eine Ironie auf das Schicksal des Fahrzeuges, dem sie zur Zierde gereichten.

Fort ging es über die Dünen und in eine schauerliche Einöde. Von dieser Traurigkeit, dieser furchtbaren Schwermuth der Dünengegend bei List kann man sich kaum einen Begriff machen. Die schneeweißen Sandberge rollen ineinander, spärlicher Sandroggen kriecht auf ihnen umher, wie Leichentücher breiten sich die Ebenen aus, Alles erstorben, Alles verschüttet, der Sand ist Meister des Bodens geworden. Nun kommt eine Strecke brauner Haide, da wird es lebendig; wo nur ein Gedanke von Vegetation sich zeigt, da sind Wesen mit Fleisch und Blut. In diesen Haidethälern der Dünenberge kreischt und schwirrt es. Tausende von Möven fliegen empor und erfüllen die Lüfte mit ihrem klagenden Geschrei. Sie haben hier unten ihre Nester, ihre Jungen und der Ruf des Vogels klingt fast wie: „Tödte nicht! tödte nicht!“ Zwischen den kurzen Blättern der Wegekräuter oder Ginster liegen die großen, grünen Eier der schönen Vögel. Man kann sie leicht finden, denn nur ein kunstloses Nest umhüllt sie. Bückt man sich, so wird die Unruhe der Vögel oben in der Luft immer größer, sie fahren herab, sie wollen einen Versuch machen ihr Nest zu schützen, sie haben sich in diese unwirthlichen Steppen zurückgezogen, um sicher vor dem Menschen sein zu können. Da ist er wieder und stört die Ruhe auch hier. Sonnenbrand, Einöde von Mövengeschrei und ängstlich flatterndem Geflügel belebt, ungeheuere Berge zeigen, bei dem leisesten Windhauche angewirbelten Sandes, ein großartiges Bild der erstorbenen Natur, das ist hinter den Dünen von List zu sehen, und zu diesem wüsten Panorama stimmt trefflich das Geheul der See, die wenige Schritte davon brandet.

Auf solche beklommen machende Eindrücke that der Anblick des hübschen Segelbootes gar wohl, welches unterdessen vom Chamäleon herübergekommen war, um uns abzuholen. Es sollte der interessante Tag durch eine Segelpartie beschlossen werden. Leider – ich muß so sagen – war das Wetter so schön, daß wir fast kein Lüftchen in die Segel bekamen. Mit Riemen mußte das Fahrzeug gefördert werden. Endlich sprang eine kleine Brise auf. Diese Zeit der Ruhe hätten wir nun gar zu gern durch Gesang gefeiert. Der Commandeur befahl den Jungens vom Chamäleon in scherzhafter Weise zu singen. „Sie sollten nur hören, wie munter das an Bord zugeht. Da wird gejubelt und gesungen, hier können sie nicht die Zähne auseinanderkriegen,“ sagte er. Die Leute waren verlegen, sie drehten ihre Mützen in den Händen, zuletzt krochen sie alle in die Gegend des Bugsprietes und weil sie nun von dem Segel gedeckt waren, begannen sie einen vierstimmigen Gesang, der recht gut klang, aber ernst, feierlich, fast choralartig war. Liegt das in der Stimmung, welche das Element erzeugt? Werden diese einfachen Leute durch dies Schweben zwischen Leben und Tod so unwillkürlich ernst, wenn sie heiter sein wollen? Genug, die überwiegende Mehrzahl der Seemannslieder tönt in melancholischen Weisen über die Fluth dahin.

Wir steuerten auf den „Ellenbogen“, eine kleine Insel gegenüber der List, zu. Hier ist ein Leuchtthurm oder ein Leuchtfeuer. Das Boot stieß auf, aber wir waren wohl noch fünfzig Schritte vom Land entfernt. „Wie kommen wir heraus?“ riefen die Landratten. – „Das werden Sie gleich sehen, meine Herren,“ lautete die Antwort. Schon standen eben so viel Matrosen, als Passagiere im Boote waren, in der Fluth. Der Commandeur bestieg die Schultern eines seiner Untergebenen, unter lautem Gelächter folgten wir Alle seinem Beispiel. „Werden Sie mich auch nicht fallen lassen?“ fragte einer unserer Hauptleute, mit wehmüthigem Blicke auf seinen eleganten Reiseanzug, das zweibeinige Roß, dem er sich anvertraute. Der breitschultrige Seewolf hatte statt der Antwort nur ein verächtliches Grunzen.

Wir wurden Alle an das Land gesetzt. Das Leuchtfeuer brennt auf einem eisernen Thürmchen. Wir bestiegen dasselbe und genossen noch einen herrlichen Anblick, denn die Sonne sank schon in die Fluthen. Beim Zurückgehen kam die Rede auf Capitain Hammer. Man mag von der Bösartigkeit dieser berüchtigten Figur des letzten Krieges Mancherlei erzählen können aber der Wahrheit die Ehre. Die Tüchtigkeit Hammer’s in seinem Berufe steht über alles Lob erhaben da. Die Tonnen- und Baakenordnung, das Leuchtfeuerwesen, die Peilungen, die Ausbaggerungen auf dem unter seiner Obhut stehenden Terrain sind so musterhaft in ihrer Art geführt, daß nach dem Zeugniß unserer Seeofficiere sowohl, als nach dem der ihm feindlich gesinnten Sylter, jede Marine die dänische um einen so trefflichen Beamten und kenntnißreichen Officier beneiden kann. Noch einmal fuhren wir bei dem Chamäleon vorüber, wir grüßten seine Mannschaft und gingen eine Viertelstunde später an das Land. Mit herzlichstem Danke für den genußreichen Tag, der ein uns Allen interessantes Berufsleben erschauen ließ, schieden wir von dem liebenswürdigen Commandeur des kleinen Seeungeheuers.

Zu unsern Füßen rauschte es leise, es war die Fluth, welche heranrollte; die Sonnenkugel schwebte nur noch zur Hälfte über

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 603. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_603.jpg&oldid=- (Version vom 3.10.2022)